Skip to content

Wittgensteins Sinnbilder XIV – der unverdauliche Brocken

09.04.2019

Der Philosoph Wittgenstein war ein mäßiger Esser und heikler Verkoster. Üppigen Festgelagen, die den Teilnehmern den Schweiß auf die Stirn und Tränen in die Augen treiben und die Zunge schwer machen, abhold, war er nichts weniger als ein rabelaisscher Zecher vor dem Herrn. Von der Frau seines amerikanischen Gastgebers O. K. Bouwsma, die eine rustikale Küche pflog, ließ er sich gerne mit Rohkost, Apfelmus, Schweizer Käse und Schwarzbrot bewirten. Auf eine Klage seines Freundes Rudolf Koder hin, der wie Wittgenstein Volksschullehrer in der österreichischen Provinz war und mit ihm die Neigung für die Wiener Klassik teilte, ihm komme die Beschäftigung mit Mathematik wie ein Zeitvertreib vor, gleich der Lektüre eines unterhaltsamen Buches oder dem Hören eines netten Musikstückes, schrieb er ihm in einem Brief folgende Zeilen:

Ich glaube, Dein Mißtrauen gegen das Mathematikstudium zu verstehen. Es kommt Dir wie eine bloße Dekoration des Lebens vor und Du hast recht, wenn Du das verurteilst. Denn auch das Lesen eines Buches und das Anhören eines Musikstückes sollen keine Dekoration des Lebens, sondern Nahrungsmittel sein, mit deren Hilfe man dann selbst wieder Arbeit leistet. Es darf nichts ein bloßes Essen von Süßigkeiten sein.

Quelle: Wittgenstein und die Musik, Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, Innsbruck, Wien 2014, S. 30

 

Was der gotische Zierrat aus Sahne und Zucker auf einer Wiener Torte oder der ins Vage und Maßlose sich schlängelnde und überquellende Gipsdekor des Jugendstiles, war für Wittgenstein der Kitsch im Fühlen und Denken.

Kitsch oder Talmi, ähnlich den täuschend echt aussehenden bunten Sushi-Speisen in der Auslage eines japanischen Restaurants.

Daß der Brocken einer philosophischen Frage sich nicht ganz verdauen läßt, entlarvt das Problem als Schein-Problem.

Wenn da noch Fettklumpen und halbgare Innereien auf dem Teller der Sprache zurückbleiben, die der gesunde Appetit nicht anrührt, wird einem die Rückkehr ins Schweigen vergällt.

Die vitalen menschlichen Instinkte für Ordnung und Sauberkeit entstammen der Küche.

Lange bevor der Naturkundler und der Philosoph darangehen, die Dinge nach hervorstechenden Eigenschaften zu ordnen und zu klassifizieren, sortiert der Mensch die Pflanzen, Früchte, Beeren, Kräuter und Tiere nach den Kriterien des Eßbaren und Ungenießbaren, des Gesunden und Verderblichen, des Nahrhaften und Giftigen, des Schmackhaften und Ekelerregenden.

Roh und gekocht, halbgar und gar, durchgebraten und blutig, fett und mager – diese und viele andere Merkmale der Kochkunst lassen sich in aufschlußreicher Weise auch auf die Zubereitung der Gedanken und die Art und Weise, wie wir sie sprachlich anrichten, übertragen.

Das Kind, zum ersten Mal im Gasthaus, sieht eine Tomatenscheibe auf einem schäbigen Salatblatt am Tellerrand und fragt den Vater: „Kann man das mitessen?“ – Wittgensteins Sprachideal ließ am Rand keinen zweideutigen Dekor dieser Art zu, der eine solche Frage hätte aufkommen lassen.

Wären die Sätze Wittgensteins eßbar, wären sie Schnitten von Graubrot oder Schwarzbrot; der Unsinnssinn dieser philosophischen Sätze erschlösse sich darin, daß der Teller, ratzekahl leergegessen, am Ende wieder sauber blinkte. Was dann noch bliebe: Schweigen.

Wittgenstein reicht, damit sie besser rutschen, nüchternes Quellwasser zu seinen Sätzen. Bei anderen geht es nur mit reichlich Bier oder einem kräftigen Magenbitter hinterdrein.

Unsere Elementarempfindungen statten ihre Bewährungsprobe in der Küche ab; Nase, Gaumen und Zunge geben uns Kunde von allem, was gut oder schlecht riecht, gesund oder krank, lecker oder eklig. So sagen wir auch nicht: „Sie mögen sich gern sehen“, sondern: „Sie mögen einander gern riechen.“

Unsere Albträume rühren von unserer Unfähigkeit, wiederkäuen zu können.

