Skip to content

Wittgensteins Sinnbilder VIII – die verzauberten Hände

03.04.2019

Norman Malcolm erwähnt in seinem Erinnerungsbuch einen Kommentar Wittgensteins zu einem der „Gemeinplätze“ oder einfachen Aussagen, mit denen der Philosoph und ältere Freund Wittgensteins George E. Moore den Alltagsverstand oder Common Sense glaubte gegen den radikalen Zweifel an aller Gewißheit von Seiten der skeptischen Philosophen verteidigen zu können. Moore nämlich pflegte während seiner Vorlesungen eine Hand ins Licht zu halten und den Spruch zu tun: „Ich weiß, daß dies eine Hand ist!“ Oder schlicht zu äußern: „Ich weiß, daß ich zwei Hände habe.“ Wittgenstein habe darauf aufmerksam gemacht, daß wir vom Vorhandensein einer Hand oder unserer Hände nicht in der gleichen Weise etwas wissen wie von gewöhnlichen Erfahrungstatsachen. So müssen wir nicht nachschauen und sie zählen, um uns der Tatsache gewiß zu sein, daß wir zwei Hände haben oder daß wir eine Hand krümmen. Andererseits ließe sich eine Lebensform exotischer Wesen denken, in deren Lebenszyklus ihnen Hände wachsen, die dann wieder verschwinden, dann erneut nachwachsen – zwei und mehr. Bei ihnen wäre die Äußerung, einer wisse, daß er zwei Hände habe, bisweilen sinnvoll am Platze und nicht so wie von Moore ohne Sinn verwendet.

Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 114

Manchmal genügt es, etwas auszusprechen, um was man sagt, zu rechtfertigen, wie daß mir dies wehttut oder daß es an diesem Ort unserer kleinen Wanderung schön ist. Ich muß die Tatsache, daß ich Schmerz empfinde, nicht nachweisen, um dir klarzumachen, daß du mich hier nicht drücken sollst. Ich brauche nicht umständlich auf das schöne Wetter und die blühende Wiese zu verweisen, um dir gegenüber meine Ansicht zu erhärten, daß es mir hier gefällt.

Doch wenn ich ein bekannter Fall von „Noli me tangere“ und ein „Rühr mich nicht an“-Mädchen bin, darfst du ruhig, wenn ich in den Fernseher glotze, nochmals drücken und könntest feststellen, daß ich nicht mal Piep sage. Oder wenn es aus Eimern schüttet, kannst du dich wohl verwundern, was mit mir los es, daß ich es hier schön finde.

Wenn kleine Kinder das bekannte Spiel spielen, wobei sie abwechselnd die Hände auf die des Vorgängers klatschen, könnte ein Kind „Aua!“ rufen, weil es ein anderes zu hart geklatscht habe; und darauf ein Kind sagen: „Das ist (doch) meine Hand!“

Das Kind fragt nicht, warum die Rose rot ist, aber wohl, ob dies da ein Kamel oder ein Dromedar ist, denn es hat wieder vergessen, daß Dromedare einen Höcker, Kamele deren zwei haben. Hat es den Unterschied von Kamel und Dromedar gelernt, wird es vor dem jüngeren Geschwister, das sie verwechselt, angeben und sagen: „Ich weiß, das ist ein Kamel!“

Doch zu sagen, daß etwas einem wehtut oder daß die Rose rot ist, stellt keine Mitteilung einer Erfahrung oder eines Wissens dar, sondern bezeugt den normalen Sprachgebrauch.

Wir können uns im Bereich des Wissens irren und das Kamel mit dem Dromedar verwechseln, nicht aber im sprachlichen Ausdruck unserer Empfindungen und Gefühle (wenn wir unserer Muttersprache mächtig sind), sodaß wir etwa den Roteindruck mit dem Grüneindruck oder die Schmerzempfindung mit einer angenehmen Empfindung verwechseln würden.

