Wittgensteins Sinnbilder VI – der Amtsschimmel
Stellen Sie sich vor, es gebe eine Stadt, in der den Polizisten aufgetragen wird, über jeden Einwohner Informationen zu beschaffen, zum Beispiel, wie alt er ist, woher er kommt und was er arbeitet. Von diesen Informationen wird ein Verzeichnis angelegt, das manchmal gebraucht wird. Gelegentlich findet ein Polizist bei der Befragung eines Einwohners heraus, daß dieser überhaupt keine Arbeit leistet. Der Polizist trägt diesen Umstand in sein Verzeichnis ein, weil auch das ein nützliches Stück Information über den Betreffenden ist!
Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 85
Daß etwas nicht der Fall oder ein Ereignis nicht eingetreten ist, kann ich feststellen und wissen und in einem sinnvollen Satz ausdrücken wie: „Er geht keiner regelmäßigen Arbeit nach“ oder: „Obwohl sie es versprochen hatte, kam sie nicht zu unserem Treffpunkt im Park“ oder: „Er hatte die Heizung aufgedreht, doch es wurde ihm nicht wärmer.“
Daß einer nicht arbeitet, einer sich nicht am Treffpunkt eingefunden hat, einem nicht warm wird, dies sind Tatsachen, doch nicht etwas, was wir sehen, erleben, in ein Bild prägen könnten. Wären nur jene Sätze sinnvoll und erlaubt, die uns etwas vorstellen, was wir sehen und erleben oder von dem wir uns ein Bild machen können, wären Sätze der genannten Art sinnlos.
Wäre der Sinn der Sätze in einem Bild faßbar, das wir uns von den Sachen oder der Kombination von Sachen machen können, die sie benennen, wären Sätze der genannten Art ohne Sinn.
Doch wir können jeden Satz negieren, indem wir dem positiven Satz die Floskel voranstellen „Es ist nicht der Fall, daß …“ und den Satz folgen lassen. Doch was sollen wir uns unter dem Ausdruck „Es ist nicht der Fall“ vorstellen?
Weil sie nicht zu ihrem Rendezvous gekommen ist, wurde der Liebhaber traurig. Dinge, die nicht vorhanden sind, können genauso wie vorhandene Dinge beträchtliche Auswirkungen haben. Wäre die Traurigkeit des Liebhabers – oder welche Gemütsbewegung auch immer – stets eine kausale Wirkung des Gegenstands, der sie auslöst, was machte den vergeblich Wartenden traurig?
Die Beobachtung, daß dein Freund keine Miene verzieht, während du ihm von deinem schweren Verlust oder deinem schmerzlichen und verwirrenden Erlebnis erzählst, macht dich bedenklich oder verzagt oder betrübt dich. Du bemerkst also das Nichteintreten einer seelischen Regung auf dem Gesicht eines anderen – und dies löst in dir ein starkes Gefühl aus.
Der negierte Sachverhalt ist kein Schatten des wirklichen.
Der negierte Sachverhalt ist kein Negativ, das wir in der Lösung des Bewußtseins zu einem vollständigen Bild entwickeln könnten.
Die Kausaltheorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke findet ihre Grenze an dem Umstand, daß wir zu jedem Ausdruck und zu jedem Satz eine Negation bilden und auf nichtvorhandene Sachen und Sachverhalte sprachlich und gemütshaft angemessen reagieren können.
Die ideale Beschreibung eines Weltzustandes müßte vollständig sein; doch von dem Weltzustand und der Tatsache, daß du dein Versprechen nicht eingehalten hast und nicht zu unserem Treffen gekommen bist, gibt es keine Beschreibung. Folglich gibt es überhaupt keine ideale Beschreibung.
Die Tatsache, daß du nicht zu unserem Treffen gekommen bist, gleicht nicht einem Bild, das in der Sonne mehr und mehr verblaßte und nun ganz unkenntlich geworden ist.
Die Summe Geldes, die dir fehlt, um die Rechnung zu begleichen, ist nicht wie die Goldtaler im Grimmschen Märchen „Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ im Leib des Esels verborgen und leider hast du das Zauberwort vergessen, auf dessen Zuruf hin der Esel die Taler vorn und hinten auswirft.
