Wittgensteins Sinnbilder XVII – das treue Hündchen
Gibt es über die Echtheit des Gefühlsausdrucks ein „fachmännisches“ Urteil? – Es gibt auch da Menschen mit „besserem“ und Menschen mit „schlechterem“ Urteil.
Aus dem Urteil des besseren Menschenkenners werden, im allgemeinen, richtigere Prognosen hervorgehen.
Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja, mancher kann sie erlernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch „Erfahrung“. – Kann ein anderer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. – So schaut hier das „Lernen“ und das „Lehren“ aus. – Was man erlernt, ist keine Technik, man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln.
Ein Hund kann nicht heucheln, aber er kann auch nicht aufrichtig sein.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil II, XI
Was wir einen unschuldigen Ausdruck oder Blick nennen, was Rousseau und die Romantik als Wahrhaftigkeit und Naivität der schönen, von der Zivilisation unverdorbenen Seele ersehnt, gestaltet, gefeiert haben, ist ein Trugbild, das den Schatten alles Trügerischen, der uns heimsucht, verwischt, überblendet, vergißt.
Eine gestische, mimische oder verbale Äußerung, ein Wink, ein Lächeln oder ein Zuruf nehmen wir meist für bare Münze und fahren gut damit oder haben Glück, wenn uns der Betreffende nicht auf Abwege leitet, gleisnerisch verführt oder tückisch umschmeichelt.
Doch wir können nicht auf Dauer so tun, als wären menschliche Äußerungen nicht mit dem Schatten der Zweideutigkeit behaftet, wollen wir nicht Gefahr laufen, betrogen zu werden oder uns selbst zu betrügen.
Die wissenschaftliche Psychologie geht darauf aus, einen eindeutigen Bezug zwischen gestischer, mimischer und verbaler Äußerung und ihrer physiologischen oder psychologischen Ursache herzuleiten – und bleibt damit im Vorraum oder auf der Schwelle des Raumes, in dem wir uns tatsächlich befinden: des Raumes, der durchwebt und verschattet ist vom grammatischen Netzwerk psychologischer Begriffe.
Die Hunde Pawlows, auf die Wahrnehmung des Klingeltons konditioniert, haben stets unzweideutig mit Speichelfluß reagiert. Der Behaviorismus stolperte unbesehen in diese Falle, wenn er menschliches Verhalten ohne weiteres als trainiertes und konditioniertes Handeln mißdeutet – von der deterministischen Einfalt der neurowissenschaftlichen Psychologie zu schweigen.
Menschen können anders als Hunde Affektion, Zuneigung, Liebe mit Blicken, Gesten, Worten heucheln, und diese Möglichkeit ist das Tor zum Verständnis dafür, daß ungeheuchelte, unverstellte Zuneigung bei Menschen etwas anderes darstellt als das Schwanzwedeln und freudige Springen des Hundes, wenn sein Herrchen nach Hause kommt.
Das treue weibliche Gemüt, das unreif und abhängig sich an den älteren Mann hängt, ihm wie ein Hund überallhin folgt und nur ruhig schläft, wenn es wie sein treues Hündchen neben ihm ruht, können wir nicht den Freund oder die Freundin des Mannes nennen, weil ihm die Möglichkeit der Freundschaft mangelt, denn die Möglichkeit der Freundschaft impliziert die Möglichkeit der Feindschaft, die Möglichkeit der Treue die Möglichkeit des Verrats.
Wir nennen daher den Hund nur in einem übertragenen, metaphorischen Sinn einen treuen Freund.
Gewiß, die Schmerzäußerung des kleinen Kindes ist echt und unverstellt; doch wir lernen mit der Zeit, so zu tun, als plagte uns Weh und Schmerz, als seien wir elend und traurig, um die Aufmerksamkeit und das Entgegenkommen unserer Umwelt zu beschwören, zu erzwingen; ja, wir können die Verstellung so weit treiben, daß unser kindliches Gesicht mit der Maske der Trauer, des Kummers, des Mutterseelenalleinseins verschmilzt.
Wir können bekanntlich auch so tun, als seien wir gelassen, unbekümmert, heiter, und in Wahrheit sind wir verzagt, voll Trauer und Bekümmernis.
Bei der Möglichkeit der Verstellung als eines Spiegelbilds des echten, ungekünstelten Ausdrucks handelt es sich um eine grammatisch-logische Möglichkeit, ähnlich jener, sich beim Rechnen verrechnen zu können – denn könnten wir uns nicht verrechnen, würden wir die Aufgabe wie ein Roboter lösen, und wenn wir sie nicht lösten, würden wir uns nicht verrechnen, sondern zeigten einen Defekt.
So auch haben wir die Möglichkeit der Lüge; sie ist nicht die Unwahrheit, die wir aufgrund einer getrübten Wahrnehmung oder löchrigen Empfindung daherschwatzen, sondern das Resultat gesteigerter Wahrnehmung und geschärfter Empfindung – für die Schwäche des Belogenen.
