Wittgensteins Sinnbilder XXV – der Maßstab
Den Werkzeugkasten mit seinen unterschiedlichen Instrumenten erschloß uns Wittgenstein als ein Sinnbild der Sprache mit ihren unterschiedlichen Funktionen und Sprachspielen. Neben den üblichen Werkzeugen war da noch eins, das Wittgenstein gewiß nicht ohne Hintersinn erwähnt: der Maßstab.
Zunächst denken wir an das Metermaß, das wir beispielsweise an das Brett anlegen: Wir markieren mithilfe des Metermaßes auf dem Brett mit einem Bleistift möglichst genau die Stelle, an der wir es passgerecht zersägen. Wenn wir uns vertun, steht das Brett über und wir müssen es nachträglich abschleifen, um eine brauchbare Kiste zu zimmern, oder es ist zu kurz und wir müssen es für unseren Zweck verwerfen.
Wenn wir in einem Aufsatz eines der Schüler, die einen Ferienausflug beschreiben sollten, lesen: „Die Rosen leuchteten rot, denn der See war so blau“, unterkringeln wie die Konjunktion „denn“ und schreiben an den Rand „Ausdruck!“ Wir markieren demnach einen Fehler, indem wir zwei Maßstäbe an den Satz anlegen: Grammatik und Logik. Denn klarerweise ist die Tatsache, daß die Rosen rot leuchten, keine Folge des Umstands, daß der See so blau scheint, sondern der Schüler hat etwas gemeint, was er grammatisch und logisch nicht sinnfällig machen konnte (oder ihm nicht als Sinn des Zusammenhangs aufging), nämlich, daß die roten Rosen auf dem Hintergrund des blauen Sees umso heller leuchteten.
Wir verfügen über so viele und so viele verschiedenartige Maßstäbe und Meßverfahren, wie viele und wie viele verschiedenartige Dinge wir messen, gewichten und bewerten wollen. Für Flächen- und Raumdinge haben wir Metermaß, Zollstock, Höhenmesser und geodätische Linien, für Zeitdinge haben wir Uhren, von der Sonnenuhr bis zur Atomuhr, für Luft und Wasser und alle möglichen Flüssigkeiten Thermometer, Hydrometer und Methoden chemischer Analyse.
Wir sagen: „Die Kiste, die wir zusammengezimmert haben, ist 1 m hoch, 1,5 m tief und 2 m breit.“ Doch wenn wir sagen: „Die Kiste ist blau“, denn wir haben sie blau angestrichen, sagen wir etwas, was mit dem ersten Satz nur auf der grammatischen Oberfläche übereinstimmt; wir hätten die Kiste auch grün streichen können, aber das Raumding Kiste kann nicht nur Höhe und Breite haben, dann wäre es kein Raumding, sondern ein Flächending.
Von der Kiste zu sagen, sie habe Höhe, Tiefe und Breite, ist nicht wie die Zuschreibung ihrer Farbe eine empirische Aussage, sondern der Ausdruck einer grammatischen Regel bei der Verwendung von Begriffen für räumliche Dinge wie Kisten.
Maßstäbe oder Kriterien für den korrekten Gebrauch von Begriffen und sprachlichen Ausdrücken können wir in grammatisch-semantischen Vorschriften und Regeln erläutern. So erläutern wir den korrekten Gebrauch der deiktischen Pronomen „ich“ und „du“ unter anderem mit Hilfe der Vorschrift, unter „ich“ den Sprecher einer Äußerung zu verstehen und unter „du“ denjenigen, vom dem die Äußerung handelt, wenn ich dir beispielsweise verspreche, das Buch wie verabredet zurückzugeben. Wir vermeiden mit einer solchen Regel den Schein oder die grammatische Täuschung, als bezögen sich „ich“ und „du“ auf ein dem Raumding analoges mentales Ding.
„Ich bin müde.“ – „Ich habe heute zu lange gearbeitet.“ Beide Äußerungen scheinen einen ähnlichen Sinn auszudrücken, doch grammatisch-semantisch sind sie nicht verwandt. Denn die Regel, nach der wir uns Eigenschaftswörter zum Ausdruck des emotionalen Befindens oder Erlebnisbegriffe wie „traurig“, „fröhlich“, „gelangweilt“ oder „müde“ zuschreiben, ist eine andere als die Regel, mit der wir mittels deskriptiver Ausdrücke von uns sprechen wie in der Äußerung „Ich habe zu lange gearbeitet“. Das zeigt sich in dem Umstand, daß wir uns darin irren könnten, deshalb müde zu sein, weil wir zu lange gearbeitet haben, aber nicht darin, daß wir uns müde fühlen.
