Zeichen und Sein
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Du wirfst eine Münze in den Musikautomaten und nach einer Weile ertönt das Musikstück, das du ausgewählt hast.
Dein Freund bittet dich, das Lied zu singen, das er so gerne hört und du so gut zu intonieren verstehst; du lächelst, besinnst dich eine Weile und fängst zu singen an.
Du schaust dir halb vergilbte Fotos aus Jugendtagen an; da sind die Kameraden, die Pfade, die Abtei, das Eifelmaar, das Lagerfeuer – und du erinnerst dich an das Lied, das ihr um das Feuer sitzend gern gesungen habt.
Hat das Foto von der Lagerfeueridylle eine Funktion im Mechanismus deiner Erinnerungen analog der Münze, die du in die Musikbox einwirfst oder analog der Aufforderung deines Freundes, ihm sein Lieblingslied vorzusingen?
Einer lacht während einer Trauerfeier, der Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris oder der Kindertotenlieder von Gustav Mahler. – Gefragt, was mit ihm los sei, antwortet der ungehobelte Kerl: „Ich lache, wenn es mir paßt! Und solche Anlässe haben auf mich nichts weniger als eine besinnliche und erbauliche Wirkung, sondern im Gegenteil die ästhetische Wirkung, mich auf unwiderstehliche Weise zu kitzeln!“
Wenn die Bedeutung von Zeichen, also auch jener rituell-gestischen der Trauerfeier, jener dramatisch-verbalen des Goetheschen Schauspiels und jener liedhaft-tonalen von Mahlers Liedern, identisch mit ihrer ästhetischen Wirkung wäre, was könnten wir dem schamlosen Lacher entgegenhalten oder mit welchen guten Gründen ihm sein ungebührliches Betragen zum Vorwurf machen?
Wer sich des Lachens nicht erwehren kann, wenn er ästhetisch gekitzelt wird, den können wir nicht rügen. Ist die Bedeutung ästhetischer Zeichen nichts anderes als ihre Wirkung, können wir den Lacher nicht tadeln und eines Mißverständnisses oder einer Mißdeutung der dargebotenen Zeichen zeihen.
Wirkungen lassen sich verstärken, wenn wir die sie verursachende Kraft vergrößern; doch mögen wir immer lauter schreien oder immer grellere Symbole malen, der Begriffstaube oder Begriffsblinde wird darum nicht besser verstehen, sondern überhaupt nicht.
Worte, die umso eindringlicher wirken, je leiser man sie spricht.
Die Bedeutung kann nicht identisch mit der akustischen, visuellen oder ästhetischen Wirkung der sie übermittelnden Zeichen sein.
Die Bedeutung ist keine Wirkung einer die Darbietung des Zeichens begleitenden akustischen oder visuellen Ursache.
Der Neurologe oder Psychiater, den wir im beschriebenen pathologischen Fall zu Rate ziehen, könnte sich folgendermaßen äußern: „Der Klient zeigt eine seltene Verknüpfung und Verschaltung von neuronalen Synapsen, die zur Folge haben, daß er bei Anlässen, die beim Durchschnitt der Rezipienten eine eher kontemplative oder traurige Stimmung hervorrufen, im Gegenteil zu ausgelassener Heiterkeit und Lachanfällen neigt. Diesen Sachverhalt können wir aufgrund experimenteller Untersuchungen in einer kausalen Erklärung seines Verhaltens wissenschaftlich darstellen.“
Wenn das Lesen und Verstehen von Zeichen, also die Interpretation von Bedeutung, nicht durch wissenschaftlich-kausale Erklärung auf ursächliche Vorgänge und Mechanismen reduziert werden können, müssen wir folgern, daß sie nicht als Verhaltensdispositionen aufgefaßt werden dürfen.
Wird der Schwellenwert seiner Belastbarkeit erreicht, zerbricht das Glas. – Wird Wasser auf 100 Grad Celsius erhitzt, beginnt es zu verdampfen.
Wird dem Amusischen zum x-ten Male die Sonate von Mozart vorgespielt, versteht er genausowenig wie beim ersten Mal.
Der musisch Begabte kann auf dem Klavier nach dem ersten Anhören über das Sonatenthema frei improvisieren.
