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Wittgensteins Sinnbilder XII – der Geistesblitz

07.04.2019

In seinen Notizen über ihre letzten Begegnungen in Oxford erwähnt O. K. Bouwsma ein Gespräch mit Wittgenstein über die philosophische These, was immer der Mensch treibe und anstelle, er bezeuge in allem Handel und Wandel das Streben nach Vergnügen und Lust. Wittgenstein weist darauf hin, daß es sich bei solchen generellen Aussagen nicht um empirische Sätze handele. Dann kommt er auf Freud und seine Traumdeutung, wonach Träume nach dem interpretatorischen Schema der Wunscherfüllung entschlüsselt und verstanden werden sollen. Das sehe wie eine Entdeckung aus. Der Interpret knöpft sich einen Traum vor und sieht: Ja, Wunscherfüllung; er nimmt den nächsten: Ja, ebenfalls. Und wieder einen. Der Hungrige träumt vom Festschmaus, der Durstige von Wein, der Wasser lassen muß, schlägt sein Wasser ab. So packt er (wie im Tümpel den schlüpfrigen Fisch) das Wesen des Traums, dasjenige, was alle Träume auszeichnet, was ein Traum nun mal ist. Es ist wie ein Geistesblitz – ein Aperçu.

Quelle: O. K. Bouwsma, Wittgenstein, Conversations 1949–1951, Indianapolis, Indiana 1986, S. 58

 

Der eine lustwandelt jeden Nachmittag im Park, der andere schleckt seinen Kuchen, dieser stopft fette Schmöker in sich hinein, jener will noch einen allerletzten Kuß nach dem letzten. Sie alle scheinen zu tun, von dem sie nicht lassen wollen, treiben es bunt, jeder nach seiner Art, seinem Gusto, denn des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

Nun kommt der Theoretiker und denkt es bis auf den Grund oder was da auf dem Grund allen menschlichen Wandels durchschimmert: Sie tun, was sie wollen, sie machen, wonach es sie gelüstet, sie treiben, wonach ihnen der Sinn steht; das Motiv und der Grund des Handelns sind das Objekt der Begierde, das Ziel allen Handelns ist die Erfüllung eines Wunsches.

Doch zu sagen, einer gehe spazieren, weil er sich damit den Wunsch nach einem Spaziergang erfülle, ist eine pleonastische, umständliche, nichts hinzufügende Paraphrase oder Umschreibung für den Satz: Er geht gern spazieren.

Daß einer gern spazierengeht, zeigt sich, wenn er sich lieber Richtung Park aufmacht, als zu Hause zu hocken und fernzusehen. Die umständliche und scholastische Paraphrase des Theoretikers, das Handlungsziel des Spaziergangs verspreche ein größeres Maß an Lusterfüllung als das Glotzen auf die Mattschabe, ist um nichts erhellender oder aufschlußreicher als die Aussage, er gehe lieber spazieren.

Gemäß hedonistischer Hypothese wären wir jedes Mal, wenn wir eine Handlung vor ihren Alternativen bevorzugen, gehalten, das Quantum an Lust und Befriedigung, das sie uns zu spenden verheißen, die eine gegen die andere abzuwägen und uns dann für den volleren Pokal zu entscheiden. Doch jener geht spazieren, ohne zuvor ein Kalkül seiner Handlungsmöglichkeiten durchmustert zu haben und mithilfe eines untrüglichen Syllogismus den Schluß auf seine Präferenz aufzuspießen.

Die Hypothese, alle handelten gemäß einem einheitlichen Motiv und Grund, ist nicht verifizierbar, es sei denn, wir schieben die Nachforschung auf bis zum Sankt Nimmerleinstag. Folglich ist sie nur scheinbar eine Hypothese, nur scheinbar eine Theorie, folglich eine Schein-Theorie, in Wahrheit ist sie eine Tautologie, die einfach sagt: Alles handeln nun einmal so, wie sie handeln, alle treiben es so, wie es ihnen gutdünkt.

Der Geistesblitz, der uns die Nacht des Unverständlichen schlagartig bis auf den Grund und das Wesen der Dinge zu erhellen scheint, blendet das Auge des Geistes und erweist sich als trügerisches Phantom.

Die Phantome, die uns narren, sind wie gespenstische Schatten, welche die großen Worte – Leben, Sprache, Traum – auf das unscheinbare Rasenstück unseres Fassungsvermögens werfen.

Wenn der Schauspieler auf der Bühne der Schauspielerin, die zufällig seine Ehefrau ist, einen Theater-Kuß gibt, dann ist dies nicht dasselbe, was er tut, wenn er sie abends zu Hause in den Arm nimmt und küßt. Und wenn der Schauspieler in der Rolle des Othello die Schauspielerin in der Rolle der Desdemona theatralisch erwürgt, stirbt sie weder noch wird der Schauspieler in Handschellen abgeführt.

So auch im Traum: Es hampeln und strampeln auf seiner Bühne Masken, die wechselnde Rollen verkörpern und weder für das Drehbuch noch für ihre fiktiven oder Pseudo-Taten verantwortlich gemacht werden können.

Seltsamerweise betrachten wir im Traumspiel ein Stück, in dem wir das Privileg haben, immer zugleich die Hauptrolle zu spielen, und das wir ohne Vorlage und Proben aus dem Stehgreif improvisieren.

Könnten wir, wie Feuilletonisten Theaterkritiken schreiben, über unsere Träume Rezensionen verfassen?