Ein verbreiteter und bedeutsamer Maßstab, den wir zur Beurteilung und zumeist ästhetischen Bewertung heranziehen, ist das Muster; wir haben Stoffmuster von Tapeten oder Kleidern, Muster für die Dekoration von Wänden und Böden mit Fliesen, von Decken mit Stuckformen, florale und figurale Muster für Porzellangeschirr und Verpackungen. Ein Merkmal des Musters besteht darin, daß es als Exemplar und Paradigma dasselbe darstellt wie das, was aus ihm angefertigt werden soll.
Der Lehrer schreibt an die Tafel: 1 + 2 +3 + 4 + 5 + 6 usw. bis 100. Er gibt den Schülern damit das Muster eines Rechenverfahrens an die Hand, gemäß dem sie in gleicher Weise bis zur angegebenen Grenze fortfahren sollen.
Der Lehrer händigt den Schülern eine Folie aus, auf der steht: Gerichtsverfahren. Richter (R), Staatsanwalt (S), Angeklagter (A), Verteidiger (V), Zeuge (Z). „A behauptete, daß …“ „Z bezeugte, daß …“ „S bestritt, daß …“ „V beteuerte, daß …“ „R ermahnte Z, daß …“ Dieses sprachliche oder dramaturgische Muster sollen die Schüler benutzen, um ein kleines Gerichtsdrama unter Verwendung der indirekten Rede zu schreiben.
Der Dozent fordert die Studenten auf, anhand der Aussage „Wenn Peter Marias Vater ist, ist Maria Peters Tochter“ die logische Relation, die in diesem Satz angewandt wird, herauszufiltern und ihre logischen Eigenschaften anzugeben. Hier besteht die Aufgabe darin, aus dem gegebenen Beispiel das logische Muster zu finden, das in ihm enthalten ist.
Dieses hermeneutische Verfahren zur Musterfindung können wir auf alle Hervorbringungen des menschlichen Ingeniums anwenden; so finden wir bei der genauen Betrachtung der Reden Ciceros das Muster rhetorischer Stilfiguren, der Gedichte der Sappho und des Horaz das Muster poetischer Verfahren wie Bild, Metapher, Allegorie oder Allusion, der Dramen des Sophokles das Muster der von Aristoteles in seiner Poetik beschriebenen Elemente wie Mythos, Charaktere, zeitliche Einteilung und Inszenierung von Spannungsbögen wie Anagnorisis und Peripetie. Die Muster der rhetorischen Stilmittel begegnen auch in den Monologen des Ödipus, ja rhetorische Figuren finden wir sogar in der Musik des Barock.
Mit dem Metermaß können wir nicht die Zeit, mit der Uhr nicht den Raum messen; doch können wir die Dauer messen, in der ein Raumding wie unsere Kiste zeitlichen Veränderungen unterliegt.
Der Werkzeugkasten ist selbst kein Werkzeug. Die Sprache ist ein Sammelbegriff für alle möglichen Funktionen sprachlichen Ausdrucks, aber nicht selbst ein Werkzeug für einen einzigen Zweck. Die Logik ist ein Sammelbegriff für alle möglichen Verfahren zur Darstellung von begrifflichen Relationen und Beziehungen der Folgerung und Implikation von Mustersätzen. Ein erhabenes, ideales Muster, ein Meta-Muster, das in allen Mustern wiederkehrt oder von dem alle Muster abgelesen und abgeleitet werden könnten, gibt es nicht.
DAS Muster gibt es nicht. DIE Sprache gibt es nicht. DIE Logik gibt es nicht.
Doch wir können von Fall zu Fall feststellen, was kein Muster darstellt, wenn wir beispielsweise verleitet werden, im Glockenschlag einen Dreiertakt zu vernehmen oder wie Freud vom wiederkehrenden Verhaltensmuster von Wunsch und Wunscherfüllung auf ein einheitliches Muster des Traums zu schließen. Wir können herausfinden, was wider allen Anschein ohne sprachlichen Sinn daherkommt, wenn wir Chiffren ähnelnde Zeichen auf der Steinzeithöhle als bloße Dekoration oder die Glossolalie des Schizophrenen als sinnlose Lautäußerung durchschauen. Wir können den Fehlschluß von „nicht alle“ auf „kein“ aufgrund unseres Musters der Verwendung der logischen Quantoren „alle“, „nicht alle“ und „kein“ erkennen.
