Zeichen und Bewußtsein I
Anmerkungen zum immanenten Zusammenhang von Sprache, Logik und Bewußtsein
Entweder sehen wir das Pfeilzeichen auf der Wanderkarte oder im Korridor der Gaststätte als Linie mit einer aufgesetzten Spitze oder lesen es als Hinweis darauf, daß wir uns an dieser topographischen Position befinden oder sich unser weiterer Weg in diese oder jene Richtung fortsetzen sollte.
So auch mit den Lauten. Bestimmte wohlartikulierte Laute, die einen systematischen Zusammenhang mit allen anderen Lauten desselben Typus aufweisen, hören wir als beispielsweise des Japanischen nicht Kundige als Geräusche, den Hinweis „Hier bitte rechts!“ verstehen wir als Hinweis, daß sich der Ausgang rechts vor uns befinde.
Den Übergang oder Sprung vom geometrischen Gebilde zum Pfeilzeichen oder vom Geräusch zum bedeutsamen Laut bildet die Einsicht ab, daß wir etwas als Zeichen erkennen.
Wir könnten meinen, die Tatsache, daß das geometrische Gebilde eine gewisse Ähnlichkeit mit dem durch das Pfeilzeichen gemeinten Sachverhalt hat, helfe uns auf die Sprünge. Wie dem auch sei. Aber das Geräusch, das identisch ist mit dem wohlartikulierten Laut, hat keine Ähnlichkeit mit dem gemeinten Sachverhalt.
Daraus schließen wir einen semantischen Grundzug, nämlich, daß der Grundsatz „similia similibus“ nicht für die Bedeutungserschließung gilt. Oder: Bedeutungen können uns nicht in homöopathischen Dosen verabreicht werden.
Wir drücken uns andeutend aus, doch kommen wir nicht umhin, es so zu sagen, indem wir sagen:
Das Bild steht uns plötzlich als Ganzes vor Augen, die Sprache ist uns mit einem Male als Ganzes erschlossen.
Wenn das Bild, dann auch der Sehende, wenn die Sprache, dann auch der Sprechende. Auch hier kommen wir nicht umhin, uns andeutend auszudrücken, indem wir sagen:
Wir sind uns plötzlich oder unsere Existenz ist uns mit einem Male zur Gänze erschlossen.
Die Erfahrung, man selbst zu sein, kann nicht in homöopathischen Dosen verabreicht werden. Sie ist demnach auch nicht die Resultante oder Steigerung einer zunehmenden Komplexion, als wären wir uns zunächst dämmernd unserer selbst inne, dann wüchse das Selbstgefühl, wenn wir öfter als ein Gegenüber angesprochen werden und das Gegenüber als uns ähnliche Ichinstanz ansprechen.
Wir verstehen das Gebilde nicht als Pfeilzeichen, wenn es größer wird und zu einer grelleren Farbe wechselt oder uns einer einhämmert: „Das ist ein Richtungshinweis!“, wenn wir nicht wissen, was ein Zeichen oder ein Hinweis ist.
Jedes Zeichen ist eine Abbreviatur oder ein Kryptogramm dessen, der es erblickt, dessen, der es ausspricht, dessen, der es versteht.
Wir halten fest: Das Ego Cogito oder Selbstbewußtsein ist gleichursprünglich mit dem Zeichen. Denn weder gibt es ein zeichenloses Ich noch ein ich- oder bewußtloses Zeichen.
Wenn wir das geometrische Gebilde als Pfeilzeichen verstehen, wissen wir unmittelbar (nicht durch deduktive Zwischenstufen vermittelt), daß es ein Stellvertreter unserer Subjektposition ist oder daß wir in seine Richtung gehen sollen, nicht in die entgegengesetzte. Wir wissen, wenn wir ein Zeichen lesen, daß wir es so lesen sollen, wie es gemeint ist, und nicht anders. Und wenn es ein zweideutiges Zeichen ist, können wir es eben in mehrfachem Sinne lesen und gebrauchen.
Mit der Tatsache, daß es so gemeint ist und nicht anders, drücken wir den Grundzug des Logischen aus. Der Grundzug des Logischen besteht in der Einsicht, daß die Negation des Gemeinten falsch und die Negation des Falschen richtig ist.