Vor der Bühne, auf der wir unser Traumspiel inszenieren, sind wir allerdings die einzigen Zuschauer.

Wir sagen: „Ich habe von dir geträumt.“ Doch hat diese Aussage eine andere Bedeutung als die Aussage: „Ich habe dich gestern im Park gesehen.“ – Du könntest sagen: „Du mußt dich irren, ich war gestern nicht im Park!“ Nicht aber: „Du mußt dich irren, ich war nicht in deinem Traum!“

Die semantischen Bedingungen und Kontexte jener Sätze, mit denen wir unsere Träume oder von unseren Träumen erzählen, sind nicht die semantischen Bedingungen und Kontexte jener Sätze, mit denen wir von unseren Alltagserlebnissen erzählen.

Die Grammatik der Sätze, die wir im Traum hören oder sprechen, ist von der Grammatik der Sätze, mit denen wir von unseren Träumen erzählen, ganz verschieden.

Wenn wir im Traum Musik hören, die uns bekannt vorkommt, können wir nicht herausfinden, woher sie stammt oder wer sie komponiert hat. Denn wenn wir meinen, sie stamme von Mozart, kann es sein, daß sie eine Traum-Melodie ist, die vielleicht von Mozart stammen könnte, aber nicht im Köchel-Verzeichnis steht. Oder wir erwachen und erinnern uns an einen Schmachtfetzen, und doch dünkte uns im Traum, die Schnulze stamme von Mozart.

Würden wir im Traum eine Rechnung durchführen, könnten wir nicht herausfinden, ob sie richtig oder falsch ist, denn die Rechenregeln sind ja ebenfalls geträumte Regeln, also gar keine.

Wenn wir eine Rechnung ausführen und kommen jedes Mal zu einem anderen Ergebnis, nicht weil wir schwach im Kopfrechnen sind, sondern weil sich von Fall zu Fall die Rechenregeln ändern, wüßten wir, daß wir träumen oder in eine Traumwelt aufgewacht sind.

Die Sätze, die wir im Traum hören oder äußern, können wir nicht darauf befragen, ob sie sinnvoll oder unsinnig sind, ob sie uns tiefe Geheimnisse oder triebhafte Banalitäten offenbaren, ob sie wahr oder falsch sind – denn die semantischen Bedingungen und die grammatischen Formen, die ihre Sinnfälligkeit und ihren Wahrheitsbezug festlegen, sind ebenfalls geträumt und können sich beliebig wie die Tonarten einer bizarren Melodie von Satz zu Satz ändern.

Die verblüffenden Aperçus, die großen Worte: Alles ist Wasser, alles ist Geist, alles ist Materie, alles ist ein Traum, alle Menschen streben nach Wissen, alle Menschen streben nach dem Guten, alle Menschen streben nach Lust, alle Träume sind Chiffren der Wunscherfüllung, jedes Gedicht ist der Ausdruck eines seelischen Gehalts, jedes mentale Ereignis ist ein physisches Ereignis, jeder Satz ist das Bild einer Tatsache – tritt man heran und fühlt ihnen den Puls, merkt man, daß es tote Worte sind.

Wir können da und dort Hypothesen machen und die Wissenschaftler und Theoretiker fragen lassen, wie viele Teilchen und Ereignisse welchen Typs in einem Klumpen Materie stecken, ob der Mond aus Käse besteht oder Viren Pflanzen sind, ob es Einhörner auf einem fernen Planeten oder nur im Märchen gibt; aber über Dinge, die für unser Leben von Bedeutung sind, meint Wittgenstein, sind alle Theorien verlorene Liebesmüh.

Denn was spielt es für eine Rolle, wenn wir wähnen, wir seien eine Knetmasse in der Hand eines demiurgischen Gottes oder Fallobst vom Baum im Garten Eden, wir stammten vom Affen ab oder seien die Mißgeburt eines Engels und eines Dämons, Mose habe uns unverbrüchliche moralische Vorschriften auf steinernen Tafeln aus lichten Höhen herabgebracht oder Nietzsche habe sie mit dem Hammer zerschlagen? Solange wir im einen wie im anderen Falle Größe und Anstand genug haben und unseren Freund mit einem Lächeln begrüßen, alles daransetzen, unser Versprechen zu halten und denen, die wir lieben, Worte und Taten der Liebe zu bezeigen, derer uns entledigen, die wider uns und die Unseren Übles im Schilde führen, von unserem Gut und unseren Gütern vertreiben, die dort ernten wollen, ohne geackert und gesät zu haben,  wenn wir gestrauchelt sind, nicht wehleidig den Vorbeiziehenden aus dem Graben nachwinken, sondern uns wiederaufraffen und weitergehen, und wenn wir denn liegen bleiben müssen, unser Haupt mit einem Tuch aus Asche und Schweigen verhüllen, uns bemühen, unsere Überzeugungen, Wünsche, Gefühle und Absichten möglichst verständlich mitzuteilen und plausibel zu begründen, den Tunichtgut tadeln oder mißachten, der die Pickel seiner Untätigkeit oder seiner Untaten mit pastoralen Phrasen schminkt, genauso wie den seichten Schwadroneur, der das Loch seiner Ignoranz mit poetischem Plunder stopft, denjenigen ehren, dessen Worte vom Schweiß seiner Mühen oder den Tränen seiner einsamen Nächte künden, und in der Stunde der Dämmerung dem Traumspiel der Dichter und Musiker lauschen.

 

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