Wird der Hund auf die Wahrnehmung des visuellen oder akustischen Signals als Zeichen für Futter konditioniert, läuft ihm schon der Speichel, wenn er nur das Blinken der Lampe oder das Klingeln der Glocke wahrnimmt.
Ein Signal teilt uns seine Botschaft, einen Hinweis, eine Warnung oder Aufforderung, mit, wenn wir danach handeln. Ja, man könnte sagen, ein Signal lesen heiße, dem Hinweis folgen, die Warnung nicht in den Wind schlagen, die Aufforderung beherzigen.
Das Emblem mit dem Umriß eines weiblichen Körpers an der Tür sagt Männern, daß sie hier nicht eintreten sollen.
Man könnte sagen, als Männer – zumindest Ehrenmänner – definieren sich diejenigen Personen, die sich diesem Hinweis gemäß verhalten.
Der Hinweis seiner Assistentin, daß sich im Wartezimmer keine Person mehr aufhält, mag den Arzt veranlassen, die Praxis zu schließen; der Blick auf die leere Leinwand mag dem Maler ein Anreiz sein, seine Farben zu mischen oder seinen Bleistift zu spitzen und anzusetzen.
Die Feststellung, daß es nicht regnet, kann die Aufforderung implizieren, jetzt einen Spaziergang zu unternehmen.
Die Negation einer korrekten Verknüpfung von Wortzeichen bedeutet keinen negativen Sachverhalt: „Niemand ist im Zimmer“ heißt nicht, wie im Wunderland von Alice, daß jemand namens Niemand dort weile.
Die Verbindung zwischen dem Klingelsignal und dem Speichelfluß des Hundes ist kausal konditioniert; dagegen ist die Verbindung zwischen dem Laut oder Schriftzeichen „Rose“ und der Rose konventionell und erlernt.
Das Warnsignal mit den herabstürzenden Felsbrocken teilt uns mit, daß es auf der Wegstrecke zu Ereignissen kommen kann, die für Passanten und Autofahrer gefährlich sind. Solche Ereignisse sind mögliche Tatsachen.
Das Wortzeichen „Rose“ teilt uns nichts Faktisches über die Blume, die es bezeichnet, mit.
Nur die satzwertige Verbindung von Wortzeichen wie „Rosen sind Blumen“ teilt uns etwas Faktisches mit.
Dagegen teilt uns die dichterische Wortverbindung „Blumen des Bösen“ nichts Faktisches über Blumen mit.
Der Unterschied zwischen dem faktischen und nichtfaktischen Sinn von Wortzeichen und ihren satzwertigen Verbindungen liegt nicht immer auf der Hand. Der Satz „Johannes schenkte seiner Frau einen Strauß Rosen“ kann der wahrheitsgemäße Eintrag in einem Tagebuch sein oder der fiktive Bericht in einem Roman.
Das Verhältnis von Zeichen und Sein, Bedeutung und Faktizität ist eine Funktion des Verwendungszusammenhangs der Zeichen.
Der mit einer Zeigegeste auf eine Nelke erfolgte Hinweis „Das ist keine Rose“ bezieht sich nicht auf eine nichtvorhandene Tatsache oder auf die Negation einer Tatsache, sondern auf die Unzulässigkeit, das konventionelle Zeichen „Rose“ zu verwenden. Er ist ein Hinweis auf den Verwendungszusammenhang des Zeichens „Rose“.
Der mit einer Zeigegeste auf eine Rose erfolgte Hinweis „Das ist eine Rose“ ist sowohl die Erklärung der Bedeutung des Zeichens „Rose“ als auch die Unterrichtung über seine korrekte Verwendung.
Der mit einer Zeigegeste auf eine Rose erfolgte Hinweis „Das ist eine Nelke“ enthüllt uns ein mangelndes Sprachverständnis oder eine gravierende Fehlsichtigkeit. Wir dürfen uns im ersten Fall herausnehmen, den Sprecher zu korrigieren.
Wäre die Verwechslung der Zeichen „Rose“ und „Nelke“ eine ankonditionierte Verhaltensdisposition, könnten wir den Sprecher nicht ohne weiteres tadeln und korrigieren, sondern müßten ihn der Prozedur einer Umkonditionierung unterziehen.
