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Wittgensteins Sinnbilder XIII – die groteske Pantomime

08.04.2019

Nachdem Wittgenstein sein millionenschweres Erbe an seine Geschwister und einen Fonds zur Förderung minderbemittelter Dichter wie Rilke und Trakl abgetreten hatte, absolvierte er nach einer Station als Gärtner in einem Benediktinerkloster eine Ausbildung an der Wiener Lehrerbildungsanstalt, um eine Stelle in der verschlafenen Provinz Niederösterreichs anzutreten. Als seine Schwester Hermine von diesem Vorhaben erfuhr, machte sie dem Bruder schwere Vorhaltungen des Sinnes, er sei im Begriff, seine großen Talente von den klobigen Pantinen des Landvolks, an denen der Mist des Stumpfsinns klebt, zertreten zu lassen. Wittgenstein versuchte ihr mit einem Bild klarzumachen, daß sie den springenden Punkt bei der Sache vollkommen übersehe. Sie möge sich vorstellen, sie beobachte durch die Fensterscheibe einen Mann unten auf der Straße, der eine groteske Pantomime aufzuführen scheint, gekrümmten Körpers mit den Armen herumrudert, mit den Händen fuchtelt. Erst wenn sie das Fenster öffnet und der Wind ihr um die Ohren bläst, kann sie erkennen, daß es sich um kein wüstes Gebärdenspiel eines Verrückten handelt, sondern um den verzweifelten Kampf eines Menschen, der gegen einen starken Sturmwind voranzukommen versucht.

Ein wüstes, schreckliches Bild aus der Nacht der Seele, Bild der Ausgesetztheit und Gottverlassenheit. Denken wir einen Moment an das freie, gelassene, gleichsam sonntägliche Stehen des antiken Menschen, wie wir es an den frühen Statuen der Heroen und Götter bemerken: das der Mutter Erde anvertraute Standbein und das sich ins Freie wagende Spielbein, die vom leisen Atem des sich innig umarmenden Lebens, der Aura der Stille, der Inspiration des guten Augenblicks aus der Stirn gestrichene Locke, das weiche Wasser der Falten, die über das durchpulste Fleisch und die zur reinen Empfindung erwachte Haut rieseln.

Das Selbstbild Wittgensteins zeigt nichts von alledem, für das uns die Schule die schönen Phrasen von der edlen Einfalt, der stillen Größe mitgab; es erinnert an das vom Wind gebogene Schilfrohr Pascals oder das vom Hauch gedemütigte Gras des Predigers, das nach Mahd und Sichel lechzt.

Der Mann, der gegen den Sturm mit äußerster Mühe ankämpft, doch vergebens, er kommt nicht voran, gleicht den Figuren des närrischen Scheiterns, die wir aus Albträumen kennen.

Ein Mensch, der mühsam gegen den Sturm angeht, kann kein weit abgelegenes, kein hochgespanntes Ziel ins Auge fassen und verfolgen. Er ist wie gefesselt, gebannt an den schmalen Umkreis seines heroischen Kampfs, seiner fast auf der Stelle tretenden Einsamkeit.

Würde er schreien, würde er um Beistand rufen, der Wind risse ihm die Worte vom Mund, der Sturm verwehte sie wie welke Blätter. Was immer er auch rufen mag, es klingt wie Winseln, nicht wie verständliche Worte. Der auf Abwege geratene Wanderer in Schuberts „Winterreise“ vermag seiner Verlorenheit schmerzlich schönen Ausdruck zu geben; nicht dieser Mensch im Sturm.

Er sagt der Schwester: „Das bin ich, doch du siehst nur einen Narren, der bizarre Bewegungen macht und Grimassen schneidet, windschief gegen den harmonischen Sinn des Lebens, seiner nicht mächtig, ein grotesker Mime des Schicksals, doch du verstehst es nicht.“

Sie verstünde, wenn sie das Fenster öffnete und die ungeheure Wirklichkeit des Sturms wahrnähme. Dies Verstehen: Wenn wir das Fenster öffnen oder die Tuchfühlung mit der Umgebung aufnehmen und die Situation mit einem Schlag erfassen.

In Dantes Inferno werden die Seelenschatten des 2. Höllenkreises vom Sturmwind der Hölle wie leichte Vögel oder vergilbtes Laub herumgewirbelt; darunter auch der Schatten der Francesca da Rimini. Sie darf dem Dichter von ihrem Leid erzählen, und dieses besteht in der Wunde, aufgerissen vom Übermaß des Begehrens, dem kein Mensch entrinnt, doch das im schmerzlichsten, im schönsten Sinne Gestalt annimmt in der Liebeserfahrung. Dante öffnet uns das Fenster des Verstehens und wenn wir Tuchfühlung aufnehmen mit dem höllischen Sturmwind der Leidenschaft, der die verlorenen Schatten umtreibt, verstehen wir die Worte der Francesca, ohne gelehrte Kommentare zur christlichen Metaphysik von Sünde, Schuld und Strafe wälzen zu müssen; verstehen, daß jenes Inferno der Liebe, dessen Bild Dante der antiken und christlichen Allegorie entlehnt, in Nachbars Wohnung stattfindet oder in der eigenen. Sehr reizvoll und verblüffend ist die Beziehung, die Dante zwischen dem stürmischen Übermaß der Leidenschaft und der Welt des Fiktiven und Imaginären herstellt, wenn er Francesca von der faszinierenden und verführerischen Lektüre eines Artusepos (Lanzelot) berichten läßt. Wir kennen auch jenen anderen Helden, dessen seelisches Ungleichgewicht und dessen Hunger nach dem Außerordentlichen sich an der Lektüre alter Ritterromane nährt, und der, wenn man den Sturm der Leidenschaft, der ihn in voller Rüstung aufs Pferd hebt und gegen unsichtbare Feinde zu Felde ziehen läßt, nicht kennt oder für ein dünnes Phantasielüftchen hält, lächerlich und närrisch oder wie ein Pantomime des Grotesken anmutet: Don Quijote.

