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Wittgensteins Sinnbilder XXIV – der Werkzeugkasten

19.04.2019

Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.)
Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I, 11

 

Der Werkzeugkasten selbst ist kein Werkzeug, sondern der Behälter, in dem wir Werkzeuge aufbewahren. Wenn wir die Sprache als Sammelbegriff für alle möglichen Funktionen auffassen, die wir mit ihr ausführen können, dann können wir der Sprache selbst keine spezielle Funktion zuordnen.

Es ist daher mehr als ein Zeichen unbedachter Ausdrucksweise (sondern begrifflicher Konfusion), wenn wir sagen, die Sprache diene der Verständigung, die Sprache habe die Funktion der Mitteilung und Kommunikation.

Je nach dem Zweck, für den wir sie verwenden wollen, wählen wir die Werkzeuge aus, die wir dem Werkzeugkasten entnehmen; wenn wir eine Kiste bauen wollen, Hammer, Nägel, Säge, Leim und Maßstab.

Wir können fragen, zu welchem Zweck wir die Kiste bauen wollen, doch erübrigt sich die Frage, wozu wir dafür Hammer, Nägel, Säge, Leim und Maßstab brauchen.

Die Schüler schreiben einen Aufsatz über ihren letzten Ausflug in den Sommerferien. Wir können die von ihnen gebrauchten Wörter in einer Tabelle anordnen, in der sie unter folgenden Fragen aufgelistet werden: Wer? (Freunde, Eltern), Was? (grüne Wiesen, blaues Wasser), Wo? (Berge, See), Wann? (Wochenende), Wie lange (drei Tage), Womit? (Fahrrad, zu Fuß), Wie? (Fahrradfahren, Wandern), Wozu? (Erholung, Besichtigung).

Dabei verwenden die Schüler typischerweise folgende Wortarten: Namen (Freunde, Orte), Substantive (Berg, See, Fahrrad, Enzian, Seestern), deiktische Pronomen der Person (ich, er, dieser), deiktische Pronomen des Ortes (dort, hier, darüber, dazwischen), deiktische Pronomen der Zeit (dann, später, schließlich), Eigenschaftswörter wie Farbbegriffe (grün, blau) und Erlebnisbegriffe (froh, müde).

Offenkundig schimmert hinter der Folie einer solchen Tabelle typischer Ausdrucksmittel der Beschreibung die Tafel der aristotelischen Kategorien durch.

Dabei erfassen wir auch en passant den Übergang oder Bruch zwischen der Sprachlogik der Beschreibung und der Metaphysik oder Ontologie der Substanz, in die sie Aristoteles verwandelte; denn er ließ sich von der Verwendung der Namen zur Bezeichnung von Gegenständen, die ganz oben auf seiner und unserer Liste auftauchen (Wer?, Was?), dazu verleiten, Gegenstände oder alles das, worüber wir etwas sagen und in Aussagen prädizieren können, als Leitprinzip seiner Betrachtung gegenüber allen anderen Funktionen des sprachlichen Ausdrucks auszuzeichnen.

Nehmen wir an, die Schüler haben die Aufgabe, den Schneefall, den Regen, den Wellengang und die Meeresbrandung oder den Zug der Wolke zu beschreiben; in der Wahl der Beschreibungsmittel sind sie frei. Würden sie dann sprachliche Mittel wählen? Oder nicht eher zu Papier, Pinsel und Farben greifen? Denn was können wir, wenn wir nicht über das Sprachvermögen eines Adalbert Stifter verfügen, schon groß sagen über das Gestöber von Schneeflocken, das Singen und Trommeln von Regentropfen, den gischtenden Schaum auf den Wellen; wenn wir nicht über Howards Beschreibungskunst oder Goethes poetische Mittel verfügen, wie über Wolken schreiben?

Schneefall, Regen, Wellen und Wolken, die duftend blaue Sommerluft, aber auch das Rauschen des Wassers, das Flackern und Züngeln der Flammen, die von schweren Aromen durchflimmerte Atmosphäre eines Sommerabends, kurz alles, was wir das Elementare nennen und als ungeordnete Masse oder Häufung von Teilen und Ereignissen empfinden, sträubt sich gegen die simplen sprachlichen Mittel der Benennung und der schlichten und biederen Ontologie der Substanz.

Die Ontologie der Substanz ist vielleicht nur die rationale Version unserer Alltagsmythologie, der Mythologie unserer Sprache, deren deskriptiver Bann von der Faszination zeugt, die seit den Griechen von der Wahrnehmung reiner, abgegrenzter Gestalten ausgeht, so wie sie ihre Götterbilder eindringlich vor Augen führen.

Wir könnten uns auch eine Mythologie denken, in der die Dinggestalt und Gegenständlichkeit keine dermaßen vordringliche und dominierende Rolle spielten wie in der unseren; in der wir ein Sensorium für die Leere und Abwesenheit hätten, die Leere zwischen allem Gestalthaften, die Leere, aus der wir die Dinge als flüchtige Manifestationen auftauchen und wieder verschwinden sähen.

Aufgrund der Fixierung der Philosophen auf die Nennfunktion der Sprache und die Dominanz der Substanzontologie wurde auch das Bild, das wir uns von uns selbst machen, auf fatale Weise verzerrt, bis wir zum denkenden Ding (res cogitans) degenerierten.

