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Widerlegung des mentalen Determinismus

08.12.2021

Philosophische Aphorismen

Den Fluch oder den obszönen Ausruf, den der unter dem Tourette-Syndrom Leidende uns entgegenschleudert, nehmen wir nicht für bare Münze, denn wir erachten seine unwillkürlichen Interjektionen nicht für bedeutungsvolle Aussagen. Sie wurden, sagen wir, von einer neuronalen Fehlschaltung im Gehirn des Patienten ausgelöst, aber nicht durch seine Absicht, uns zu beleidigen oder zu beschämen.

Den Fluch und den obszönen Ausdruck, den uns einer entgegenschleudert, dessen Gehirntätigkeit wir als normal oder gesund und den wir nicht als geistesgestört ansehen, nehmen wir dagegen für bare Münze, denn wir erachten sie für bedeutungsvolle Aussagen. Wir fühlen uns durch eine Äußerung unangenehm berührt, beleidigt oder beschämt, wenn wir annehmen, daß der Sprecher mit ihr eine solche Absicht verfolgt, nämlich, uns zu beleidigen oder zu beschämen.

Wie im Falle des Kranken muß es auch im Falle des Gesunden, dessen Äußerung wir ernst nehmen, einen ähnlichen Gehirnvorgang gegeben haben, der bewirkte, daß der Sprecher seine Sprechwerkzeuge auf jene Art und Weise gebraucht hat, die allerdings für uns die Bedeutung einer Beleidigung oder Beschämung hatte. Doch ebensowenig wie dem Feuern der Neuronen im Gehirn des Kranken können wir demjenigen des Gesunden eine semantische Qualität zusprechen.

Von einer Fehlzündung oder Fehlschaltung im Gehirn des Kranken zu sprechen ist freilich eine Façon de parler, denn sie beruht auf einer semantischen Qualifikation des von ihm unwillkürlich Geäußerten, nämlich, daß es die normale Kommunikation unterläuft, während das, was im neuronalen System des Kranken abläuft, rein kausalen Gesetzen gehorcht.

Betrachten wir die Gehirnvorgänge unter dem Elektronenmikroskop oder im Scanner, weist uns nichts darauf hin, ob der eine Vorgang eine nichtssagende Äußerung begleitet, wenn der Kranke einen Fluch und eine Beleidigung ausstößt, oder aber eine sinnvolle Äußerung, zu der wir den Probanden auffordern.

Was immer an grammatisch-semantischen Kriterien gemessen eine bedeutungsvolle von einer nicht bedeutungsvollen Äußerung oder Aussage unterscheidet, der Unterschied kann kein neuronaler oder physischer sein, denn physische Ereignisse haben keine semantischen Eigenschaften, sie laufen diesseits dessen ab, was wir als bedeutungsvoll oder sinnlos, als wahr oder falsch erachten.

Wer die Behauptung aufstellt, alle mentalen Phänomene, also Überzeugungen und demnach auch die sie zum Ausdruck bringenden Behauptungen, seien eine Funktion physischer und näher betrachtet neuronaler Vorgänge und durch diese vollständig determiniert oder sie seien mit physischen und neuronalen Vorgängen identisch, macht keine sinnvolle oder bedeutungsvolle Aussage; seine Behauptung ist inkonsistent, insofern sie sich selbst der semantischen Kraft sinnvoller Äußerungen beraubt. Sie hat somit den semantisch leeren Status dessen, was ein Roboter an syntaktischem Output generieren könnte. Wir werden weder Äußerungen für bare Münze nehmen, von denen wir annehmen, daß ihnen keine bewußten Überzeugungen und Intentionen zugrundeliegen, noch Behauptungen, die implizieren, daß der beliebigen Äußerungen zugesprochene intentionale Gehalt und die ihnen zugrundeliegende Sprecherabsicht für ihr Entstehen irrelevant sind.

Unser Hinweis „Dort geht Freund Peter!“ ist eine bedeutungsvolle Aussage, insbesondere aus dem Grund, weil sie falsch sein könnte, wenn wir uns bei der korrekten Identifikation der Person geirrt haben. Wenn sie falsch ist, wird unsere zugrundliegende Überzeugung oder Meinung, daß dort Peter gehe, unterminiert, während sie durch die Tatsache, daß dort tatsächlich unser Freund Peter geht, bestätigt wird.

Nur Überzeugungen können richtig oder falsch sein, nicht aber physische Ereignisse und neuronale Prozesse; nur Sätze, die eine Überzeugung zum Ausdruck bringen, können grammatisch sinnvoll gebildet und semantisch gehaltvoll sein, nicht aber physische Ereignisse und neuronale Prozesse.