Unter den Verfahren und Techniken zur Messung finden wir nicht nur das Thermometer, sondern auch das Thermostat, durch das die Temperatur in einem Raum oder Behälter um einen eingestellten Grenzwert herum reguliert wird. Bei der Regulierung der Temperatur in explosionsgefährdeten Flüssigkeiten hat dies eine besondere Relevanz.
In unserem sprachlichen Umgang sind wir gehalten, ständig Thermostate zur Sinnregulierung zu verwenden, neu einzustellen oder je nach dem Zweck und dem Kontext der Äußerung mehr oder weniger fein abzustufen. Diese Thermostate sind die konventionellen Regeln bei der Verwendung sprachlicher Ausdrücke.
Gefährliche Grenzüberschreitungen des Sinns finden wir fatalerweise in den Hauptsätzen der traditionellen Metaphysik. Die Grenze, die hier fahrlässig verletzt, verwischt oder überschritten wird, ist jene zwischen der empirischen und der grammatischen Lesart von Sätzen.
Nehmen wir einen Satz wie „Die Seele ist unsterblich“ und fassen ihn so auf, wie er sich gibt, als empirische Aussage über eine faktische Wahrheit. Auch wenn einer an diese Wahrheit glaubt, sehen wir doch, wie er nach dem Verlust eines nahen Angehörigen erschüttert ist, wehklagt und trauert, ohne daß ihm seine Glaubensgewißheit im mindesten das Ausmaß seiner Trauer und seines Schmerzes mindern würde. Was sollen wir von Annahmen, die zu glauben oder nicht zu glauben keinen Unterschied in unserem Verhalten bewirkt, sagen, als daß sie irrelevant sind und demnach ohne Sinn?
Doch in Wahrheit hat der metaphysische Satz keinen empirischen, sondern einen unter der Oberfläche versteckten grammatischen Sinn, der unsere Verwendung des Begriffs der menschlichen Seele normieren und einer sprachlichen Vorschrift oder grammatischen Regel unterstellen soll. Diese Regel beruht allerdings auf dem Mißbrauch der sprachlichen Logik, insofern sie das mit Seele Gemeinte einem idealen Gegenstand angleicht, der anders als alle anderen Gegenstände angeblich keinen modifizierenden und letztlich zerstörerischen Einflüssen ausgesetzt sei.
Genausogut könnten wir von einem idealen Kreis reden (und es war davon genug die Rede), der in keinem gezeichneten Kreis in den Lehrbüchern der Geometrie in vollkommener Weise realisiert wird (die Kreislinie ist nie scharf abgegrenzt).
Doch es gibt keinen idealen Kreis; was wir damit meinen, ist einfach in der Regel enthalten, wonach bei einem Kreis alle Punkte denselben Abstand vom Mittelpunkt haben; die Vorstellung vom idealen Kreis haben wir durch die technische Anweisung ersetzt, wie wir Kreise zu konstruieren haben.
Die Seele ist kein Gegenstand; es ist daher genauso unsinnig zu sagen, sie sei unsterblich wie sie sei sterblich.
DIE Seele oder die SEELE ist ein Pseudo-Gegenstand; das zu sagen, heißt nicht sich feige und dumpfsinnig an die zerschlissenen Röcke von Madame La Matière zu hängen. Im Gegenteil: Wir sehen ja das beseelte Leben im Lächeln dessen, der uns freundlich begrüßt, an seinem Winken, wenn er sich von uns verabschiedet, am Stirnrunzeln des Unschlüssigen, am gebeugten Gang des Niedergeschlagenen, am beschwingten des Frohgemuten, an den Tränen des Trauernden. Die Sprache der Seele ist kein metaphysisches Kauderwelsch, sondern die verleibte Gnomik der sprechenden Gebärde und des seelenvollen Ausdrucks. – In der Metaphysik streichen wir den Begriff „Seele“, in der Dichtung unterstreichen wir ihn.
Ein anderer metaphysischer Satz lautet: „Was ich sage, hat die Bedeutung, die ich ihm gebe“ – der Grundsatz des Idealismus. Doch die Bedeutung der Wörter und Sätze ist nicht durch die Vorstellung bedingt, die wir damit verbinden, sondern durch die Regel ihrer Verwendung. Diese Regel kann ich nicht erfinden, sie ist kein mentales Konstrukt, sondern eine grammatische Konvention, die nur in der Übereinkunft einer Sprechergemeinschaft Wirkkraft und Leben erhält.
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