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Wittgensteins Sinnbilder XV – der Filmprojektor

10.04.2019

In seinen Erinnerungen an Gespräche mit Ludwig Wittgenstein berichtet O. K. Bouwsma von einer Unterredung über das kartesische „Ego cogito“. Der Philosoph erläutert den Gedanken mithilfe eines Bildes, das ihm schon früh, wohl während seiner Gespräche mit Gottlob Frege in Göttingen, in den Sinn kam:

I always think of it as like the cinema. You see before you the picture on the screen, but behind you is the operator, and he has a roll here on this side from which he is winding and another on that side into which he is winding. The present is the picture which is before the light, but the future is still on this roll to pass, and the past is on that roll. It’s gone through already. Now imagine that there is only the present. There is no future roll, and no past roll. And now further imagine what language there could be in such a situation. One could just gape: This!

Ich sehe die Sache ähnlich der Situation im Kino. Du siehst vor dir das Bild auf der Leinwand, doch hinter dir steht der Filmvorführer, und er hat eine Filmrolle auf dieser Seite, die er abspult, und eine andere auf jener Seite, in die er hineinspult. Die Gegenwart ist das Bild vor der Lichtquelle, aber die Zukunft befindet sich noch auf der Rolle, die abgespult wird, und die Vergangenheit befindet sich auf der anderen Rolle. Sie ist bereits durchgelaufen. Nun stelle dir vor, es gebe nur die Gegenwart. Es gibt keine Filmrolle für die Zukunft und keine für die Vergangenheit. Und stell dir ferner vor, was man in einer solchen Situation sagen könnte. Man könnte nur gaffen (und ausrufen): Da!

Quelle: O. K. Bouwsma, Wittgenstein, Conversations 1949–1951, Indianapolis, Indiana 1986, S.12

 

Mit der leisen Geste dieser schlichten Worte und dieses prägnanten Bildes fegt Wittgenstein ein jahrhundealtes Philosophengerede vom „Ich denke“, vom „denkenden Ich“, vom „Bewußtsein“, vom „Bewußtsein des Bewußtseins“ und vom „Selbstbewußtsein“ vom massiven Eichentisch des klaren und sinnvollen Sprechens hinweg.

Wittgenstein fragt, wie man dazu komme, gedanklich und sprachlich die Rede vom Cogito zu isolieren, das heißt von dem unserem Erleben innewohnenden Bezugsrahmen der Zeit abzuspalten: Das meint das Bild von den beiden Filmrollen, der oberen, die sinnbildlich die Zukunft oder die kommenden Ereignisse enthält, und der unteren, in der die abgelaufene Zeit sinnbildlich abgespult worden ist. (Wir befinden uns im Zeitalter der frühen Kinematoskopie, in der ein Filmvorführer die großen Filmrollen vor einer starken Lichtquelle die eine in die andere mittels Kurbeln abspulte.)

Die obere „Filmrolle der Zukunft“, die noch nicht abgespult ist, enthält sinnbildlich alles, wovon ich sagen kann, daß ich es beabsichtige, wünsche, vorhabe, alles, was ich zu tun gewillt oder geneigt bin, weil ich es mir vorgenommen, verabredet, mich dazu verpflichtet oder es versprochen habe.

Die untere „Filmrolle der Vergangenheit“, die schon abgespult ist, enthält sinnbildlich alles, wovon ich sagen kann, daß ich mich daran erinnere, es wahrgenommen, erlebt, erfahren, mir gemerkt oder gelernt habe; dazu gehört natürlich auch alles, was ich vergessen habe, das heißt alles, woran ich mich im Moment nicht erinnere, das mir aber bei Gelegenheit wieder einfallen und in den Sinn kommen kann; ebenso natürlich all die Namen, Wörter und ihre grammatisch sinnvollen (und sinnwidrigen) Verbindungen, die ich in der Schule gelernt, gehört und selbst geäußert habe.

Wir müssen daher zum Verständnis keinen „objektiven“ oder „intersubjektiven“ Zeitbegriff einführen, wenn es sich um unsere Absichten, Willensimpulse, Pläne, Wünsche und Versprechen handelt, sondern greifen auf die einfachen Sprachhandlungen zurück, mit denen wir diese zum Ausdruck bringen können.

