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Wittgensteins Sinnbilder XXII – die Leiter

17.04.2019

Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)

Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

 

Wenn einer mit der Leiter metaphysischer Sätze auf einen Aussichtsturm gestiegen ist und er hat die Leiter von sich weggestoßen, mag er vielleicht für Augenblicke die Aussicht genießen, aber er hat sich damit nur an einen scheinbar erhabenen Ort verstiegen und findet gleichsam nicht mehr ins normale Leben zurück.

Der seltsame Ort, den einer laut Wittgenstein mithilfe seiner philosophisch erläuternden Sätze als Leiter erklimmen mag, ist dagegen keine verstiegene Aussicht, von der er nicht mehr ins normale Leben zurückfände, sondern der allergewöhnlichste und alltäglichste Ort, die Mitte des Lebens, wo sich wie aus heiterem Himmel weiteres Fragen und große Worte erübrigen.

Ein typischer metaphysischer Satz, mit dem man sich in der angedeuteten Weise versteigt, wäre: „Das Wesen der Welt ist Wille“ (Arthur Schopenhauer). Der Satz scheint eine tiefe Intuition auszudrucken, mit der wir hinter den Schleier der Phänomene oder der uns durch Erfahrung gegebenen Dinge zu ihrem eigentlichen Kern vordringen. Als wäre die Fensterscheibe, die, von Reif überzogen, uns nur ein verschwommenes Bild nach draußen erlaubte, mit einemal durch den Anstieg der Temperatur von ihrem trüben Firnis befreit und gäbe uns einen klaren Blick auf die Landschaft frei.

Der metaphysische Satz hat den Sinn, daß die Welt im eigentlichen Kern Wille sei; das mit Welt Gemeinte ist gleichsam ein Super-Gegenstand, nämlich die Menge aller Gegenstände, über die wir Aussagen machen können. Somit nimmt der metaphysische Satz die Form an: „Jeder Gegenstand hat die Eigenschaft P“, wobei wir annehmen, P sei die wesentliche Eigenschaft der Dinge („Wille“), alle anderen Eigenschaften wie „schwer“, „blau“ oder „süß“ seien sekundär, phänomenal oder abgeleitet.

Die Form des Satzes „Jeder Gegenstand hat die Eigenschaft P“ ist aber genauer betrachtet nichts weiter als die grammatische Form der Aussage: „Alles, worüber wir etwas sagen können, von dem müssen wir auch sagen, daß es die Eigenschaft P hat.“ Oder kurz. „Alles, worüber wir etwas sagen können, hat die Eigenschaft P.“

Wir übersetzen gleichsam die erste philosophische These Schopenhauers „Die Welt ist Vorstellung“ in die Sprache des Wittgenstenschen Traktats mit der Wendung „alles, worüber wir sinnvoll etwas sagen können“ und die zweite These Schopenhauers „Die Welt ist Wille“ mit der Wendung „alles hat notwendig die Eigenschaft P“ – somit ergibt sich in sprachphilosophischer Lesart des metaphysischen Hauptsatzes Schopenhauers:

„Die Welt der Vorstellung ist die Welt des Willens“

der Satz:

„Alles, worüber wir sinnvoll etwas sagen können, hat notwendig die Eigenschaft P.“

Von jedem, von dem wir sinnvoll etwas sagen, können wir sagen, daß es sich damit so verhält (verhielt) oder nicht so verhält (verhielt); denn zu sagen, etwas sei so oder nicht so, ergibt einen sinnvollen Satz.

Demnach müßten wir auch sagen können: „Caesar überschritt den Rubikon nicht und Caesar hat die Eigenschaft P“. Das ergibt zwei Aussagen, von denen die erste mit Sicherheit falsch ist, mag die zweite wahr sein oder auch nicht. Gleichgültig ob demnach Caesar die Eigenschaft P hat oder nicht hat, die Konjunktion der beiden Sätze ist auf jeden Fall falsch, denn nur, wenn beide Sätze wahr sind, ist ihre Konjunktion wahr.