Die Kassiererin im Supermarkt, der Arbeitskollege, ja selbst der Mensch, der Tisch und Bett mit einem teilt, sie glauben dem Anschein oder haften unbedacht oder eigensüchtig an der dargebotenen Maske und gekonnten Schauspielerei, während der Menschenkenner sich nicht blenden läßt und in die verborgenen Falten des Herzens zu blicken vermag.
Den Hund loben wir, wenn er Männchen macht, und belohnen sein Kunststückchen mit einem Leckerli, als hätte er es mit Bravour absolviert. Aber dem Pianisten spenden wir Beifall, weil seine Darbietung gegen den Widerstand des Erlahmens und Absinkens ins Fade, Hohle und Ausdruckslose errungen worden ist.
Der Hund kann nicht heucheln, wenn er Pfötchen gibt; anders als der Gast oder Kollege, der uns die Hand widerwillig und aus Höflichkeit reicht. So daß wir resigniert, aber nüchtern und vernünftig sagen müssen, eine gewisse Gewandtheit der Verstellung, ja eine Kunst der Heuchelei bei der Erfüllung gesellschaftlicher Konventionen können dem harmonischen Zusammenleben gute Dienste tun.
Lügt, wer, im Innersten traurig und öde, sagt, ihm sei wohl, um seinen Gast nicht zu verstören, verstellt sich, wer, vom Gram um den Verlust eines geliebten Menschen zernagt, an der Jubiläumsfeier für einen Freund teilnimmt, heuchelt, wer, unglücklich von Natur, lächelt und den Heiteren mimt, um seine Liebste nicht zu betrüben?
Der echte, ungekünstelte Ausdruck einer anmutigen Gebärde und die ausdrucksvolle Wiedergabe eines Liedes und Musikstücks oder die schmucklose Zeichnung japanischer Holzschnitte – sie sind es, die uns bewegen und in uns den ästhetischen Eindruck sowohl der Könnerschaft und Meisterschaft als auch des Lebendigen, Frischen, Schönen hervorrufen.
Was der Menschenkenner im menschlichen Umgang, ist der Kunstkenner auf dem Gebiet der Kunstkritik. Beide müssen das Echte vom Unechten, das Geflunker des Schöntuns und der Nachäfferei vom lebendigen Ausdruck des Lebendigen sondern und unterscheiden können.
Und das, wie Wittgenstein betont, ohne Anwendung eines vorgefertigten Regelsystems allgemeiner Normen und verbindlicher Kriterien – Erfahrung macht den Meister, der sich gar sehr vom psychologischen Kannegießer wie vom ästhetischen Beckmesser unterscheidet.
Die Kunst, ohne noch so geschickte oder gescheite Anwendung hausbackener Rezepte und Regeln den Geist, das Fluidum, den wahren Duft eines Kunstwerks, einer Sonate, eines Gedichts zu wittern, bedarf der am Feuerstein der Erfahrung entzündeten Intuition.
Es genügt nicht die Gescheitheit und technische Gewitztheit, die mißt und zählt und die Spanne ihrer biederen Hand an das Außergewöhnliche anlegt:
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf — Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille —
und hört im Herzen auf zu sein.
„Aha, hier setzen wir den Rotstift an, das Metrum ist unvollständig!“ Aber Rilke hat den letzten Takt im abschließenden Vers des Gedichts „Der Panther“ bewußt ausgelassen, um den ästhetischen Eindruck der Monotonie und Trostlosigkeit der edlen Kreatur im leeren Nachhall des fehlenden Versfußes umso beredter zu beschwören.
Können wir es lernen? Das hieße fragen, ob wir in rechter Weise fühlen, hören, sehen lernen können. Wittgenstein meint, ja. Doch brauchen wir die Lehrer. Wenden wir uns an sie! An wen? Nun, an Goethe, an Mozart, an Wittgenstein.
Was der Kenner zu beurteilen hat, sind oftmals Imponderabilien des Gefühls, des Ausdrucks, Nuancen der Farbverteilung. Sind die homerischen Epitheta bloße rhetorische Versatzstücke, nichtssagende poetische Erinnerungskrücken oder rhythmisch-sinnträchtig eingeschmolzen in den Vers? Ist die nur als Wink und Geste notierte Kadenz für das Soloinstrument eines barocken Konzerts eine tönende Girlande oder die vom genialen Interpreten improvisierte geistreiche Quintessenz des musikalischen Satzes?
Ist dies kaum entzifferbare Gekritzel auf dem Papyrus ein echtes Fragment der Sappho oder dieses Gemälde ein echter Leonardo oder Rubens? Die reiche Erfahrung des Altphilologen und des Kunsthistorikers und Sammlers kann das Unwägbare zur entscheidungsreifen Evidenz verdichten.
Freilich, wer vermöchte durch den schmalen Schlitz schalkhaft blitzender oder bösartig verkniffener Augen dort unten, verschüttet im Morast aus Gram, Trauer und Groll, die kleine weiße Perle zu erkennen?
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