Wir müssen zum Verständnis ebensowenig einen „objektiven“ oder „intersubjektiven“ Zeitbegriff einführen, wenn es sich um die Dimension der Vergangenheit handelt, sondern gehen einfach auf jene Sprachhandlungen zurück, die unsere Erinnerungen und vergangenen Wahrnehmungen, Erlebnisse und Sprachhandlungen zum Ausdruck bringen können.

Wenn wir das Bild, das im gegenwärtigen Augenblick von der Lichtquelle beleuchtet und auf die Leinwand projiziert wird, isolieren, das heißt den Film anhalten, kommen wir zur absurden und irrealen Situation, in der Philosophen wie Descartes vom „Cogito“, wie Kant vom „Ich denke“ oder der „reinen Apperzeption“, wie Husserl vom „reinen Bewußtsein“, Sartre vom „transzendentalen Ego“ und vom „Bewußtsein des Bewußtseins“ oder wie andere Philosophen von der „Selbstrepräsentation oder Selbstreflexion eines Subjekts“ reden.

Wir können das Sinnbild Wittgensteins auch so interpretieren, daß wir die permanent leuchtende Lichtquelle als „Quelle des Bewußtseins“ und den sich abspulenden Film als „Strom des Bewußtseins“ verstehen. Wenn wir nun den Film anhalten und den Fokus auf den gegenwärtigen Augenblick ausrichten, versiegt gleichsam der Bewußtseinsstrom und die kleine Insel einer schwachen und stummen Empfindung des eigenen Daseins scheint übrigzubleiben und wie ein Atoll aus dem Meer der Gezeiten aufzuragen.

Wenn wir die obere und untere Filmrolle, also die Virtualität meines Erlebens und die Faktizität des von mir Erlebten, anhalten, aus dem Verkehr ziehen oder nach Art der phänomenologischen Epoché ausklammern, werden alle möglichen und alle geschehenen Erlebnisinhalte und all jene Äußerungen, in denen ich sie zum Ausdruck bringen kann, irrelevant und irreal; dies ist eben die Situation radikaler Infragestellung und Bezweiflung meiner Möglichkeiten, über das Wahrnehmbare und das Wahrgenommene sinnvolle Aussagen zu machen, die sich als prinzipielle philosophische Skepsis äußert.

Wäre ich solcherart auf den schmalen Ausschnitt und den zeitlich unausgedehnten Punkt des Augenblicks zu starren verurteilt, könnte ich nicht einmal, wie Descartes annimmt, zu träumen glauben; denn um zu verstehen, was Träume sind, muß ich geträumt haben und einmal aus einem Traum aufgewacht sein, um mich an ihn zu erinnern oder ihn jemandem zu erzählen.

Wer auf diese Weise dazu verurteilt ist, gebannt auf das Augenblicksbild seines angehaltenen Bewußtseinsstromes zu gaffen, ist nicht nur der Zeitdimensionen seines Erlebens beraubt; und kann sie auch nicht nachträglich aus dem „Nunc stans“ des „Ich denke“ zurückgewinnen oder rekonstruieren. Er ist auch der Sprache und all ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beraubt; und kann sie auch nicht nachträglich aus dem stummen Moment der reinen Gegenwart zurückgewinnen. Ihm bliebe nur ein nichtssagender Ausruf wie „Sieh an!“ oder ein deiktisch ohnmächtiges „Da!“, das an die hilflose Geste des Kratylos im gleichnamigen Dialog Platons erinnert.

Wir können sagen: „Ich denke daran, etwas zu tun; ich denke gern an die Ferienzeit zurück; ich dachte, es sei Peter, aber es war Hans.“ Wir können sagen: „Mir kam der Gedanke, sie mit einem Geschenk zu überraschen; der Gedanke, sie nochmals anzurufen erschien mir sinnlos; in dieser angespannten Lage war nicht daran zu denken, eine Pause einzulegen.“ Wir können sagen: „Ich denke nicht daran, ihm den Gefallen zu tun; ich denke nicht, daß man diese Aufgabe mit Zirkel und Lineal lösen kann; ich ging ganz gedankenverloren vor mich hin; ich denke, es ist Zeit, Abschied zu nehmen.“

Aber wir können sinnvollerweise nicht schlicht und ohne weiteres sagen: „Ich denke.“

