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Wittgensteins Sinnbilder XX – die steifen Knie

15.04.2019

Ich kann nicht niederknien, zu beten, weil gleichsam meine Knie steif sind. Ich fürchte mich vor der Auflösung (vor meiner Auflösung), wenn ich weich würde.

Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Band 8, Frankfurt, 1984, S. 529

 

Schneekristalle, diese reinen und scheinbar starren geometrischen Strukturen, schmelzen unter dem Einströmen des Sonnenlichts und fließen, ein weiches Wasser, dahin.

Wenn wir annehmen, daß jene Sonne, deren Strahlen die Steifheit und Starre der menschlichen Seele in gefrorenem Zustand zu schmelzen fähig ist, die Gnade oder der Atem Gottes ist, können wir aus diesem Sinnbild die Tatsache entnehmen, daß sich Wittgenstein ihrer nicht teilhaftig wußte?

Doch wenn einer frierend im Dunkel liegt und sich daran erinnert, wie wohl es tut, wenn die Strahlen der Sonne die starren Glieder wärmen und gleichsam auftauen, setzt diese Sehnsucht oder dieses Wunschbild voraus, daß er um die Sonne weiß, ihre wohltätige Wirkung einmal schon verspürt haben muß.

Die Seele, die wie erfroren im Dunkeln liegt, gleicht dem erstarrten, scheinbar toten Käfer, den wir mit warmen Atemhauch anblasen, und er beginnt sich langsam, zögernd wieder zu regen.

Die Schneekristalle sind gefrorenes Wasser und wenn sie unter Sonneneinwirkung schmelzen, wechseln sie den Aggregatzustand und werden flüssig.

Die Auflösung, die Wittgenstein befürchtet, wenn er weich würde, scheint darauf hinzudeuten, daß sie nicht bloß einen Wechsel des Aggregatzustandes der Seele zur Folge haben würde.

Als würde er sich verlieren, die Familienähnlichkeit mit den Wittgensteins, den Philosophen, den sprechenden Menschen verlieren.

Würde die Seele sich gänzlich auflösen, ihrer Identität beraubt, zerschmelzen, völlig umgewandelt werden?

Wenn wir uns der Kindertage erinnern, ist es wie mit den niedlichen Schühchen, die wir damals trugen: Wir sind ihnen entwachsen, passen nicht mehr hinein, und es scheint uns unerfindlich, es empfinden, nachempfinden zu wollen, wer wir damals waren. Als hätte sich jene Gestalt eines kleinen Jungen mit seinen Murmeln, Kieselsteinen und kleinen Muscheln in der Tasche in die Schatten des Gartens aufgelöst, in die er sich in der großen Sommerhitze gern geflüchtet hat.

Wir könnten auch sagen, die steifen Knie sind die harten Kristalle der Metaphysik und Logik, die in der Sonne des Alltags nicht schmelzen – dürfen. Es sind die Trugbilder und Begriffschimären des Tractatus logico-philosophicus, Gegenstand, Name, Elementarsatz, Sachverhalt, die doch der Philosoph, der hier die Angst vor der Auflösung beschwört, schon in den Fluß des Lebens geworfen hat. – Doch wie Bojen tauchen sie wieder auf, wie Treibgut werden sie wieder an den Strand gespült.

Das Niederknien in der Sprache ist das kindliche Lallen des Gebets.

Im Gebet ergibt sich der kindlich weich gewordene Sinn dem alles gebenden, alles vergebenden Du.

Der Beter spricht nicht im eigenen Namen, nicht Worte eigenen Sinns, sondern Worte, die er gehört hat und hört.

Das Niederfallen des Betenden ist das Umkehrbild des Fallens in den Wahnsinn.

Deshalb wirkt das Niederfallen des Betenden auf denjenigen, der sich im Eigensinn seiner Individualität und seiner Behauptung versteift, verstörend, provozierend oder schlicht verrückt.