Zu Zeiten der alten Plattenspieler machten sich die Leute einen Jux daraus, die Geschwindigkeit der Grammophonplatte willkürlich zu verlangsamen oder zu beschleunigen, um sich an dem verzerrten Klangbild zu verlustieren.
Den Musiker oder Sänger, der das in der Partitur vorgeschriebene Tempo und den angegebenen musikalischen Ausdruck wie Andante oder Allegro verpatzt, pflegen wir einer Unaufmerksamkeit zu bezichtigen oder einer interpretatorischen Unfähigkeit zu verdächtigen.
Der Sänger, der nicht anders singen könnte als eine Grammophonplatte Töne erzeugen, gälte uns für keinen Sänger.
Einen Apparat, der die Notenschrift automatisch ablesen und in entsprechende Töne und Akkorde zu übersetzen vermöchte, würden wir nicht als korrekten Interpreten des Musikstückes bezeichnen. Würde er die Partitur nicht korrekt ablesen, sagten wir von ihm nicht, daß er einen Fehler begangen habe, sondern daß sein Mechanismus nicht mehr richtig funktioniere.
Der Papagei kann sich nicht versprechen. – Er kann auch das soeben Geplapperte nicht widerrufen.
Der Papagei kann sich nicht sagen: „Er liegt mir im Schnabel, der Laut, den ich von mir geben will.“
Der Papagei und der digitale Roboter können weder aus Versehen die Unwahrheit sagen noch absichtsvoll lügen.
Unsere Fähigkeit, Zeichen mißbräuchlich oder inkorrekt zu verwenden, ist eine Mitgift unserer sprachlichen Kompetenz.
Wer dank eines untrüglichen psychologischen Mechanismus unfähig wäre, die Bedeutung eines Zeichens zu verkennen, hätte es nie verstanden.
Aus diesen Erwägungen folgern wir, daß unsere Fähigkeit, Zeichen wahrzunehmen, zu lesen und zu interpretieren, nicht auf einem Mechanismus beruhen kann, sei er uns psychologisch ankonditioniert oder genetisch-neuronal in unserem Gehirn verdrahtet.
Die Wahrnehmung des Zeichens „Rose“ ist epistemisch völlig verschieden von der Wahrnehmung des Gegenstandes, den es bezeichnet.
Das Sein der Zeichen ist ontologisch völlig verschieden vom Sein der Dinge oder Sachverhalte, die sie bezeichnen.
Anzunehmen, ästhetische Zeichen, ob nun dichterischer, malerischer oder musikalischer Natur, übten eine Wirkung ähnlich der von Signalen aus, ist semantischer Unfug.
Die Rose des Gedichtes duftet nicht.
Wo befindet sich die Himmelsrose? In der Göttlichen Komödie Dantes; der Astronom weiß nichts von ihr und der Botaniker lächelt, wenn ihn das Kind fragt, wieso sie in seinem Pflanzenbuch nicht vorkommt.
Freilich, die Bedeutung des Zeichens Himmelsrose befindet sich nicht in Dantes Gedicht, wie das Erinnerungszeichen der vertrockneten Rosenblüten zwischen den Buchseiten liegt.
Die Deixis im Gedicht ist imaginär.
Wenn Baudelaire in dem Gedicht Invitation au Voyage mit den Versen anhebt:
Mon enfant, ma sœur,
Songe à la douceur
D’aller là-bas vivre ensemble !
Kind du, Schwester mein,
laß die süßen Träume ein,
wie dorthin wir gehen, um vereint zu leben!
weist er mit dem deiktischen Ausdruck là-bas nicht auf einen realen Ort, an den mit ihm zu reisen er die Geliebte auffordert, sondern auf einen imaginären oder mythischen Ort, ein utopisches Gefilde, das wir auf keiner Landkarte ausmachen können.
Die Zeit der Ankunft der Götter, die Hölderlins späte Hymnen beschwören, ist kein Datum im realen Kalender, und die Tages- und Jahreszeiten, die er in seinen Elegien oder in seinen Turmgedichten evoziert, sind mythische Zeiten im Leben der Seele, der Seele, die keinen realen Sitz in der Person des Dichters hat, sondern einzig einen imaginären im gedichteten Ich.
Comments are closed.