Mit metaphysischen Sätzen, die über alles oder das Wesen der Welt reden, kommen wir demnach logisch betrachtet in Teufels Küche, weil wir aus ihnen beliebig viele Sätze ableiten können, die falsch sind. Diese Konsequenz könnten wir nur vermeiden, wenn wir die Anwendung solcher Sätze auf jenen ausgewählten Teilbereich von Gegenständen einschränken, von denen wir (durch den Existenzquantor gebundene) wahre Aussagen (als abzählbare Menge von Konjunktionen) machen können; doch dann sprächen wir nicht mehr über alle möglichen Gegenstände oder das „Wesen der Welt“.

Wenn aber der Ausdruck „alle möglichen Gegenstände“, ohne Einschränkung gesprochen, eine begriffliche Chimäre ist, dann auch per definitionem der Ausdruck „das Wesen der Welt“.

Wenn wir von allem sagen, es habe die wesentliche Eigenschaft P, dann müßten wir auch von dem metaphysischen Satz selbst sagen, er habe die Eigenschaft P, so wie der Satz: „Alle Sätze bestehen aus Wörtern“ selbst aus Wörtern besteht.

Der metaphysische Satz müßte demnach an sich selbst ZEIGEN, was er SAGT.

Doch diese Eigenschaft zu zeigen, was sie sagen, haben nach Wittgenstein nur logische Sätze wie Tautologien, etwa der Satz: „Wenn Peter Karls Freund ist, ist Karl Peters Freund“. Oder: „Wenn Dreiecke drei Winkel haben, ist alles, was drei Winkel hat, ein Dreieck.“

Allerdings sagen logische Sätze nichts über die Welt, ihre Geltung ist unabhängig von der Beschaffenheit der Dinge; denn daß die Relation der Freundschaft symmetrisch ist, gilt unabhängig von der Tatsache, daß Peter und Karl miteinander befreundet sind oder nicht.

Daß ein sprachliches Muster wie die logische Form der Relation unabhängig von den wechselnden und kontingenten Weltdaten, mit denen wir sie füttern oder füllen, gleichsam im Äther der Sprache schwebt, verführt metaphysisch gestimmte Philosophen zur Annahme ewiger Ideen, wie der Zahlen, geometrischen Figuren oder der Allgemeinbegriffe.

Wenn nun metaphysische Sätze die Form logischer Sätze haben, sagen sie nichts über die Beschaffenheit der Welt; doch der metaphysische Satz „Das Wesen der Welt ist Wille“ oder „Alles, worüber wir etwas sagen können, hat die Eigenschaft P“ beansprucht ja gerade, etwas über das Wesen der Welt zu behaupten.

Peter könnte heute mit Karl befreundet sein, morgen aber sich mit ihm verkrachen. Die Relation der Freundschaft zwischen A und B ist heute wahr und morgen falsch. Wir sprechen den Kandidaten für diese oder jede andere Relation die jeweilige relationale Eigenschaft zu oder ab, je nach der kontingenten Sachlage, auf die wir treffen. Diesen Umstand nennen wir die Kontingenz der Welt, die uns darauf einschränkt, aus der Unzahl möglicher Prädikationen je nach zufälligem Befund die eine zu bejahen, die andere zu verneinen.

Relationen und relationale Eigenschaften, die wir unabhängig von der zufälligen Weltsituation immer behaupten können, nennen wir notwendig; doch sind diese Eigenschaften nicht Eigenschaften von Sachen und Sachlagen, die bestehen oder nicht bestehen können, sondern Eigenschaften von logischen Sätzen wie dem Satz: „Wenn Peter ein Junggeselle ist, ist er nicht verheiratet“ oder: „Wenn Peter Marias Vater ist, ist Maria Peters Tochter“, die nichts über bestehende oder nicht bestehende Sachverhalte in der Welt sagen.

Doch nun behauptet der metaphysische Satz „Das Wesen der Welt ist Wille“ oder „Alles, worüber wir etwas sagen können, hat die Eigenschaft P“, daß die von ihm gemachte Zuschreibung der Eigenschaft „Wille“ oder P immer oder apriori und daher notwendig gilt, unabhängig von allem, was auch immer uns im kontingenten Raum unserer Erfahrung oder aposteriori begegnen mag.

