Zauber der Frühe
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wohl sind sie menschengestaltig, die uns entrückten antiken Götter, doch wilden überpersönlichen Mächten nicht fern, es schwirren die tödlichen Pfeile Apolls, die giftigen des Eros, Eichen spaltet der Blitz des Zeus und im Aufruhr pflügt die Wogen der Dreizack Poseidons, Artemis verwandelt mit nichts als bösen Blicken den frechen Jäger in eine Hirschkuh, die seine eigenen Hunde zerreißen.
Alles andere als harmlos und friedfertig aber ist der Gott der Juden, zumal seine Allmacht an keinen Grenzstein und keine Hecke um den Hain einer anderen Gottheit stößt. Seine Gesetze schneiden ins Fleisch und sein Blutdurst macht nur vor der gänzlichen Unterwerfung eines Abrahams halt, der willens ist, ihm seinen Sohn hinzuschlachten.
Nur einem Gott, der töten kann, vernichten, indem er sein leuchtendes Angesicht abwendet, aber sich seiner Frommen erbarmt, konnten die Psalmen als edelste Kränze dichterischen Ausdrucks der Hebräer auf den Altar gelegt werden.
Nur wo das Gespür für die Gefahr, die Wildheit und das Abenteuer des Lebens nicht gänzlich vom Schluchzen des Schlagers und dem monotonen Sirren der Maschinen übertäubt ist, bleibt das Herz der Dichtung heiß.
Der frühe Dichter ist dem kühnen Seemann verwandt, der sich auf ächzenden Planken in die Gischt des Unbekannten wagt; der die große Schwermut aus der Windstille und dem unheimlichen Kräuseln der Tiefsee in sich aufnimmt; der die schwindelnde Höhe des zuletzt noch Sagbaren am trägen, traumstarren Flug des Albatros im blauen Abgrund ermißt; der die Einsamkeit des an fremde, menschenleere Küsten Verschlagenen als Erwählung und Prüfung begreift, dort die funkelnden Steine und leuchtenden Früchte einzusammeln und in die Sprache der Heimat mitzunehmen, wo sie der dumpfe Rezensent als überflüssigen Zierrat von sich abstreift, der enttäuschte Liebhaber aber als köstliches Kleinod empfängt, mit dem er sich nicht die Geliebte, aber die Empfindung der Liebe zurückerobert.
Die großen Dichter waren in ihrem früheren Leben Seefahrer, Abenteurer, Weltenbummler, Jäger und Krieger.
Veilchenzarte Mädchenhaut schrickt vor den blitzenden Dolchen männlicher Verse zurück, aber auch ihren mystischen Blüten, da sie unter Stacheln hervorleuchten.
Der Kampf in Spiel und Ernst, in der Zwiesprache der Liebe und im Zwiegespräch der einsamen Seele weiht uns in die geheimen Mechanismen der Kommunikation ein.
Die gestisch und sprachlich geregelte Kommunikation hat nicht, wie oberflächliche Wahrnehmung annimmt, zwei, sondern vier Pole: jeweils, kybernetisch gesprochen, einen Sender und einen Empfänger auf beiden Seiten, den wechselnd-reflexiven Seiten des Sprechenden und Hörenden, des Gebenden und Nehmenden, des Urteilenden und des Beurteilten (oder gar Verurteilten). Was ich als Äußerung aussende, empfange ich gleichzeitig als Resonanz des Gehörten, leibhaft Empfundenen, als Gebärde Verkörperten. Empfange ich das Stichwort eines treffend-enthüllenden Vergleichs oder den Schlag des entwaffnenden Arguments, sende ich gleichzeitig dem ins Bild gesetzten Kombattanten, dem Gesprächs- und Liebespartner die erheiternde oder beschämende Ansicht meiner Verwirrung oder Vernichtung.
Die Kunst ist kein Zierrat am Gewöhnlichen, die Dichtung kein Lidstrich am trüben Auge des Alltags.
Der vollkommen geformte Krug und die körnige, farbige Wendung sind mehr als Präliminarien der Kunst und der Dichtung.
Gewiß, der frühe Rhapsode Homers gehört dem immer auch zwielichtigen Volk der Fahrenden an; doch reist er von Hof zu Hof, die Elite erfreut sich seiner Muse, eben noch applaudierten ihm die feinen Herren und edlen Frauen im Palast des Menelaos, schon schifft er sich nach Kreta ein oder eine der ionischen Inseln, um seine Gesänge, leuchtend wie das offene Meer und verschlungen wie das Totentuch Penelopes, das sie für Laertes zu weben vorgab, einem Publikum zu Gehör zu bringen, das dank schöner Bildung feinnervig und musikalisch genug ist, um in den glänzenden Wogen ihrer Vergleiche zu baden, unter dem ewig schimmernden Sternengang ihrer Reprisen und Resonanzen heiterer Ruhe zu genießen.