Wir halten fest:
1. Semantik und Bewußtsein stehen in einem immanenten Zusammenhang.
2. Semantik und Logik stehen in einem immanenten Zusammenhang.
3. Folglich stehen sowohl Semantik als auch Logik mit dem Bewußtsein in einem immanenten Zusammenhang.
Wenn wir wissen oder voraussetzen, daß etwas so gemeint ist, wissen wir unmittelbar (und nicht durch deduktive Zwischenstufen vermittelt), wie es nicht gemeint ist. Das Meinen geht auf den Pfaden des Logischen. Das Logische ist die Form oder Struktur des Meinens.
Aber Meinen oder Zeichen gebrauchen oder verstehen ist ein Tun und Handeln. Das zeigt sich darin, daß wir dasselbe Zeichen benutzen, wenn wir dasselbe meinen. Es zeigt sich auch darin, daß wir mit derselben Handlung auf dasselbe Zeichen antworten: Ich gehe nach rechts und nicht in die vom Pfeilzeichen abgewandte Richtung.
Die Person, die das Pfeilzeichen richtig versteht, ist dieselbe Person, die nach rechts geht.
Doch kann ich dem Pfeil auch nicht folgen, wenn ich es mir anders überlegt habe. Das Befolgen des Zeichens ist in diesem Falle weder ein konditioniertes noch ein regelgeleitetes Verhalten.
Dagegen ist das Lesen des Zeichens richtig oder falsch. Doch auch wenn es falsch war, war es ein Lesen. Und es ist Lesen, nicht weil wir einer semantischen oder konventionellen Regel folgen, wie der, nach rechts zu gehen, wenn der Pfeil in diese Richtung weist. Lesen ist es, weil der Lesende in seiner Subjektposition gemeint ist und sich als solcher versteht.
Hier könnte man einwenden: Wir lernen doch lesen und den korrekten Umgang mit den Zeichen, wir lernen eine Muttersprache und darüber hinaus andere Sprachen sowie künstliche Systeme von Signalen und Symbolen, wie konventionell gebrauchte Farbsymbole, gebrauchen.
Wir meinen aber dies: Wer auf der Wanderkarte am Waldrand das Pfeilzeichen als Hinweis auf SEINEN Standort zu lesen versteht, hat sich richtigerweise als Nullpunkt der Orientierung identifiziert, auf den hin er alle anderen Zeichen und Verweise ordnend bezieht.
Wir können demnach keine Zeichen setzen oder verstehen, wenn wir sie nicht auf den Nullpunkt unseres Koordinatensystems beziehen, uns selbst.
Gewiß lernen wir „ich“ zu sagen oder ein anderes konventionelles Zeichen mit derselben Bedeutung zu verwenden. Doch wir können nicht lernen, wir selbst zu sein, wir sind es oder sind es nicht. Das Ich ist kein mehr oder weniger komplexes Quantum, sondern ein ontologisch einfaches oder atomares Totum.
„Ich“ zu sagen ist lernbar, Ich zu sein nicht.
Ein Ich zu sein ist die Voraussetzung dafür, Zeichen richtig oder falsch zu verwenden, richtig oder falsch zu verstehen.
Gewiß lernen wir die Zeichen von anderen, allen voran die sprachlichen Zeichen von den Eltern. Aber die ontologische Voraussetzung dafür, von anderen die Zeichen zu lernen, ist es, sie auf uns als den Nullpunkt der subjektiven Existenz zu beziehen.
Wir lernen von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft „ich“ zu sagen, aber wir lernen nicht von ihnen, ein Ich zu sein.
Das zeigt sich an der Negation: Wenn wir wissen, daß eine bestimmte Handlung uns rechtens und korrekt zugeschrieben wird, wissen wir implizit und nicht aufgrund von Erfahrung, daß dieselbe Handlung nicht zugleich und mit derselben Bedeutung einem anderen zugeschrieben werden kann.