Wir wissen, ob wir stehen oder liegen, gehen oder laufen, wir brauchen nicht nachschauen, wo unsere Hände oder Füße oder Knie sind, wir müssen uns normalerweise nicht zwicken, um festzustellen daß wir wach sind und nicht träumen, und wir gebrauchen den Ausdruck metaphorisch, wenn wir erstaunt beim Anblick eines lang nicht gesehenen Freundes ausrufen: „Ich träume wohl!“

Wären wir Würmer, die böse Buben durchhacken und deren überlebender Teil dann doch munter weiterkriecht, könnte ich dich wohl fragen. „Bin ich nicht halb so lang wie gestern?“ Und wären wir exotische Tiere, deren Gliedmaßen schrumpfen und in beliebiger Anzahl wieder hervorsprießen, würde ich einmal wieder nachsehen und ausrufen: „Sieh einer an, ich habe zwei Hände!“

Aber daß es uns absurd anmutet, wenn einer ausruft, und sei er ein mit allen Wassern gewaschener Philosoph wie Moore, er habe zwei Hände, deutet darauf hin, daß es hier um eine Angelegenheit geht, die so basal wie trivial ist, ähnlich der Tatsache, daß die Erde älter ist als wir selbst. Dies wiederum drückt sich in der Absurdität der Feststellung aus, die Erde existiere seit fünf Minuten, obwohl sie die wahre Implikation der wahren Feststellung ist, daß die Erde einige Milliarden Jahre alt ist.

Wir können keinen strengen Beweis dafür finden, daß wir nicht träumen, oder einen untrüglichen Nachweis dafür, daß uns kein Dämon foppt, indem er uns eine Welt von Bäumen, Tieren, Wolken und Menschen vorgaukelt. Aber wir können Vernunft insofern walten lassen, daß wir annehmen, nicht zu träumen, wenn wir von Träumen reden und uns unsere Träume erzählen, oder eher eine Täuschung annehmen, wenn wir mit der Hand durch den Baum vor uns fahren wie durch Rauch, als eine Täuschung, wenn wir den Baum vor Augen haben.

Wir mögen uns plötzlich an den Bernstein erinnern, den wir im Traum am Strand fanden und einsteckten, doch suchen wir vergebens in der Hosentasche nach ihm. Dagegen finden wir in der Hosentasche einen Bernstein, von dem wir uns nicht erinnern, an welchem Strand wir ihn aufgerafft haben.

Lebten wir in einer Art Traumwelt, in der sich unsere Hände (und Füße) abwechselnd in Flossen, schwarze Mücken in bunte Schmetterlinge und Menschen in Tiere verwandelten, hätten wir keine Sprache entwickelt, jedenfalls nicht die Sprache, die wir sprechen. Denn wie es scheint, gehört zu unseren Lebensbedingungen wie eine gewisse Konstanz der Dingwahrnehmung so eine gewisse Konstanz der sprachlichen Bedeutung.

Moore glaubte zu wissen oder mit letzter Gewißheit annehmen zu können, daß er zwei Hände habe. Aber wir können trotz des Gefühls der Gewißheit fälschlich zu wissen glauben, dort gehe Peter, wenn es sein Zwillingsbruder Hans ist. Doch daß wir zwei Hände haben, setzen wir stets stillschweigend voraus, unabhängig von irgendeinem Gefühl der Gewißheit.

Nach Wittgenstein sind Annahmen wie die über die Anzahl und Lage unserer Gliedmaßen oder die materielle Existenz des Baums vor unseren Augen keine Formen des Wissens, weil wir ihre Infragestellung nicht zulassen. Sie ähneln seiner Ansicht nach den logisch-mathematischen Annahmen, die das Koordinatennetz unserer Orientierung beim Rechnen und Schlußfolgern bilden: Wir rechnen mit ihnen, sie selbst berechnen wir nicht; wir führen mit ihnen Beweise durch, sie selbst beweisen wir mittels Schlüssen nicht.