Die frühen Zeugnisse der Handwerkskunst wie Vase und Becher, Schwert und Helm, Brosche und Fibel sind kraft der künstlerischen Eigendynamik meisterlichen Töpferns, Schmiedens und Bildens bewundernswerte Artefakte. Die Verse Homers, die in ihrer Tiefe dieser bronzezeitlichen Schicht zugehören, sind wie kostbare Spangen, zierliche Armreife und mit allegorischen Emblemen und Sagenmotiven bemalte Amphoren und Schilde der Sprache.
Der Zauber der Frühe gleicht dem Erwachen von Veilchen, an denen noch der Tropfenglanz der Träume schwebt.
Den plumpen Kerl oder den Demos reizen nur fett glänzende, schwellend-schwülstige Formen der Plastik, schreiende Farben des Plakats oder schluchzende Kantilenen am Lied.
Gepanschte Verse, überzuckerte Reime, Moschusgeruch öliger Metaphern.
Oder noch ärger, die dünne Buchstabensuppe des veganen Geschmacks, die ausgezehrten Wangen dürftigen Sagens, die Anthologie unartikulierten Magenknurrens und zahnloser Bettelsprüche, der vom beißenden Tabaksrauch mitternächtiger Diskussionen verhüllte sapphische Mond.
Die gefeierteste Errungenschaft ungezügelter lyrischer Schinderei ist der strenggläubig auferlegte Verzicht auf Metrum und Reim, Strophe und Vers, das monoton klatschende Walken eines ungesäuerten Wörterteigs.
Fetter Lyrik-Schmand, aus der Form gequollene Baisers, deren mißlichen Nachgeschmack und schlechte Verdaubarkeit nur der Magenbitter Horazischer Satiren vertreibt.
Pfeifend ausgewalzter keimfreier Erinnerungs- und Assoziationsteer, grauer Asphalt des als authentisch gepriesenen Gedichts, auf dem nicht einmal die Spatzen kleiner Scherze eine einsame Pfütze finden, um daran neckisch zu nippen.
Poésie pure, der fernhin glänzende Schnee auf den einsamen Graten eines Horaz oder Mallarmé, in den der vom Ernst seines dumpfen Daseins gequälte und vom Harndrang seiner sinisteren Moral heimgesuchte deutsche Schulmeister sein Schuldbekenntnis pinkelt.
Zauber der Frühe, da ein fühlender Mund der aus schlichtem Rohr geschnitzten Flöte für die noch schlummernde Geliebte die taufrischen Töne entlockte, die über das dämmernde Laub ihrer Träume rannen.
Den Zeugungsunfähigen soll man nicht nach den geheimnisvollen Keimen des Lebens befragen.
Beim ideologisch Kastrierten sucht man vergebens nach den Pollen lyrischer Fruchtknoten, nach den Waben wohlgefügter Verse.
Ist Hermeneutik Hebammenkunst, so muß sie sich eingestehen, das Kind weder gezeugt noch ausgetragen zu haben.
Der Zauber Homers leuchtete dem sublimen Geschmack einer aristokratischen Elite; die Massenproduktion von Vasen und Versen des Hellenismus und des republikanischen Rom ist ein Spiegel für den zeitgenössischen Ausstoß von Wegwerfartikeln und lyrischen Knallbonbons.
Die Intelligenz der Technik, mit der unermüdliche Wortschinder ihre Dummheiten in Bruchteilen von Sekunden über den Globus zu streuen vermögen, kann diese weder wettmachen noch entschuldigen.
Dem wachen Sinn und dem müden Herzen genügt der kleine Wink, fast verschwindend im Decrescendo ind Misterioso der Violinen, vor der großen Geste und dem massierten Aufwand im Triumph der Posaunen, Hörner und Trompeten scheuen sie zurück.
Die stereotypen Bilder und stehenden Wendungen Homers wirken weder aufdringlich noch ermüdend, sondern einnehmend und beruhigend wie die sich wiederholenden geometrischen und floralen Muster archaischer Amphoren.
Heiterkeit ist das Licht unter der Sonne Homers, in das sich die flüchtigen Schatten der Schwermut mischen.
Heiterkeit: Nicht mit Haut und Haar dem Ort und der Zeit verfallen zu sein, an die uns das Schicksal bannte; mit dem eigenen Schatten wie die Zeiger der Sonnenuhr langsam und stetig wandern.
Verfall und Untergang, die unausbleiblich weil aus dem Innern steigend uns übermachen, nichts anderes entgegenhalten als das milde Lächeln dessen, der an der Schwelle steht und auf die Seinen und das Seine zurückblickt.
Die plastische Gestalt des Daseins wird allmählich zwischen den Mühlsteinen des Schicksals zermahlen und zerrieben; ein feiner Staub bleibt zuletzt zurück, der im Zugwind aus der plötzlich geöffneten Tür, die ein fremder Gast betritt, in den schrägen Strahl der Abendsonne aufsteigt und verweht.
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