Wenn wir den negativen Sachverhalt, der durch die Negation eines Prädikats (nicht rot) oder eines Satzes (Hans hat keine Arbeit) ausgedrückt wird, nicht in ein Bild fassen und nicht beschreiben können, so entzieht er sich auch jedweder Form des unmittelbaren Erlebens. Da nun die Negation all der sinnvollen verneinten Sätze wiederum diese selben Sätze ergibt, dürfen wir folgern: Den Sinn eines sprachlichen Ausdrucks erfassen heißt nicht etwas Bestimmtes erleben. Oder kurz: Bedeutungen sind keine Erlebnisinhalte, wenn auch gewisse Erlebnisse bei ihrer Erfassung und ihrem Ausdruck einherspielen mögen: so wenn der Wartende betrübt oder erleichtert die Nachricht erhält, jener, auf den er gewartet habe, komme nicht.
Auf die Person, die wider Erwarten nicht gekommen ist, können wir nicht zeigen, wie wir auf die Person hinweisen, deren Namen wir unserem Freund mitteilen, wenn sie auf der anderen Straßenseite auftaucht.
Wir zeigen nicht auf das Vorstellungsbild einer abwesenden Person, wenn wir ihren Namen erwähnen.
Auf den Träger des Namens Gottes können gläubige Juden nicht zeigen. Insofern sie sich kein Bild von ihm machen können, ist er ihrer Deixis immer entzogen oder abwesend.
Der Name, dessen Träger verstorben ist, verliert nichts an Bedeutung und Wert wie eine Münze, die aus dem Verkehr gezogen worden ist.
Die Tatsache, daß Sätze, die den Namen einer abwesenden Person enthalten oder einer Person eine Eigenschaft absprechen, nicht den gleichen verifikatorischen Status haben wie Sätze, die den Namen von anwesenden Personen enthalten oder einer Person eine Eigenschaft zusprechen, macht sie nicht sinnlos.
Die Tatsache, daß deine Freundin nicht zum Rendezvous gekommen ist, falsifiziert oder widerlegt nicht deine Erwartung, sie werde kommen. Du hast sie ja zwar umsonst, aber zurecht erwartet.
Er stand jeden Morgen mit seiner Aktentasche an der Haltestelle, um zur Arbeit zu fahren. Eines Tages blieb er aus und du hast einige Zeit vergebens nach ihm Ausschau gehalten. Er ist erkrankt oder hat seine Arbeit verloren, sagst du dir. Es ist nicht so, daß er nun fehlt, als habe die Wirklichkeit, wo er stand und ging, gleichsam ein Loch bekommen.
Was heißt es, wie Wittgenstein sich bisweilen darüber zu verwundern, daß es überhaupt etwas, die Welt, gibt und nicht nichts?
Freilich ist es absurd und sinnlos sich vorzustellen oder zu denken, daß es nichts gäbe.
Wir stoßen mit der absoluten Verneinung an die Grenze des Sagbaren. Denn über ein Weltstück können wir etwas Sinnvolles sagen, aber nichts über den Sinn der Welt überhaupt, über ein Teil unseres Lebens können wir sagen, was es Bedeutsames damit auf sich hat, aber nichts über die Bedeutung unseres Lebens überhaupt.
Wir können den Begriff einer Welt ohne uns nicht verstehen; und wenn wir sie auch als räumliche und zeitliche Expansion modellieren, scheint es uns immer, als würden wir am Ende einer Strecke stehen, die mit dem Urknall oder der Erdentstehung ohne uns beginnt.
Die Einbettung dessen, was wir sagen, in die Struktur unserer Beschreibung gleicht der Einbettung unseres Blicks in unser Gesichtsfeld. Wir können nicht so tun, als würde ein anderer erblicken und beschreiben, was wir sehen.
Wir können nicht sehen, was außerhalb unseres Gesichtsfelds liegt, und ebensowenig, ob das, was aus unserem Gesichtsfeld verschwunden ist, dasselbe ist wie das, was in es eintritt, auch wenn es ersterem wie ein Ei dem anderen gleicht.
