Wie wir uns im Alltag orientieren
Lassen wir uns nicht durch Fiktionen und Pseudo-Theorien oder fiktive oder Laborsituationen von der Differenziertheit und Feinkörnigkeit der alltäglichen Erfahrung ablenken und um ihre Fülle betrügen!
Wenn wir wissen, dass du einen roten Fleck im rechten oberen Wahrnehmungskreis siehst, werden wir nicht darüber erstaunt sein, dass du keine Schwierigkeiten hast, diese Farbwahrnehmung mit der gleichzeitigen Gestaltwahrnehmung eines kleinen stehenden Männleins zur Informationseinheit zu verknüpfen, die dir sagt: „Achtung, vor dem Zebrastreifen stehen bleiben!“
Wir sehen uns berechtigt, nicht die phänomenale Empfindung und Wahrnehmung, sondern den Handlungskreis zum methodischen Ausgangspunkt unserer Überlegungen über die Art und Weise zu machen, wie wir uns im Alltag orientieren: Die Wahrnehmung und Empfindung erweisen sich als integrales Element des Handlungsbogens, der an einer Zeit- und Ortsstelle seinen Ausgang nimmt, sich über eine gewisse Zeit- und Raumstrecke ausdehnt und an einer anderen Zeit- und Raumstrecke wieder in sich zurückläuft, wenn seine Funktion erfüllt und seine Leistung erbracht ist – oder auch vor der ins Auge gefassten Zielmarke abbricht, ohne seine Funktion erfüllt und seine Leistung erbracht zu haben.
Mittels einer empiristischen Analyse der Empfindungen und einer noch so ausgetüftelten Theorie der Wahrnehmung gelangen wir nicht zum Verständnis der Art und Weise, wie wir uns alltäglich im Leben orientieren. Wenn wir jedoch unsere Empfindungen und Wahrnehmungen gleichsam als Messinstrumente ansehen, mit denen wir die Zeit- und Raumstellen finden und messen, an denen wir unsere Handlungsbögen und Handlungsverläufe ein- und ausklinken, kommen wir weiter.
Auf diese Weise hast du deine Handlungsabsicht, die andere Straßenseite zu erreichen, mittels der Maßgaben der Farbempfindung und Gestaltwahrnehmung des Ampelmännchens verwirklicht. Du hast bei der Rotschaltung angehalten und auf Grün gewartet, um dann über den Zebrastreifen zu gehen. Freilich erfüllt sich deine Absicht, über die Straße zu gehen, nicht in sich selbst: Sie ist wiederum ein integrales Element der höherstufigen Handlungsabsicht, mich im anderen Stadtteil zu besuchen. Die höherstufige Handlungsabsicht kontrolliert etliche andere Handlungsverläufe wie den, die U-Bahn zu benutzen oder an meiner Wohnungstüre zu klingeln.
Die höherstufige Handlungsabsicht deines Besuchs wurde in Gang gesetzt durch die einfache Sprechhandlung, mit der ich dir meine Einladung ausgesprochen habe, und die einfache Sprechhandlung, mit der du meine Einladung angenommen hast. In dieser Form der Verabredung ist freilich ein gewisser Grad der Bekanntschaft und des Vertrautseins vorausgesetzt, denn ohne diese Voraussetzung wäre es nicht opportun, an einer fremden Wohnungstüre zu klingeln oder einen Fremden in die eigene Wohnung zu lassen.
Wenn du mich zum ersten Male besuchst und die Adresse nicht auf Anhieb findest, siehst du dich vielleicht genötigt, einen Passanten nach der Straße zu fragen. Seine freundliche Auskunft dient dir zur weiteren Orientierung. Eine Form der Interaktion mit den sie begleitenden wechselseitig abgestimmten Sprechakten des Fragens und Antwortens, Begrüßens und Verabschiedens wird somit zu einem integralen Element deiner höherstufigen Handlungsabsicht und all der Handlungskreise, mit denen du sie verwirklichst.
Zu deiner Orientierung in der Situation gehört demnach auch eine epistemische Bedingung, welche die Art der kommunikativen Relation zweier Personen beschreibt. Sie impliziert die rechte Einsicht in die Struktur dieser Kommunikation und ist anfällig für Missverständnisse und Irrtümer, insofern du mit der von mir ausgesprochenen Einladung das kommunikative Merkmal der Freundschaft verknüpfen könntest und mir aufgrund dieser Annahme ein Präsent zum ersten Besuch mitzubringen gedenkst, während ich mit der Einladung einen Grad des kommunikativen Werts verbinde, der unterhalb des Merkmals der Freundschaft angesiedelt ist. Ich wäre daher vielleicht peinlich berührt, dich mit dem Geschenk in der Hand begrüßen zu sollen.
Wir wissen um den Nutzen von Karten und Stadtplänen zur Erleichterung der Orientierung in fremder Umgebung, und auch du wirst gut daran tun, einen Stadtplan zu konsultieren, um dir die Wegbahnung zwischen deiner Wohnung und meiner Wohnung zu erleichtern und dir eine Übersicht über die Wegstrecke und ihre Stationen zu verschaffen.
Wir haben allerdings bereits eine andere Form der Benutzung von Karten berührt: die Benutzung von Begriffs-Karten oder mentalen Karten. Denn Begriffe wie Freundschaft und Bekanntschaft sind wie tausend andere Begriffe auf den mentalen Karten unserer begrifflichen Orientierung eingetragen. Bei solchen Begriffen handelt es sich nicht um Namen von Objekten wie den Namen der Straßen, Plätze und Denkmäler auf unseren Stadtplänen, sondern um Bezeichnungen von Beziehungsgrößen: Freundschaft oder Bekanntschaft sind Beziehungsmerkmale der kommunikativen Relationen zwischen Personen und verlaufen auf einem Kontinuum des Mehr oder Weniger, des Größer oder Geringer. Zwischen ihnen gibt es vage Stellen des ebenso kontinuierlichen Übergangs, denn bestimmte Handlungen können den Übergang zwischen dem einen und dem anderen andeuten oder klar markieren: So wenn du mir bei deinem Besuch ein Geschenk mitbringst und damit signalisierst, von der Bekanntschaft zur Freundschaft übergegangen zu sein.
