Willkommen und Abschied
Das erste Willkommen, die erste Begrüßung, widerfährt dir von der Mutter, sobald sie dich geboren hat. Wie sie dich empfängt, herzlich oder als leidigen Gast und Störenfried aufnimmt, ist dir das Leben gebahnt.
Die erste Begrüßung ist nicht reziprok, denn du bist zu dieser und noch lange Zeit nicht in der Lage, dein Gegenüber als solches wahrzunehmen und zu grüßen. Aber du kannst schon fühlen, wie es dich wahrnimmt, wie es dir zugetan oder abgeneigt ist, wie es dich begrüßt. Wirst du mit Liebe empfangen, schlägt dein Herz ruhig, wenn aber mit Verdruss, Missgunst oder Angst, bleibt es unruhig ein Leben lang.
Wie du begrüßt und ins Leben geleitet wurdest, so wirst auch du widergrüßen und deine Gäste, deine Freunde und deine Lieben bewillkommnen: barsch und unwillig, wenn du ihnen von der Fülle und Heiterkeit des Lebens etwas abmarkten und abschneiden willst, freundlich und gönnend, wenn die Konstellation deiner Geburt günstig und glücklich war.
Einmal aber musst du für immer gehen, einmal Abschied nehmen für immer. Vielleicht mögen in allen Abschieden, die du in deinem Leben erlebt hast oder die dir widerfahren sind, die Auspizien des letzten Abschiedes enthalten und mehr oder weniger stark der letzte Schmerz des letzten Weggangs spürbar gewesen sein. Gewiss in den großen und schweren Abschieden von deinen Eltern, Kindern, Geliebten …
Rituale und sprachliche Wendungen für Bewillkommnung und Verabschiedung müssen zwei in mehr oder weniger großer Spannung zueinander stehende Bedingungen erfüllen: Sie öffnen und schließen den sozialen Raum des Kontakts und der Kommunikation und sie drücken die soziale Distanz oder Nähe der Kommunikanten aus. In patriarchalisch geprägten Kulturen bleibt die Distanz der Geschlechter auch im gemeinsamen Raum der Kommunikation gewahrt, der Mann reicht der Frau unaufgefordert nicht die Hand. Wir pflegen dem Ranghöheren nur dann die Hand zu reichen, wenn er seinerseits zuvor uns die Hand dargeboten hat. Eine gute Kinderstube beweist, wer bei Annäherung eines Gastes vom Stuhl aufsteht oder als Mann nur stehend der Dame die Hand reicht.
Wir beobachten, dass in den alltäglichen Ritualen und Konventionen der Verabschiedung wie in dem unschuldigen Euphemismus der Formel „Auf Wiedersehen“, und dies in vielen Sprachen, die unbequeme oder dunkle, aber stets reale Möglichkeit eines endgültigen Abschieds magisch gebannt zu werden scheint.
Man kann auch umgekehrt sagen: Die Verabschiedungsformeln drücken den Wunsch nach Fortsetzung und Kontinuität der begonnenen oder wiederaufgenommenen Kommunikation aus. Diese ist aufgrund der Fragilität der menschlichen Natur und der Komplexität der sozialen Beziehungen nie völlig sicher und gewiss. Der Tod des Kommunikationspartners ist die extreme Form des Abbruchs des Kontinuums, dessen weniger harte Einschnitte und Unterbrechungen durch Irritation und Entfremdung zustande kommen.
Die Rituale und Formeln des Grüßens und Abschiednehmens sind magischen Ursprungs: Von Anbeginn verspüren Menschen bei der Begegnung mit ihresgleichen geheime Kräfte walten, die sie als freundlich oder feindselig, förderlich oder unheilschwanger deuten. Um Unheil und Feindseligkeit abzuwehren, beschwört man die guten Mächte: Deshalb ist das ursprüngliche Grüßen ein Segnen, wie die rituelle Abwehr des Bösen und Unheilbringenden ein Fluchen. Auch die der christlichen Überlieferung entstammenden Abschiedsformeln „Tschüss!“ oder „Tschö!“ im Norddeutschen, denen bekanntlich „Ade!“ im Süddeutschen entspricht, leiten sich von magischen Verwendungen der Anrufung Gottes ab, wie sie in den romanischen Sprachen in den Formeln „adieu“, „addio“ und adéus“ greifbar sind. Ihre lateinische Grundform „ad Deum“ lässt sich so deuten: „Gottes Segen sei mit dir!“
Der Ursprung der sozialen Nahkommunikation aus der Magie wird ersichtlich aus der biologischen Notwendigkeit des Familien- und Gruppenlebens, die Zugehörigkeit und Wiedererkennbarkeit zu garantieren, die Treue und Zuverlässigkeit der Gruppenmitglieder zu sichern. Man erkennt bekanntlich seinesgleichen am Stallgeruch, menschlich gesprochen an angeborenen und künstlichen Kennzeichen wie Gesicht und Gestalt, Bemalung, Schmuck und Symbol. Erinnert sei daran, dass ursprünglich als Symbole in der Mitte entzweigebrochene Knochen oder Tonscheiben fungierten, deren genaues Zusammenfügen und Zusammenpassen bei der Begegnung die Legitimität der Partner in der anstehenden Kommunikation (zum Beispiel zwischen Vertrags- oder Verhandlungspartnern) sicherstellen sollte.
Den soziale Wert des Grüßens und Gegrüßtwerdens ermisst du aus seinem Verlust: Wenn der Bekannte oder Freund, ein Mensch, der seinen Gruß dir so lange Zeit entbot und dadurch zum Ausdruck brachte, wie nahe er dir stand, dir auf der Straße begegnet und deiner ansichtig geworden betreten unter sich schaut, kannst du daraus schließen, dass er dich aus der Gemeinde seiner Nahkommunikation ausgeschlossen hat. Dir obliegt es, darüber nachzudenken, welche Gründe ihn zu diesem Ausschluss bewogen haben mögen. Was hast du falsch gemacht? Welchen Fauxpas hast du begangen? Haben Neider oder dir unliebsame Zeitgenossen dich bei ihm verleumdet? Liegt dem Ganzen ein Missverständnis zugrunde, das du ausräumen könntest und solltest?
Wiederum sei auf die andere Möglichkeit der Deutung dieser zweideutigen Geste hingewiesen: Jener, der betreten unter sich schaut, wenn er dich auf der Straße trifft, und somit einer Begrüßung ausweicht, kann auch seine eigene soziale Position dir gegenüber revidiert haben und nunmehr sich selbst als unwürdig einstufen, von dir gegrüßt zu werden. Daraus könntest du folgern, dass er etwas angestellt hat, was ihn in seinen Augen dir gegenüber in Misskredit gebracht und diskreditiert hat. Er müsste vor seiner eigenen Türe kehren, um das Feld für eine neue Begegnung zwischen euch in Augenhöhe zu bereinigen.