Seelische Krankheiten sind Folgen schlechter seelischer Verdauung.

Es gibt den produktiven Menschen und den Schmarotzer. – Freilich, manchmal hausen sie auf groteske oder tragikomische Weise in derselben Wohnung, ja im selben Körper.

Die erste Wahrheit ist das Licht der Sonne, die zweite die Milch der Brust.

Die Ungestillten: der Schmarotzer, der Phantast, der Schwätzer.

Die einen, die am Leben nur zaghaft wie an einem Salatblättchen knabbern, die anderen, die ihren Wolfsrachen aufsperren.

Verschlingen: der Modus der großen Politik, Provinzen, Völker, Staaten. Doch manches legt sich quer im Magen des Leviathans, so die Juden im Magen Roms, die Serben im Magen Habsburgs. Er speit es wütend wieder aus.

Die Küche ist der Ursprungsort kultureller Diskriminierung. Leviticus.

Am Herd wird das Brot geteilt und das Wort. Wer das Brot entweiht, entweiht auch das Wort.

Sachertorte oder Graubrot – eine ästhetisch-ethische Alternative wie zwischen Gustav Klimt, der Wittgensteins Schwester Margarete gemalt hat, und Egon Schiele, Heimito von Doderer und Kafka, der Strudlhofstiege und dem Haus, das Wittgenstein für seine Schwester in der Kundmanngasse erbaute.

Mit dem, was der Philosoph eigentlich sagen wollte, übertönt vom Rascheln von tausend vollgeschriebenen Papieren, ist es ähnlich wie mit dem Hungerkünstler Kafkas, der hungert, weil er die Speise nicht fand, die ihm gemundet hätte.

Er schrieb und schrieb, stapelte Papiere um Papiere, verschloß sie ängstlich in einem Safe, ähnlich den panisch Gestimmten, die in der Vorratskammer die Speisen anhäufen.

Vom Wesentlichen hat es keine Worte, meint der Philosoph. Ist dies Manna nicht vom Himmel gefallen? Und jenes Brot und jener Wein, der als Inkarnation des Worts geglaubt wird?

Aber in dieser Welt, sagte er, jüdisch gesinnt, offenbart Gott sich nicht.

Weil ihm für die teure Überfahrt nach Amerika (mit der damaligen „Queen Mary“) das Geld ausging, kündigte er seinen Gastgebern an, er werde wohl bei ihnen schmarotzen müssen. Haltung des Vornehmen: nur ernten, was man selbst gesät hat.

Nur ernten, was man selbst gesät hat. Doch die Frucht muß von selber reifen, Strahl und Regen sind Boten des Glücks. Also warten, sich gedulden, bevor die Sichel in der Sonne blitzt.

Ihm erschienen das vorgestern Gesagte, das gestern Geschriebene wie ein Leichnam, der eben noch vom warmen Laib abgebrockte Krumen verdorrt, ein Stein.

Der da hingeht und brockt vom hart gewordenen Brot ab für die Schwäne.

In der Asketenstube im Trinity College, wo er sich selbst anklagte, den Zuhörern nichts Nahrhaftes geben zu können.

Oder wo ihm schwante, was sie aus seinen Brosamen zusammenbüken, ließen sie mit der Hefe des Jargons aufquellen.

Ordnung des Lebens, errichtet um die Zubereitung des Mahls, um die Auswahl und Gliederung der Worte, die man dabei spricht, der Lieder, die man dabei singt.

Das einsame Essen, das einsame Schreiben, als er in Irland fernab von Ansiedlungen lebt, die Malcolms schicken manchmal Pakete mit guten Sachen aus Amerika, ein alter Mann bringt morgens die Milch und den Torf, mit dem er den Ofen heizt.

Das nahrhafte Schwarzbrot des schlichten Worts, das nährt, den Süßigkeiten vorziehen, die köstlich munden, aber den Magen verderben.

Die Limonade des Feuilletons oder das Quellwasser des Gedichts.

Zunächst delektierte sich der Gott am Opferblut; dann kamen die Propheten und er ward versöhnt durch den Wohlgeruch des Gebets.

Die Zeitung lesen, um nicht selbst was denken zu müssen; einen Bonbon lutschen, um den Hunger zu überbrücken.

Sich im Spiegel zuzwinkern oder Grimassen schneiden; sich unterhalten, als wäre man gar nicht da.

Der Gastgeber schenkt noch einmal nach, man stopft es in sich hinein, um nicht unhöflich zu sein.

Geistig verfettet, von Lektüre überfressen.

Wittgenstein empfahl seine Lehre als Abführmittel.

 

Comments are closed.

Top