Wir können nicht alle möglichen und geschehenen Wahrnehmungen und all die Äußerungen, mit denen wir sie zum Ausdruck bringen, dadurch infrage stellen und ihre Geltung bezweifeln, daß wir unsicher und skeptisch gesinnt alle indikativischen Äußerungen mit Möglichkeitskringeln unterschlängeln und mit Fragwürdigkeitsgesten aus den Angeln heben und immerfort nur sagen: „Dort scheint Peter zu gehen“, „Aus dem Radio scheint eine Sonate von Mozart zu erklingen“, „Die Rose scheint rot zu sein“, „Dieser Fuß scheint mein Fuß zu sein“ oder „Die Erde scheint älter zu sein als meine Katze.“

Denn wenn dort Peter zu gehen scheint, könnte es sich herausstellen, daß es in Wahrheit nicht Peter, sondern Hans ist; doch von Hans könnten wir dann nicht sagen, er scheine dort zu gehen. Wenn es auch wie Mozart klingt, ist es vielleicht Mendelssohn; und wenn es Mendelssohn ist, können wir nicht sagen, es scheine Mendelssohn zu sein. Wenn die Rose rot scheint, ist sie ganz einfach, was wir rot nennen. „Hör mal, das ist mein Fuß, auf den du getreten bist!“ Doch schien es nur mein Fuß zu sein, brauchst du dich nicht bei mir zu entschuldigen. „Wo hat die Mutter das Kätzchen geboren, bevor es die Erde gab?” Denn wäre die Erde nicht älter als meine Katze, wäre sie nicht geboren worden.

Ebensowenig wie wir den sprachlichen Ausdruck „Ich denke“ aus unserem Bezugsrahmen ausschneiden können, ohne daß er sinnlos wird, können wir die sprachlichen Wendungen „scheinen“ oder „es scheint“ gleichsam auf die ganze Oberfläche unseres Bezugsrahmens verteilen, ohne daß sie sinnlos werden.

Wir können sagen: „Ich bin mir bewußt, daß mein Verhalten töricht war; ich war mir in diesem Moment der Folgen meines Schrittes nicht bewußt; als der Notarzt eintraf, war er schon wieder bei Bewußtsein.“ Wir sagen auch: „Ich habe die Tür in vollem Bewußtsein vor ihrer Nase zugeschlagen; wir können ihm aufgrund einer alkoholbedingten Trübung des Bewußtseins sein Vergehen nicht als absichtsvolle Handlung zuschreiben.“ Oder wir sagen: „Mit geschwellten Brust und voller Selbstbewußtsein ging er in den Ring; um sich ohne Manuskript ans Rednerpult zu wagen, mangelte es ihm an Selbstbewußtsein.“

Aber wir können sinnvollerweise nicht schlicht und ohne weiteres sagen: „Peter hat Bewußtsein“ oder: „Weil Hans Bewußtsein hat, müssen wir ihm auch Selbstbewußtsein zuschreiben.“

Ein Wort sagen, ohne es in einen Rahmen möglicher oder geschehener Äußerungen einzuordnen, heißt nichts sagen. Ein Wort ist weniger als ein flatus vocis ohne das Netzwerk seiner grammatischen Verknüpfungen.

Wenn wir denken, Peter sei ein Junggeselle, implizieren wir damit, daß er nicht verheiratet ist; wenn wir denken, Peter sei größer als Hans, folgern wir daraus, daß Hans kleiner als Peter ist; ja sogar, wenn es uns scheint, daß sich die Erde um die Sonne dreht, folgern wir daraus, daß sich der Mond anscheinend um die Sonne dreht; wenn wir denken oder es uns scheint, Peter habe uns das Geld zu spät zurückgegeben, implizieren wir damit, daß Peter uns versprochen hat, das Geld zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzugeben, und daß er diesen Zeitpunkt überschritten habe.

Wir können demnach die normale Anwendung des sprachlichen Ausdrucks „denken“ auf konsistente oder schlüssige Weise mit der Anwendung von sprachlichen Ausdrücken verknüpfen, die uns und anderen vor Augen führen, was aus demjenigen folgt oder was dasjenige impliziert, was wir gedacht und gesagt haben.

Ich kann daran denken spazierenzugehen, aber tue es nicht, ich kann glauben, mich an einen Ferienort zu erinnern, aber bin nie dort gewesen, ich kann denken, ich sei von Gott und der Welt verlassen und ein Freund ruft an, ich kann denken , ich sei Napoleon und bin es nicht.