Folglich behauptet der metaphysische Satz etwas, was wir nicht sagen können, denn vom Kontingenten und Zufälligen können wir nichts sagen, was nicht kontingent und notwendig wäre. Sätze, die zu sagen beanspruchen, was sich nicht sagen läßt, nennt Wittgenstein unsinnig; denn sinnvoll sind nur Sätze, die etwas behaupten, was der Fall und wahr ist, aber auch nicht der Fall und falsch sein könnte wie der Satz: „Peter ist mit Karl befreundet.“ Sinnlos nennt Wittgenstein Sätze, die immer wahr oder immer falsch sind, also logische Tautologien und Kontradiktionen; denn einen Sinn können sie insofern nicht haben, als sie nichts über die Beschaffenheit der Welt mitteilen und somit möglicherweise wahr oder möglicherweise falsch wären, sondern aufgrund der logischen Form der Sprache zeigen, was immer oder notwendigerweise wahr oder falsch ist.

Wir können so reden: „Das Kind will etwas zu essen haben.“ „Peter will, daß sein Freund Karl ihn öfter besucht.“ Oder: „Karl wollte seinen Freund Peter nicht versetzen“. Wir drücken mit dem Gebrauch von „wollen“ ein Bestreben einer Person aus, das wir sinngemäß auch durch die Verben „wünschen“, „darauf aus sein“ oder „beabsichtigen“ bezeichnen können. Der Gegenstand des Wollens erscheint nur in umgangssprachlicher Redeweise als Objekt oder Ding, wenn wir etwa sagen, das Kind wolle den Kuchen; meinen aber, das Kind wolle den Kuchen haben. Etwas wollen heißt, ein Ereignis oder einen neuen Weltzustand herbeiführen wollen, und dies drücken wir mithilfe des Nebensatzes aus, der mit „daß“ eingeleitet wird: Wenn Peter Ruhe will, meinen wir damit, er will, daß Ruhe herrsche.

Kann der Hund wollen, daß sein Herrchen heute früher nach Hause komme; der aus dem Käfig gelassene Wellensittich, daß seine Besitzerin aus Versehen das Fenster öffne, damit er hinausfliegen kann?

Hunde oder Katzen wollen nichts, sie haben Triebregungen wie Hunger und Durst oder konditionierte Regungen, wie Männchen zu machen, um ein Leckerli zu ergattern, aber nicht den Wunsch, daß ihr Besitzer heute fröhlich sei und ihnen ihr Lieblingslied vorsinge.

Wir können auch wollen, daß etwas nicht geschehe, wie Peter, der will, daß Karl ihm heute lieber nicht über den Weg laufe.– Kann der Hund wollen, daß ihm die böse Nachbarskatze heute nicht über den Weg laufe?

Und wer etwas will, muß auch in der Lage sein, dasselbe nicht zu wollen, wie der Zauderer Peter, der jetzt will, daß sein Freund Karl komme, und gleich darauf nicht will, daß er komme, oder will, daß er nicht komme.

Wir kann man sich zu der Annahme versteigen, daß die Welt oder alles, worüber wir etwas sagen können, etwas wolle? Das aber impliziert die Annahme, daß die Welt oder alle Welt ein und dasselbe will, denn kein Wesen kann zu gleicher Zeit im Ernst das eine und sein Gegenteil wollen. Doch von allem, worüber wir etwas sagen können, können wir mit Gewißheit das eine sagen: daß nicht alle zugleich dasselbe wollen, sondern der dies, jener jenes.

Warum dann die Annahme ausschließen, daß die Welt heute so will, morgen das Gegenteil?

Aufgrund der für indogermanische Sprachen typischen Substantivierung von Verben und Adverbien wie „bewußt“, „vorhanden“, „wesentlich“ und „willentlich“ wird das Denken dazu verleitet, Entitäten wie das Bewußtsein, das Objekt, das Wesen, den Willen oder die Welt zu hypostasieren. Aber es gibt kein Bewußtsein, sondern wir sind uns dieser oder jener Sache bewußt, es gibt kein Objekt, sondern nur Hunde, Wellensittiche oder Freund Karl, es gibt kein Wesen, sondern etwas erscheint uns wesentlich oder der Beachtung wichtiger als etwas anderes, es gibt keinen Willen, sondern wir haben etwas willentlich oder aus Versehen getan oder unterlassen, es gibt keine Welt, sondern Welten wie die Pflanzenwelt, Tierwelt oder die Menschenwelt.