Würde unser Taschenrechner bei einfachen Aufgaben immer wieder verschiedene Ergebnisse ausspucken, würden wir nicht an unserem Verstand oder der Geltung der Rechenregeln zweifeln, sondern wüßten, das Ding ist kaputt.

In der Traumwelt dagegen müßten wir wohl die unterschiedlichsten, einander widersprechenden Ergebnisse ein und derselben Berechnung als gleichwertig hinnehmen, weil sich in ihr die Rechenregeln ständig ändern könnten.

Es ist bizarr, in dem Sinne zu sagen, man sei ein Mensch, wie man sagt, der dort gehe, sei unser Freund Peter. Unter welchen Umständen, fragt Wittgenstein, wäre es denn sinnvoll, solches zu sagen. Nur unter sehr bizarren, wie in einer Welt, in der neben uns ein künstlicher Klon unserer selbst auftauchen und sein Anrecht auf unsere Frau, unsere Kinder, unser Eigentum und unseren Arbeitsplatz einklagen würde.

Wenn demnach das Prädikat „Mensch“ genausowenig eine bloß empirische Angabe ist wie die Anzahl unserer Hände und Gliedmaßen oder das Einmaleins, so ist es deshalb doch keine metaphysische Schweinsblase, dazu ausersehen, sie mit allem zu füllen, was trunken macht, die Blicke trüb und die Augen glasig, ob mit dem Sekt des Ideals, der Kinderlimonade aus Wolkenkuckucksheim oder der schon ranzig gewordenen Milch der frommen Denkungsart.

Wir können nicht sinnvoll fragen, warum die Rose Rose heißt, genausowenig, warum wir als dieselben erwachen, als die wir eingeschlafen sind. Der Rotzlöffel, der die Benennung der Dinge anzweifelt oder verweigert, kann nur wieder durch den Tanz mit dem Rohrstock zur Räson gebracht werden oder er geht den krummen Gang in den Morast. Dem Lehrer freilich, der den Zweifel am Ding, am Wort und an einem selbst als pädagogische Maxime exerziert, gehört das Fell über die Ohren gezogen, auf daß er die Schüler nicht mit zügellosen Phrasen in ihr Unglück schwadroniere.

Die Muster oder Strukturen der Ordnung unseres Denkens müssen wir hinnehmen und ihnen blind vertrauen, nicht weil sie uns wie die metaphysischen Ideen Platons in einer inspirierten Schau offenbart worden wären oder wie die transzendentalen Formen und Funktionen der Erfahrung bei Kant aus einem allgemeinen Gesetz abgeleitet werden könnten – sondern weil wir sind, wie wir sind. Punctum saliens. In diesen Mustern und Strukturen offenbart sich weder ein göttliches Geheimnis noch das Wesen des Menschen, des Lebens oder des Universums. Sie sind schlicht da, seltsame Fakten, die jenes Fatale unseres Daseins ausmachen, das uns allmorgendlich beim Erwachen wie eine verliebte Katze anschnurrt, wenn wir uns selbst wieder über die Schulter schauen.

Wenn wir uns dem Fatum unterwerfen oder in den Spuren der Ordnung von Sprache und „Maß, Zahl und Gewicht“ (wie es das Buch der Bücher nennt) wie Schlafwandler wandeln, sind wir glücklich oder wenigstens nicht unglücklich; wenn wir uns ständig sagen: „Was habe ich mit alledem zu schaffen?“ oder: „Das hat alles nicht Hand noch Fuß“ oder: „Der Boden, auf dem wir gehen, klingt hohl“, dann wohl eher nicht. Glücklich in diesem Sinne gleichsam quietistischer Ergebenheit war allerdings Wittgenstein nicht, freilich auch nicht unglücklich, weil er sich solch törichte Fragen gestellt hätte.

 

Comments are closed.

Top