Wenn der Hinweis „Dort geht Freund Peter!“ von einem Roboter generiert würde, der über ein Programm visueller Wiedererkennung mittels Abgleich eingelesener Bilddaten verfügte, betrachteten wir die Äußerung nicht als wahr, auch wenn es sich bei der identifizierten Person tatsächlich um Peter handelt, wie auch umgekehrt nicht als falsch, wenn es sich bei der Person nicht um Peter handelt, denn ihr liegt keine Überzeugung oder Meinung zugrunde, daß diese Person Peter ist. Roboter haben keine Überzeugungen oder Meinungen – und wenn wir Gehirne als Modelle neuronaler Maschinen konzipieren, müssen wir davon ausgehen, daß sie wie alle Maschinen keine Überzeugungen bilden können, deren Äußerung wahr oder falsch sein kann.

Ebensowenig wie wir im Falle des unwillkürlichen Fluchs aus dem Munde des Kranken davon sprechen können, er habe sich im Ton vergriffen, können wir im Falle des Roboters, der uns eine Aussage, die wir als falsch erachten, auftischt, von einem Irrtum oder einer Lüge sprechen; denn wir können weder davon ausgehen, daß er sich irrt, weil er von dem falschen Sachverhalt überzeugt ist, noch daß er lügt, weil er um den wahren Sachverhalt weiß. Maschinen, Roboter und Gehirne, konzipiert als Modelle deterministischer Systeme, können sich weder irren noch lügen – nach dem semantischen Kriterium dessen, was wir Irrtum oder Lüge nennen.

Wenn uns jemand mit dem Hinweis kommt „Dort geht mein Freund, der Staatsminister N. N.“, aber uns gleich um jede Annährung zu vermeiden am Ärmel weiterzieht, können wir davon ausgehen, daß jene Person wohl der Staatsminister N. N., nicht aber sein Freund oder aber weder der ominöse Staatsminister noch sein Freund ist; denn wir wissen um die Renommiersucht unseres Bekannten. In jedem Falle hat er die Verneinung dessen, was jeweils seine Überzeugung ist, geäußert, und also gelogen. Denn lügen können wir nur, wenn wir eine Überzeugung negieren und abstreiten, die wir für wahr erachten.

Neuronale Systeme, deren technisches Modell wir ohne weiteres entwerfen können, sind weder fähig, Überzeugungen von bestehenden oder nicht bestehenden Sachverhalten, also wahre oder unwahre Meinungen zu hegen, noch a fortiori die von ihnen als wahr oder unwahr angenommene Überzeugung als unwahr oder wahr auszugeben und also zu lügen.

Wer die Behauptung aufstellt, Gehirne oder ihre technischen Modelle, Roboter und neuronale Maschinen, könnten wahre oder unwahre Überzeugungen bilden und zum Ausdruck bringen, weiß nicht, was es heißt, Überzeugungen zu haben und aus ihnen wahre oder unwahre Aussagen abzuleiten.

Etwas Wahres oder Falsches zu sagen, heißt nicht, seine Sprechorgane mittels neuronaler Steuerung zu betätigen, sondern zu meinen, was der Satz jeweils sagt, auch wenn seine Verlautbarung nur durch die Betätigung der Sprechorgane und ihre neuronale Steuerung möglich ist.

Ebensowenig wie die Bedeutung eines Satzes durch die Reihe der in ihm enthaltenen Laute bestimmt wird, denn der Satz „Es regnet“ mag je nach Äußerungskontext und Sprecherintention das eine Mal bedeuten „Bleiben wir zu Hause!“, das andere Mal „Nehmen wir den Regenschirm mit!“, ist eine Person durch die Sequenz der in ihrem Gehirn sich abspielenden neuronalen Ereignisse vollständig determiniert.

Peter und Hans, in deren beider Gehirne aufgrund identischer Reize dieselben neuronalen Ereignisse stattfinden, bleiben die uns bekannten unterschiedlichen Personen. Und wenn aufgrund desselben Typs neuronaler Ereignisse Peter mit seiner Äußerung „Es regnet“ meint „Bleiben wir zu Hause“, meint Hans mit derselben Äußerung „Nehmen wir den Regenschirm mit!“

Ebensowenig wie die Linien und Farbflecken eines Bilds mit dem Porträt identisch sind, das wir darauf wahrnehmen, sind die Neuronen und die zwischen ihnen stattfindenden elektrochemischen Signalübertragungen im Gehirn mit der Person identisch, deren Äußerung und Gebaren wir verstehen.

Der Ptolemäer und der Kopernikaner verfügen über dieselbe Struktur visueller Wahrnehmung und ihre Gehirne absolvieren folglich dieselbe Art von neuronaler Informationsverarbeitung, wenn sie den Sonnenaufgang betrachten; doch wenn sie sagen, die Sonne gehe auf, meinen sie etwas sehr Verschiedenes: einmal, daß die Sonne ihren Lauf um die Erde anhebt, das andere Mal, daß sich die rotierende Erdkugel in eine bestimmten Position zu der von ihr umkreisten Sonne begibt. Und wir wissen, daß die eine Meinung mit den kosmischen Tatsachen übereinstimmt, die andere nicht.