Dagegen können wir, was wir in der Hasen-Enten-Kippfigur zuerst als Hase sahen, kurz hernach als Ente sehen und beschreiben. Die eine Sicht und Beschreibung wird nicht unrichtig dadurch, daß sie der zweiten in nichts ähnelt. Es wäre ein überflüssiges metaphysisches Gerede zu sagen, daß DASSELBE uns erst als Hase und dann als Ente erschien.
Freilich, von der Person, die wir lange Zeit morgens an der Haltestelle gesehen haben, können wir sagen, sie sei dieselbe, die nicht mehr zur Arbeit fährt, wenn wir davon ausgehen, daß sie alles tut, was sie immer tat, außer morgens zu Arbeit zu fahren.
Indes, die Person, die jetzt arbeitslos geworden ist, ist nicht dieselbe Person, die bis vor kurzem ihrer Arbeit nachging, in dem Sinne, wie der Abendstern der Morgenstern ist, weil wir wissen, daß wir mit beiden Namen denselben Stern, die Venus, unter verschiedenen Aspekten und Ansichten, am Morgen und am Abend, benennen. Auch wenn der nunmehr Arbeitslose der Person, die früher gearbeitet hat, überaus ähnlich ist.
Die Rose, die nicht rot ist, mag eine Rose sein, die weiß ist; der Mann, der nicht arbeitet, mag ein Mann sein, der faul im Bett liegt. Doch der Stern, der nicht der Morgenstern ist, ist auch nicht der Abendstern; ist Hildegard nicht Johanns Tochter, ist Johann nicht Hildegards Vater, und ist Peter nicht Pauls Freund, ist Paul auch nicht Peters Freund.
Wir unterscheiden demnach die Verneinung als Absprechen einer Eigenschaft wie der Farbe oder der Tätigkeit von der Verneinung einer Relation wie der Identität oder der Freundschaft.
Wenn Johann von seiner Frau geschieden wurde, bleibt Hildegard doch seine Tochter. Wenn Peter arbeitslos wurde, mag Paul doch sein Freund bleiben. Wenn ihr Vater Johann stirbt, bleibt Hildegard doch seine Tochter. Doch wenn Paul stirbt, hat Peter einen Freund verloren.
Hätte Paul sein Versprechen nicht gebrochen, wäre Peter sein Freund geblieben. Wäre Hans nicht arbeitslos geworden, würdest du ihn wie gewohnt morgens an der Haltestelle sehen. Hättest du das Fenster nicht offen gelassen, wären die Blumen nicht im Nachtfrost eingegangen. Die Verneinung in irrealen Bedingungssätzen dient uns dazu, das Faktische (Peter hat die Freundschaft mit Paul beendet; du siehst Hans morgens nicht mehr an der Haltestelle; die Blumen sind im Nachtfrost eingegangen) mittels einer kontrafaktischen Annahme zu erklären (wenn Paul sein Versprechen gehalten hätte; wenn Hans noch seine Arbeit hätte; wenn du das Fenster geschlossen hättest).
Kontrafaktische Annahmen sind aber Hypothesen und somit Erklärungsvorschläge, keine echten Begründungen; denn Peter hätte die Freundschaft mit Paul vielleicht auch beendet, wenn Paul sein Versprechen gehalten hätte; Hans käme auch nicht mehr an die Haltestelle, wenn er nicht arbeitslos, sondern erkrankt oder gar verstorben wäre; die Blumen wären vielleicht auch eingegangen, wenn das Fenster geschlossen worden wäre.
Weder die prädikative Verneinung (Hans ist arbeitslos) noch die relationale Verneinung (Peter ist nicht mehr Pauls Freund) bezieht sich auf ein Objekt in der Welt, auf das wir durch Zeigen hinweisen oder das wir mittels einer Abbildung oder Vorstellung beschreiben können. Auch wenn sich die mit ihnen gebildeten Aussagen nicht ohne weiteres verifizieren lassen („Sieh mal einer an, Hans kommt nicht mehr zur Haltestelle!“), sind sie doch sinnvoll.
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