Wir haben „Ja“ gesagt und unter bestimmten Kontextbedingungen dieser Aussage gilt sie für ein Versprechen, die Besiegelung eines Vertrages oder eines Bündnisses. Wir wissen damit implizit, daß kein anderer unsere Subjektposition einnehmen oder uns bei den wesentlichen Handlungsfolgen dieser Sprechhandlung vertreten kann. Wir waren und sind stets frei, nein zu sagen (oder den Mund zu halten). Aber wir sind nicht frei darin, wir selbst zu sein, sondern müssen für die Folgen unserer freiwillig eingegangenen Verpflichtungen geradestehen.
Die Position des Subjekts oder der ontologische Nullpunkt der Existenz ist der Grund unserer Freiheit, so sehr sie auf das Feld der beabsichtigten Folgen unserer Zusagen und Verpflichtungen auch immer eingeschränkt sein mag.
Wir können nicht jemandem etwas versprechen und gleichzeitig demselben etwas in derselben Hinsicht verweigern (geschweige denn so tun, als sei nichts geschehen). Das Logische zeigt sich hier in seinem Grundzug als Bedingung der Konsistenz von Handlungen, und wir gehen nicht zu weit, wenn wir festhalten, es sei die in unserer Subjektposition eingeschlossene netzförmige Struktur all unserer Optionen zu reden und zu handeln.
Die Identität der Bedeutung und die Negation sind die formalen Vektoren, die unsere Optionen im logischen Netzwerk der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, zu reden und zu handeln, ausrichten.
Das logische Netzwerk ist der Rahmen und die Grenze unserer Freiheit. Wären wir rechengeleitete Automaten, die automatisch unter den spezifischen Kontextbedingungen ja sagen, wenn diese den Sprechakt des Versprechens definieren, weshalb sollten wir dafür haftbar gemacht werden, wenn unsere Automatismen versagen oder unsere implementierten Programme auf eine für uns unvorhersehbare Weise so funktionieren, daß wir das Zugesagte nicht durch bestimmte Folgehandlungen einlösen?
Weil logische Konsistenz unseren Handlungs- und Redespielraum durchschneidet und vermißt, unterscheiden wir uns von den Tieren in genau der Hinsicht, daß das Logische sich nicht als Funktion unkonditionierten oder konditionierten Verhaltens ableiten läßt. Die psychische Disposition, unangenehme Wahrnehmungen und Erfahrungen zu vermeiden, wird mittels auf Vermeidung ausgerichteter Verhaltensanpassungen unser Handeln im Falle der Zusage zu einem Versprechen nicht von ihrer logischen Konsistenz ablenken, die uns auch unangenehme Erlebnisse mutig oder geduldig auf uns zu nehmen verpflichtet, um schließlich unser Versprechen dennoch einzulösen.
Wenn wir das Gehirn als komplexe Maschine oder rechengeleiteten Automaten zur Erzeugung an die Lebensbedingungen angepaßter Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung auffassen, ergibt sich aus dieser Sachlage unmittelbar die Konsequenz, daß wir als subjektive Existenz nicht mit unserem Gehirn identisch sind. Gehirne sind keine logischen Maschinen, wie man meinen könnte, noch sind sie in der Lage, Zeichen zu generieren und zu interpretieren, wie man ebenfalls leichtgläubig anzunehmen geneigt ist. Wenn uns ein interner Nervenreiz veranlaßt, das geliehene Geld, das wir zur Erfüllung unseres Versprechens morgen unserem Freund zurückerstatten wollen, für einen schnellen, aber teuren Genuß auszugeben, können wir diesen Impuls verdrängen, nicht weil ein widerstreitender Nervenreiz wie die Vermeidung von Unlust in Form der zu erwartenden Sanktion obwaltet, sondern aus logischen Gründen, denen wir freiwillig folgen, um unser Handeln in einen sinnvollen Rahmen einzubetten.
Nur weil wir in der Lage sind, das Pfeilzeichen auf der Wanderkarte als Stellvertreter unserer Subjektposition zu identifizieren und zu lesen, verschaffen wir uns die Übersicht und Orientierung, um unseren Weg fortzusetzen und aus dem Wald schließlich wieder nach Hause zu finden.
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