Begriffe auf der mentalen Begriffs-Karte gehorchen bestimmten formalen Regeln, zum Beispiel der Regel der logischen Implikation: Wenn du davon ausgehst, dass wir befreundet sind, müssen wir natürlich davon ausgehen, dass du und ich miteinander bekannt sind. Wenn du voraussetzt, dass wir Freunde sind, implizierst du damit die Annahme, dass wir nicht verfeindet sind. Der positive Begriff impliziert die Negation des kontradiktorisch entgegengesetzten Begriffs. Die Begriffe Freundschaft und Liebe sind eine Teilmenge der Menge der Begriffe für zwischenmenschliche Beziehungen, während die Menge der Begriffe für verwandtschaftliche Beziehungen nicht eo ipso eine Teilmenge der kommunikativen Beziehungen wie Freundschaft und Liebe darstellt – bekanntlich finden sich Aversion und Hass gerade auch zwischen Blutsverwandten.
Manche Begriffe dieser Art unterliegen gleichsam einer doppelten Buchführung: So sind für uns die Begriffe Liebe und Hass Gegensätze, nicht aber die Begriffe Liebe und Eigenliebe oder Egoismus, denn die aufopferungsvolle Liebe der Eltern zu den Nachkommen gilt uns als vorbildlich, auch wenn ihr Gegenstand das eigen Fleisch und Blut ist, die Elternliebe also als Form des Egoismus betrachtet werden kann, ohne dass sie dadurch in ihrem Wert im Mindesten geschmälert würde.
Nur einfältige Sentimentalisten sind ob einer solchen Tatsache enttäuscht und beginnen ihr Lamento über die bösen Gesinnungen der Mitwelt. Es fehlt ihnen die begriffliche Härte und analytische Klarheit um einzusehen, dass ja von echter Liebe nur sinnvoll die Rede sein kann, wenn ein gutes Stück an Egoismus ihr entgegensteht und entgegenarbeitet, dem tapfer sich zu entwinden sie angetreten ist. Welch faules Paradies, lägen wir uns ständig in den Armen!
Im Gegensatz zu den Begriffen, den Gegenstandsbezeichnungen, Prädikaten und Relationen der Wissenschaft sind unsere Alltagsbegriffe weder exakt noch klar definierbar. Wir müssen uns mit unserer Erfahrung, unserem mühsam erlernten Vorwissen und mit ausgesuchten Beispielen begnügen. Deshalb kommen wir immer auch an die Grenzen unserer Orientierung: Du glaubtest, ich hätte dir mit meiner Einladung die Freundschaft angeboten. Aber als du merktest, dass ich das von dir mitgebrachte Präsent ignorierte, warst du nicht nur enttäuscht, sondern offensichtlich desorientiert – dir war in diesem Moment nicht mehr klar, woran du bei mir warst.
Mit unseren Begriffs-Karten verhält es sich wie mit den echten Karten: Wir müssen sie im Lichte unserer Erfahrungen einer ständigen Kontrolle und Prüfung unterziehen und sie nach Maßgabe von vereitelten Hypothesen und vorschnellen, aber bald widerlegten Annahmen revidieren und verbessern. Dass wir unseren Begriff von Freundschaft zu revidieren bereit sein müssen, wenn uns die Erfahrung lehrt, dass darin nicht nur das wechselseitige Vergnügen und die wechselseitige Unterhaltung impliziert sind, sondern dadurch auch das wechselseitige Tragen von Lasten und Ärgernissen gefordert wird, leuchtet unmittelbar ein.
Beschrieben wir unseren Lebensgang als Odyssee, während der wir gehalten sind, sowohl eine Karte der von uns besuchten Gegenden als auch ein Register der wichtigsten Begriffe unserer Erfahrungen anzulegen, könnten wir uns als eifrige, sorgfältige und redliche Biographen bewähren, deren Erzählungen auf mehr oder weniger großes Interesse stießen und je nach dem besonderen Fall und außerordentlichen Schicksal, das dich oder mich in unbekannte Zonen und an ferne Küsten bedeutender Erfahrungen verschlüge, sogar Erstaunen, Verwunderung oder Bewunderung hervorrufen würden.
Du stießest dagegen auf merkliches Befremden, würdest du davon berichten, wie du bei deinem ersten Besuch bei mir zu deinem Schrecken habest feststellen müssen, dass ich die Wohnung mit einem unheimlichen Wesen teile, das statt zweier Augen ein einziges in der Stirnmitte trage und dem ich bei Strafe, von dem riesigen Ungeheuer aufgefressen zu werden, als ein Sklave zu dienen und täglich ein Lamm zu schlachten verpflichtet sei. Solltest du die Geschichte mit Bierernst auftischen, dürften wir nicht lange vor der Annahme zurückschrecken, dass du tatsächlich Überblick und Orientierung gänzlich eingebüßt habest, und stünden nicht an, dich für verrückt zu erklären; solltest du indes das Märchen vom Kyklopen mit einem ironischen Grinsen von dir geben, wüssten wir, dass du schlagartig von den Gattungen der Biographie und Annalistik zur Gattung der fiktiven Erzählung und der phantastischen Novelle übergewechselt bist, nicht ohne es mir in deiner verschmitzten Bosheit heimzahlen zu wollen.
Comments are closed.