Bedeutung und Wahrheit sind keine physischen Eigenschaften von Dingen und Ereignissen, weder von physischen Weltereignissen noch von neuronalen Vorgängen, sondern semantische Eigenschaften von Sätzen und aus Satzsystemen bestehenden Überzeugungen.

Wir verstehen die Bedeutung willkürlicher Körperbewegungen, wenn wir sie als Wirkung einer Absicht verstehen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder einen präferierten Zweck zu verwirklichen; Ziele und Zwecke aber verstehen wir wiederum als Gegenstände von Überzeugungen. So verstehen wir, was einer tut, der eine Musik-CD auflegt, aus seiner Absicht, Musik zu hören; Musik zu hören wiederum verstehen wir als den von der Person präferierten Zweck und als Gegenstand ihrer Überzeugung, die Erlangung dieses Zwecks derjenigen aller anderen möglichen Zwecke in diesem Moment vorzuziehen.

Wir unterstellen die Wahrheit einer Äußerung als Antwort auf unsere Frage, wenn wir sie als Ausdruck der Absicht verstehen, uns eine Tatsache mitzuteilen, beispielsweise, daß der Sprecher gestern unseren Freund Peter gesehen hat; die mitgeteilte Tatsache wiederum verstehen wir als Ausdruck der Überzeugung des Sprechers, nämlich, daß er unseren Freund Peter gestern gesehen habe.

Eine Maschine und ein neuronales System haben, wenn sie uns auf unseren Befehl hin einen informativen Output generieren, weder die Absicht, uns mit einer wahren Mitteilung auf die Sprünge zu helfen oder reinen Wein einzuschenken noch uns gegebenenfalls mit einer trügerischen Nachricht hinters Licht zu führen; wenn sie uns infolge einer Fehlprogrammierung unzutreffende Informationen oder Datensalat liefern, geschieht es nicht, weil sie wer weiß was im Schilde führen.

Wir können Absichten zumeist aus der unmittelbaren Beobachtung von willkürlichen Körperbewegungen erschließen, doch nicht immer die ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen. Wir sehen jemandes Absicht, seine Freundin zu überraschen, verwirklicht, wenn er ihr einen üppigen Blumenstrauß überreicht; doch wir können dieser Geste nicht unmittelbar entnehmen, ob er glaubt, er könne sie auf diese Weise erfreuen, beeindrucken oder nach einer vorausgegangenen Verstimmung versöhnen.

Wäre jemandes Absicht, seine Freundin am nächsten Tag mit einem Blumenstrauß zu überraschen, vollständig von seinen vergangenen Erlebnissen und den gegenwärtigen neuronalen Vorgängen in seinem Gehirn determiniert, wäre sie für das, was er am nächsten Tag tut, nämlich einen Blumenstrauß zu erstehen und sich auf den Weg zu seiner Freundin zu machen, gänzlich ohne Belang. Wenn er aber nicht anders handeln konnte, als er handelte, weil sein Handeln vollständig determiniert war, verliert, was er tut, jeglichen Sinn; sein Geschenk wäre kein Geschenk, denn wir können schenken nur, was wir dem anderen auch hätten vorenthalten können.

Wenn wir, was wie äußern, wie der unter dem Tourette-Syndrom Leidende äußern müssen, sagen wir nichts.

Wir können nur etwas Sinnvolles sagen, wenn wir auch hätten schweigen können.

Der Determinist muß Behauptungen aufstellen, die er seiner eigenen Theorie gemäß, daß alle mentalen Ereignisse physische Ereignisse und also vollständig determiniert sind, nicht durch Argumente stützen kann, die mittels logisch korrekter Folgerungen gebildet worden sind.

Wenn wir beobachtet haben, daß immer dann, wenn es regnet, die Straßen naß werden, folgern wir aus der Beobachtung des Regens, daß die Straßen nun naß werden. Die logische Folgerung scheint uns wohl zwingend, aber der logische Zwang ist keine physische Notwendigkeit; und wir können falsche Schlüsse ziehen, wenn wir aus der Tatsache, daß die Straße naß ist, folgern, daß es geregnet hat.

Das logisch wohlgeformte Argument ist ein untrügliches Kennzeichen und einzigartiges Werkzeug der menschlichen Vernunft, mit dem wir aus wahren Aussagen weitere wahre Aussagen oder aus empirisch gut gestützten Vermutungen Folgerungen ableiten können, deren Wahrscheinlichkeitsgrad wir bemessen können.

Wir können uns irren und unwahre Aussagen bilden; die Ereignisse der Natur, ob der Zerfall von Atomen oder das Feuern von Neuronen, mögen indeterministischen oder deterministischen Gesetzen gehorchen, aber sie können sich nicht irren.

 

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