Der normalen und alltagsprachlichen Anwendung des Ausdrucks „denken“ können wir keine konsistente oder schlüssige Weise der Anwendung der sprachlichen Ausdrücke für die Existenz, das Geschehensein oder Dasein von Dingen und Ereignissen, entnehmen.

Wir können sagen: „Es gibt immer eine Primzahl, die größer ist als die gegebene“, „Es gibt nirgends Bier auf Hawaii“, „Parmenides zweifelte an der Existenz irrationaler Zahlen“, „Gibt es noch etwas zu essen?“, „Was uns grün erscheint, kann nichts sein, was uns zugleich blau erscheint.“ Dagegen ist es sinnlos, in einem absoluten, uneingeschränkten Sinne zu sagen: „Es gibt immer eine Primzahl“, „Es gibt nirgends Bier“, „Parmenides zweifelte an der Existenz“, „Gibt es noch etwas?“, „Was uns grün erscheint, kann nichts sein.“

Von Existenz können wir nur sprechen, wenn wir einen bestimmten Bezugsrahmen als Maßstab oder Vergleichsgröße zugrundelegen.

Ich sage nicht: „Ich bin hier“, wenn ich irgendwo nachgeschaut hätte, beispielsweise im Ablauf innerer (Film-)Bilder meines Bewußtseins, irgendwelcher Vorstellungen oder Repräsentationen. Denn dort läuft kein Bild durch den Projektor, das wie mein Selbstporträt aussieht und unter dem ein Etikett mit meinem Namen klebt. Und wenn es vorkäme und ich es mittels Innenschau oder haarscharfer Reflexion aufspießen würde, woher sollte ich wissen, wer gemeint ist?

Ich rufe sinnigerweise „Ich bin hier!“, wenn du mich im anderen Zimmer suchst, wo ich gerade nicht bin.

Wir können sprachliche Ausdrücke wie „existieren“, „Existenz“, „es gibt“ oder „da und dort sein“ nicht ohne Verwendung eines grammatischen Koordinatensystems verwenden, in dem ihr Gebrauch gleichsam den nötigen Halt findet, ohne den sie im luftleeren Raum oder in einem bedeutungslosen Vakuum schweben.

Wir können sinnvollerweise weder sagen: „Ich denke“ noch: „Ich existiere.“

Freilich, völlig sinnlos und absurd ist ihre scheinbar logische Verknüpfung in der bekannten Wendung: „Ich denke. (Also:) Ich existiere.“

Wir erwarten hoffentlich nicht, in einer Bibliothek eines philosophischen Seminars den Teilnehmer einer Veranstaltung über Descartes, Kant oder Husserl in jener Pose erstarrt zu finden, wie sie die greuliche Plastik von Rodin zeigt, und der auf unsere besorgte Frage, was mit ihm los sei, antwortet, er denke.

Freilich, wenn ich ungescheut vor dir mit den öden Neuigkeiten über diese und jene Weltkatastrophe und Hungersnot herausplatze und du aus dem Fenster schaust, wirst du vielleicht unwillig den Kopf schütteln und vor dich hinmurmeln: „Jetzt nicht, ich denke nach!“

Wir sagen: „Mir ist übel“, „Es traf mich wie der Blitz, sie wiederzusehen“, „Mir schwindelte, als ich an den Rand der Klippe trat“, „Ich war von der heiteren Atmosphäre dieses Sommerabends wie benommen“, „Ihr zärtliches Zutrauen löste mir die Zunge“ und viele Dinge dieser Art, die eine ursprüngliche Gestimmtheit oder ein unwillkürliches Betroffensein ausdrücken.

In solchen sprachlichen Wendungen erfassen wir das, was die Philosophen etwas umständlich vorreflexives Bewußtsein nennen; es ist unmittelbar an unsere Leiblichkeit gebunden und drückt kein Wissen aus, ähnlich dem Umstand, daß wir ohne nachgeschaut oder nachgezählt zu haben die Lage unserer Gliedmaßen kennen und uns darüber nicht im Unklaren sind und uns davon nicht überzeugen müssen, daß wir (im Normalfall) zwei Hände, Arme, Füße haben.

 

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