Welches Selbstbild verliehe uns die Mythologie der Leere und Abwesenheit? Es wäre eher aus dem Rauschen des Wassers, dem Licht der Wolken, dem Flackern der Flamme und der Atmosphäre der blauen Luft zusammengesetzt, flüchtig wie die auf die Zaubertafel der Kindheit eingedrückten Linien und Chiffren, die man mit einem Ruck wieder löschen konnte, als aus den harten Knochen der Gegenständlichkeit, deren Zerbrechen wir am Ende beklagen und bejammern.

Nehmen wir an, Oberstufenschüler hätten die Aufgabe, eine Gerichtsverhandlung über einen Fall von Versicherungsbetrug unter Verwendung der indirekten Rede zu beschreiben. Sie müßten dazu kleine dramatische Rollen für den Richter, den Staatsanwalt, den Angeklagten und seinen Verteidiger sowie für zwei Zeugen erfinden. Um die Rollen mit Leben zu füllen, schreiben sie fiktive Redebeiträge der Beteiligten auf. Dabei gebrauchen sie Wendungen wie: „Der Angeklagte behauptete …“, „Der Staatsanwalt wandte ein …“, „Er klagte ihn der Fälschung von Dokumenten an …“, „Der Angeklagte rechtfertigte sich …“, „Der Zeuge bestätigte den Vorgang …“, „Der andere Zeuge bestritt die Aussage …“, „Der Richter lobte den Freimut des Zeugen …“, „Der Staatsanwalt tadelte die Verstocktheit des Angeklagten …“, „Der Staatsanwalt und der Verteidiger hielten ihre Plädoyers“, „Der Richter verkündete das Urteil“ – und weitere Auslassungen dieser Art.

Wenn wir für dieses Gerichtsdrama die den Aussagen vorangestellten Wendungen sammeln, erhalten wir eine Liste der Ankündigungen und Bezeichnungen typischer Sprechakte wie Fragen, Antworten, Behaupten, Widersprechen, Anklagen, Sichrechtfertigen, Loben, Tadeln, Konstatieren und Deklarieren.

Die dramatischen Rollen müssen bestimmte Spielregeln einhalten, die wenn auch vage den Umfang dessen umgrenzen, was gesagt und nicht gesagt werden kann; kurze Erzählungen aus dem persönlichen Leben wie von der gescheiterten Ehe des Angeklagten sind erlaubt, Witze nicht. Der Angeklagte kann sich rechtfertigen, aber nicht darüber befinden, was rechtens ist oder vor Gericht als Recht gilt, der Zeuge kann schweigen, darf aber nicht lügen, der Richter kann mildernde Umstände geltend machen, darf aber das Recht nicht beugen, weil er den Angeklagten geistreich und charmant findet.

Die dramatischen Rollen und ihre Sprechakte gehorchen Spielregeln, die von der sozialen Institution Gericht aufgrund langer Tradition und festgeschriebener Regieanweisungen (der Zivilprozeßordnung) definiert werden; ein Teil dieser Spielregeln besteht aus den Regeln des Sprachspiels, dessen Inszenierung das Gerichtsverfahren darstellt.

Die Schüler können anhand dieses dramatischen Sprachspiels auch die angemessene Verwendung von Ausdrücken zur Charakterisierung von Gemütsbewegungen üben: Der Staatsanwalt runzelt ungläubig die Stirn; der Angeklagte schlägt schuldbewußt die Augen nieder und läuft rot an; der Zeuge kommt wegen der strengen Befragung des Richters ins Stottern; der Verteidiger lächelt verschmitzt, als er einen neuen Entlastungszeugen aufrufen läßt; der Richter verliest mit eisiger Miene die Urteilsbegründung.

Die Schüler lernen, daß ihre genaue Verwendung von Eigenschaftswörtern zur Kennzeichnung von Gemütsbewegungen alles ans Licht zu bringen vermag, was die Beteiligten motiviert, in der Art und Weise und mit der Absicht zu sprechen, wie sie es tun, ohne daß ihnen ein entscheidender Rest, der sich im Innern oder im Geist der Sprecher verbergen mag, entschlüpfen müßte. Sie lernen mittels genauer Handhabung ihrer sprachlichen Instrumente nämlich auch zu beschreiben, inwiefern sich die verborgene Absicht und das verheimlichte Motiv trotz oder besser wegen noch so beflissener Verstellung dennoch zeigen: wenn sich der Zeuge verspricht und verhaspelt oder ins Fabulieren gerät, wenn der Angeklagte in die Enge getrieben die Augen rollt oder schmollt, wenn der Verteidiger bei der hartnäckigen Nachfrage des Staatsanwalts die Nase rümpft oder verlegen lächelt.

Die Schüler lernen: Die Gebärde, die Geste, der affektive Ausdruck ist der sichtbare, lesbare und entzifferbare Text, der von jener Instanz geschrieben wird, die wir Seele, Gemüt oder Geist nennen.

Die Mutter kommt nach Hause und ruft angesichts der Unordnung in der Küche, in der sich die Kinder mit der Erprobung eines „neuen Kochrezepts“ verlustiert haben: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ Die Freundin hat Geburtstag, ihr Freund hat ihn vergessen, kommt wie gewohnt zu ihr und legt lässig die Beine auf den Tisch; sie sagt: „Danke für die Blumen!“ Trotz der Ähnlichkeit dieser Äußerungen mit deskriptiven Aussagen erkennen wir aufgrund der Kontexte ihren ironischen Sinn.

Der Philosoph freilich, daran gewöhnt, den müden Kopf auf das weiche Kissen des Ideals zu betten, sagt sich, Wort ist Wort und Schaf ist Schaf, und selig döst er ein.

 

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