Wittgensteins Sinnbilder XVI – das kalte Wort
Esperanto. Das Gefühl des Ekels, wenn wir ein erfundenes Wort mit erfundenen Ableitungssilben aussprechen. Das Wort ist kalt, hat keine Assoziationen und spielt doch „Sprache“. Ein bloß geschriebenes Zeichensystem würde uns nicht so anekeln.
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, datiert 1946
Esperanto ist eine am grünen Tisch ausgetüftelte sogenannte Weltsprache, ein Gemenge vor allem aus Versatzstücken romanischer Sprachstämme, von seinem Erfinder der sündigen, in babylonischer Sprachnacht umherirrenden Menschheit als moralisches Vademecum überreicht, mit dem sie sich auf den kahlen Höhen über allen Grenzen nationalsprachlicher Borniertheit in den Schlummer des Gerechten schwätzen soll.
Lieber den Krieg als diesen geistlosen Schlaf.
Wenn wir nach und nach unsere lebendigen Glieder, Sitten und Sprachen, durch Prothesen ersetzen, werden wir zu spirituellen Monstren.
Wer würde, wenn jemand seine Träume oder Geschichten nach den Schemata der Traumbücher oder Poetiken zusammenklaubte und bastelte, seinen Traumerzählungen lauschen, seine Novellen mit Genuß lesen?
Nur das heiße Wort, ausgeworfen aus dem Schlund der Erde, mag es sengen oder singen, ist echt.
Die lebendige Sprache haben wir nicht gemacht, nicht erfunden, und das sprachliche Werk, das uns nicht kalt läßt, ist kein Machwerk.
Wir können wie Wittgenstein künstliche Sprachspiele erfinden, doch sind sie wie Lackmuspapier, das wir in die Lösung der natürlichen Sprache tauchen, um ihren chemischen Gehalt zu prüfen.
Sprachspiele erfinden heißt nicht Sprache spielen.
Das erfundene Sprachspiel muß sich, in das Wasser der natürlichen Sprache getunkt, verfärben, sonst taugt es nicht.
Der Kreole, der sein Pidgin daherstottert, ist echter als der Politiker, der sein Papierdeutsch drischt.
Dichtung oder aufgesprossener Bambus im Schlamm, der vom Wind geschüttelt kaum die Strahlen des Mondlichts durchschimmern läßt.
Das Geschwätz von der universellen Verständigung verschleiert die Tatsache, daß es die Mätresse des wüsten Verlangens ist, das urtümliche Dickicht, dessen Schatten uns wärmen, mit der Sichel des Begriffs zu roden.
Die Dummheit und Indezenz der unter den Achseln des Instinkts ausrasierten und deodorierten Aufklärung hörte in den eucharistischen Einweihungsworten ein „Hokuspokus“, die Übersetzung ihrer Ohnmacht, sich in Brot und Wein oder im Fleisch der Sprache zu inkarnieren.
Heute wollen alle Maulhelden Esperanto reden, aber in ihrer eigenen Muttersprache.
Sie übersetzen alles in das anämische Esperanto ihres Jargons, nicht ohne bei dieser Operation den lebenden Organismus ausbluten zu lassen.
Die strahlende Schönheit der Rose ist ein dunkles Geheimnis.
Der Blinde gewahrt es eher an ihrem Duft.
Die geistigen Adepten des moralischen Esperantos verwüsten die Erde, die Völker, die Sprachen, indem sie den Fortschritt vorantreiben und den Weltfrieden herstellen.
Die Assoziationen der Wörter sind die Wurzelsprossen, die unterhalb ihres sichtbaren Wuchses im Dunkel der Erde wuchern.
Damals wurde den Pimpfen das Lateinpauken mit der Oberlehrerpredigt schmackhaft gemacht, die Sprache eines Caesar und Cicero schule das klare Denken und sei ein glänzendes Palladium wider den barbarischen Schnack und Zinnober ungewaschener Dörfler. Dann kamen die bunten Schatten der Aeneis, dann endlich die schroffen Klippen der Taciteischen Annalen, an denen sich die ewige Brandung des aufgeschäumten Sprachmeeres brach.
Der Jargon äfft die Sprache nach, doch wie ein heiserer Eunuch kann er nicht zeugen.
Wir haben nur noch den kargen Schatten, den die wuchtigen Menhire werfen.
Heute erfinden sie die Sprache, das Geschlecht, die Gemeinschaft, den Menschen ohne Herkunft, Rasse und Volk; und nur wenige als geisteskrank verschriene, blasse alte Männer mit überempfindlichen Nasen wenden sich voller Ekel ab, um sich zu erbrechen.
Kommt die Grammatik aus dem Dunkel des Lebens, sprießt dort auch die Logik wie die Knollen im Keller.
Kappen wir die unterirdischen Fasern der Worte, ihre Assoziationen, ab, reden wir wie mit abgeschnittenen Zungen.
Der Einspruch gegen Kant war Hamann, der Einspruch gegen Hegel war Kierkegaard, der Einspruch gegen den ganzen Rest ist Wittgenstein.
Goethe, Nietzsche, Wittgenstein bilden eine Linie, doch bei letzterem verzweigt sie sich und läuft unterirdisch weiter, ohne noch wieder ans Tageslicht getreten zu sein.
Goethe und Nietzsche haben aus den blauen Sehnsuchtsbuchten des Südmeers den heiteren Schaum des Daseins geschöpft. Wittgenstein setzte immer wieder die Muschel des Wohllauts, Mozart, Haydn, Beethoven, Mendelssohn, Schubert, Brahms, Bruckner und Labor, ans Ohr, zum Zeugnis, jederzeit das Denken in Sinnen verwandeln zu können.
Tun, was einen nicht schon morgen gereut, wovor Kenner heimischer Blüten und exotischer Aromen ihre idiosynkratische Nase nicht rümpfen – eine strenge Ethik.
Erst ist es öde und langweilig, immer wieder dieselben Tonleitern üben, immer wieder die kleine Sonate durchspielen – bis sie eines Tages lebendig wird und singt.
Das, was Wittgenstein das Ewige nennt, Goethe das Vollkommene, Nietzsche das Glück, muß nah sein, wie das Katzengold auf abgetretenen Pfaden zwischen dem Kies und Schotter des Vergänglichen, Unvollkommenen, Geringen hervorblitzen.
Die Geschwulst unserer sprachlich-geistigen Verwirrung wuchert im Dunkeln weiter, auch wenn wir die weiße Plane eines keimfreien künstlichen Idioms darüberbreiten.
Sinnbilder, gleich Früchten, die in der Nacht auf die Erde prallen, und wir, unter dem Baum längst eingedöst, schrecken auf.
Zivilisation oder die Verödung des Gefühls, wenn der Kuß der Muse als infantiler Wunschrest verlacht wird.
Der Ingenieur, der die Hoffnung auf die Konstruktion der idealen Sprache in den Wind schlug.
Philosophische Systeme, aus ein paar Stichwörtern, ein paar griffigen Bildern herausgesponnen, sind wie die kalt gewordene Suppe, die man ungern wieder aufwärmt.
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