Die Angst vor der Auflösung ist der Angst Wittgensteins vor dem Wahnsinn verwandt.

Der biedere Bürgersinn des Psychologen und Psychoanalytikers sieht in der Geste des Niederkniens nur das Zerrbild der Unterwerfung, die infantile Proskynese vor der Imago der väterlichen Autorität und Allmacht.

Wir gewahren die Angst vor der Auflösung auch in der urtümlichen Angst vor der Dämmerung, der Nacht, ja vor dem Schlaf – und genauso ihre Umkehrung: in den Sinnbildern der Dämmerung, der Nacht und des Schlafs die Verheißung der Erfüllung oder die erfüllte Sehnsucht, ins Grenzenlose zu gehen, dem Ursprung sich anheimzugeben, in Gottes liebender Hand sich zu bergen.

Daß Wittgenstein nicht niederknien konnte, um zu beten, ist kein Zeichen oder Eingeständnis seiner religiösen Lauheit oder Sündenverstocktheit, denn es könnte auch ein Eingeständnis reumütiger Zerknirschung sein; ja sogar das Eingeständnis, nicht niederknien zu können, obwohl man es will oder sich bloß vorstellt, es zu tun, ist eine Art von Frömmigkeit.

Die Selbstanklage, sich vor dem Geliebten nicht niederknien oder hinsinken zu können, ist ein Zeichen und Eingeständnis der Liebe und zugleich ein Zeichen und Eingeständnis der Unfähigkeit zur Liebe.

Freilich, man kann auch gleichsam mit steifen Knien niederknien, wenn man es mechanisch nach dem Glockenschlag oder auf Zuruf, zur Wahrung des äußeren Scheins, zur Befriedigung des rituellen Egoismus veranstaltet.

Der Hofknicks oder aufs Knie gehen, um Hochwürden den Ring zu küssen, diese Gesten können als rein rituelles Gebaren ohne innere Beteiligung, ja mit Widerwillen vollzogen werden.

Andererseits kann einer, ohne äußerlich an Haltung einzubüßen, dem Gegenüber verfallen und ergeben sein.

Denken wir an den Fischer in Goethes wunderbarem Lied, dem durch den betörenden Gesang der Nixe das Herz vor Sehnsucht schwoll: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin.“

Gewiß, das letzte Fallen und Hinsinken geschieht uns, ob mit steifen oder weichen Knien – oder macht es einen Unterschied, ob wir widerstrebend wie der Panische, der auf dem schlüpfrigen Abhang sich an ein paar Grashalmen vergebens festzuklammern sucht, unweigerlich in die Tiefe gezogen werden oder wie die zarte, schon bereite Blüte vom Anhauch hinweggepflückt ins Dunkel trudeln?

Oder wir sinken, unmerklich hinschmelzend wie in einem dunklen Kuß, über die Schwelle, ein leiser Wellenschlag, gehoben, in das ewige Licht.

Die Geste des Niedersinkens, des Hinschwindens und Sichverzehrens vor dem Höheren oder dem Bild der Liebe vermag dem Menschen den äußersten Grad an Tiefe, Anmut und Schönheit zu verleihen, wie wir es in der Dichtung Goethes oder der Musik Mozarts und Schuberts finden.

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

Goethe, Selige Sehnsucht

 

Carl Friedrich Zelter, Selige Sehnsucht:
https://www.youtube.com/watch?v=eQTARoBuPcM

Othmar Schoeck, Selige Sehnsucht:
https://www.youtube.com/watch?v=NvAx-ibfvJY

Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem, Lux aeterna:
https://www.youtube.com/watch?v=DSXDW_vJIWo

Franz Schubert, Der Fischer:
https://www.youtube.com/watch?v=zNYDtgoKaow

Franz Schubert, Du bist die Ruh:
https://www.youtube.com/watch?v=xTqX_9zm-B0

 

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