Wenn es kein Bewußtsein und keine Objektwelt als substantielle Gegebenheiten gibt, dann auch kein hinter oder in ihnen irgend verborgenes Wesen.

Es ist seltsam und verwunderlich zu bemerken, daß ein Mann von solch erlesenem Sprachsinn und Wortwitz wie Schopenhauer sich vom metaphysischen Jargon derart hat mitreißen und korrumpieren lassen.

„Alles ist X“, auf diese fatale Weise drückt sich in der Geschichte des abendländischen Denkens einerseits die mißverstandene Logik der Sprache aus; andererseits ist sie die narrative Schneise für seinen unausrottbaren Hang zur Fabel, zum Mythos, zur Großen Erzählung. Bei Schopenhauer finden wir die Fabel vom dämonischen Ungeheuer des sich selber zeugenden und verschlingenden Willens, Kronos als Drache der Zeit, der seine Kinder frißt. Und nur moralische Helden können ihm, wenigstens in der Gestalt des eigenen Daseins, den Speer in den feuerspeienden Rachen schleudern, den Askese und mönchischer Verzicht geschmiedet haben. Diese Fabel ist nicht besser und nicht schlechter als die Fabel Rousseaus vom guten Wilden, den es unter dem muffigen Kostüm der Zivilisation in all seiner anmutigen Nacktheit zu entdecken gelte.

Wir sind mit dem metaphysischen Satz nur scheinbar auf einen erhabenen Aussichtspunkt gelangt, haben uns in Wahrheit jedoch in ein logisch-semantisches Gestrüpp von lauter Vagheit, Zweideutigkeit und Unsinn verstiegen und verstrickt.

Doch zugleich haben uns hoffentlich diese Erläuterungen mit den Hinweisen auf das, was wir sinnvoll sagen und nicht sagen können, auf den Sinn, die Sinnlosigkeit und den Unsinn von Sätzen, Auswege aufgezeigt, wie wir den Kopf aus der sprachlichen Schlinge ziehen können, in die wir geraten, wenn wir zu sagen versuchen, was sich wie mit metaphysischen Sätzen nicht sagen läßt, oder zu sagen versuchen, was sich wie mit logischen Sätzen nur zeigen läßt.

Diese Erläuterungen nennt Wittgenstein, wie jene metaphysischen Sätze selbst, aus deren Fallstricken er uns befreien will, unsinnig, denn sie sind weder rein empirische Sätze über bestehende oder nicht bestehende Sachverhalte noch logische Sätze; doch im Gegensatz zu metaphysischen Sätzen haben sie eine therapeutische Funktion. Diese philosophischen Erläuterungen wühlen und graben den Untergrund der unsinnigen Sätze frei, an die wir unsere theoretische Leidenschaft verschwenden, bis wir plötzlich sehen: Sie wurzeln nicht im Humus sinnvollen Sprechens, sondern sind parasitäre Gewächse, die sich um den uralten Stamm der Sprache schlingen. Oder wir sehen: Sie sind gespenstische Nebel auf dem nüchternen Wasser unseres Alltags, und erst unter dem wärmenden Licht einer gleichsam transzendentalen Ironie oder eines sublimen Humors lösen sie sich auf, und die Sicht wird klar.

Haben wir uns aus der Verstrickung gelöst, sollten wir keineswegs übermütig und hochnäsig werden und das Ansinnen und Verlangen, das sich in dem Anrennen gegen die Grenzen der Sprache, wie es sich in Schopenhauers Satz offenbart, als kindliches Wunsch- und Traumdenken lächerlich machen und mit der abschätzigen Geste des nüchternen Biedersinns von uns abstreifen, um in einem dumpfen Kult vor dem Götzen namens factum brutum zu buckeln und zu kriechen.

Wir fühlen und achten in der Unsinnigkeit, Absurdität und Unmöglichkeit metaphysischer Sätze das im sach- und sinnhaltigen Reden unerfüllbare Verlangen nach dem Unbedingten, Unendlichen, Transzendenten. Wenn uns Wittgenstein rechtens das Schweigen des Philosophen vor dem Unsagbaren gebietet, eröffnet er uns gleichwohl das weite Feld des Zeichenhaften, das sich in die Tiefen des Raums der Dichtung, der Kunst, der Musik erstreckt.

 

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