Dante jedenfalls hat sich und uns das Fenster zum Verstehen der Tragödie des Paolo und der Francesca da Rimini aufgetan und zeigt sich von seinem eigenen Bild tief erschüttert:

Mentre che l’uno spirto questo disse,
l’altro piangëa; sì che di pietade
io venni men così com’ io morisse.

E caddi come corpo morto cade.

Und als der eine Schatten solches sprach,
da weinte sein Gesell; vor Rührung stumm
und wie ersterbend ließ mein Atem nach.

Ich fiel, es war, als fiele ein Leichnam um.

Dante, Divina Commedia, Inferno, V. Gesang

Das Übermaß, das Zuviel, das Dante hier im infernalischen Sturm der Liebesbegierde dichterisch ausmalt, begegnet uns auch im Denkbild Wittgensteins – doch wovon dieser Sturm zeugt, wissen wir nicht.

Wir können die Bilder der verlorenen, gequälten Seelen in Dantes Inferno gleichsam mit ärztlichem Blick oder diagnostisch als Krankheitsbilder lesen; so diagnostizieren wir in den vom Höllensturm hin und her getriebenen Schatten von Paolo und Francesca da Rimini die Kränkungen und Verletzungen unerfüllter Liebe. Wir können zwar im Wittgensteinsche Selbstbild des Mannes im Sturm ein Krankheitsbild vermuten, wissen es aber nicht zu diagnostizieren. Welche seelische Krankheit sollte es uns verbildlichen, wenn nicht die Situation des Menschen schlechthin, der ohnmächtig gegen die Unbill des Schicksals ankämpft? Oder ist es jenes Leiden, das er mit dem schillernden, erhabenen und lächerlichen Namen „Philosophie“ benannte, dessen verstörende, auf ihn unablässig einstürmende Impulse er (noch) nicht mittels gelassener Betrachtung lenken, ablenken, stillstellen konnte?

Der Mann, der mühsam gegen den Sturm des Schicksals anrennt, könnte auch eine Figur Kafkas sein, ein Bote, damit beauftragt, eine Botschaft höheren Orts einer kleinen verlorenen Schar von Hirten zu übermitteln, die dort jenseits der Mauer des Sturms in einer Hütte mit Sack und Pack und ihren Schafen und Hunden Unterschlupf gefunden haben und wie in Ohnmacht gesunken vor sich hindämmern, und der Bote murmelt die Worte, die Losungen, die Losungsworte immerfort vor sich hin, mit denen er sie wecken soll, um sie in ein anderes Tal zu geleiten, wo die Blumen duftender und das Gras für das Vieh würziger ist, doch der Wind reißt ihm die Worte vom Mund, der Sturm entstellt sie ihm sogleich auf den Lippen, er mag sich heroisch, panisch, verzweifelt gegen den Wind stemmen, mit den Armen rudern, mit den Fäusten schlagen, er kann die Mauer nicht übersteigen, sie nicht durchdringen. Oder wäre es dies, was von der Botschaft bleibt, eine groteske Pantomime, ein Winseln und schließlich, wenn die Kräfte aufgebraucht sind, ein Fallen?

Wir verstehen den Wink mit der Hand, verstehen das Achselzucken, das Kopfschütteln, das selbstverliebte oder selbstverlorene Sich-in-den-Hüften-Wiegen, doch die unwillkürlichen Bewegungen einer Vogelscheuche, deren Gliedmaßen im Wind hin und her schlenkern, verstehen wir nicht. Wir haben von ihrem wüsten Bewegungsspiel nur einen dumpfen Stimmungseindruck, als sähen wir darin ein Abbild der Ohnmacht oder des Todes.

Wenn einer stottert, lispelt oder sonst undeutlich sprechend zusammenhängende Silben verschluckt, unzusammenhängende dazwischenquetscht, können wir das Wohlartikulierte wie Rosinen aus dem unförmigen Laut-Teig picken. Einem, der bei den Worten „Wer immer strebend sich bemüht …“ abbricht, können wir mit dem ergänzenden Vers „den können wir erlösen“ auf die Sprünge helfen.

Wir verstehen freilich, wenn einer stotternd zu reden anhebt, daß ihm das rechte Wort nicht über die Lippen kommt, wenn einer auf der Schwelle zögert und den entscheidenden Schritt nicht tut, wenn einer den Ball auffangen will und er danebengreift: Somit verstehen wir die gehemmte und die nur angedeutete sowie die an der Verwirklichung scheiternde Intention und die ohnmächtige Geste. Auf diese Weise verstehen wir auch das Verhalten des Mannes, der sich gegen den Sturm stemmt und der um keinen Deut vorankommt.

 

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