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Wer handelt? Wer spricht?

29.11.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Hat der Hund bei den piekfeinen Leuten, bei denen sein Herrchen nach geduldigem Antichambrieren endlich einmal hat Zaungast spielen dürfen, die kostbare Ming-Vase auf dem Parkett mit seinem hemmungslosen Schwanzgewedel in tausend Scherben gewedelt, wird nicht er, der Hund, zur Verantwortung gezogen und haftbar gemacht, sondern sein Besitzer, die juristisch belangbare Person, die nun des Hauses verwiesen und zur Kasse gebeten wird.

Der Hund tat, was er tat, nicht mit Absicht; aber kluge Vorsicht und Voraussicht hätten sein Herrchen davor gewarnt, kostbare Ming-Vasen dem Wedeln seines Schwanzes auszusetzen.

Der schlaue Hund, der darauf dressiert ist, seinem Besitzer den ins Gras geschleuderten Ball zurückzubringen, tut es nicht, weil er die Absicht hegt, dem Herrchen eine Freude zu bereiten, sondern in Erwartung einer Belohnung, und wenn sie nur aus einem Zuspruch oder jenen Streicheleinheiten besteht, die ihm gewiß nicht versagt werden.

Werden wir gefragt, wer die Zerstörung der kostbaren Vase verursacht hat, sagen wir nicht, der Hund, sondern sein Besitzer; einem Hund sprechen wir nämlich keine Handlungen zu, denn Handlungen sind absichtsvoll ausgeführte, willkürliche Körperbewegungen, die auch hätten unterbleiben können.

Der Hund, und wäre er noch so schlau, hätte sich angesichts der kostbaren Vase nicht sagen können: „Nun will ich das vermaledeite Schwanzwedeln einmal für eine Weile unterlassen, sonst gibt es einen Heidenärger, und mein gutes Herrchen wird ziemlich sauer auf mich, sollte die kostbare Ming-Vase infolge meiner hündischen Unart in die Brüche gehen!“

Sein Herrchen freilich könnte sich sagen: „Hätte ich den Hund doch nur zu Hause gelassen; dann wäre mir eine Menge Ärger erspart geblieben. Richtig böse kann ich ihm ja nicht sein, ist er doch mein liebes Hündchen, vom dem ich nicht weiß, ob er mit dem Schwanz oder der Schwanz mit ihm wedelt!“

Tiere sind wie Pflanzen Instantiierungen und Inkarnationen ihrer jeweiligen Spezies oder ontologisch betrachtet Exemplare des durch sie verkörperten Allgemeinbegriffs. Menschen sind sowohl Instantiierungen und Inkarnationen der Spezies Homo sapiens als auch Personen, die absichtsvoll handeln und Handlungen unterlassen können, Personen, die sprechen oder schweigen können.

Wenn wir vor der Vereinssitzung unseres Schachclubs fragen: „Wer führt heute den Vorsitz?“, erwarten wir, den Namen der betreffenden Person zu hören. Wir erfahren, daß es Peter ist, der heute Hans vertritt, denn dieser konnte nicht kommen, er liegt mit Fieber zu Hause im Bett. Peter bleibt Peter und wird nicht zu Hans, auch wenn er dessen Funktion übernimmt und den Vorsitz führt.

Wenn wir auf eine Person deuten und sagen: „Das ist Peter!“, zeigen wir wohl auf den Körper dessen, der Peter heißt, aber wir meinen, wenn wir von Peter sprechen, nicht seinen Körper; auch wenn wir von Peters blonden Haaren, seiner Handverletzung oder davon sprechen, daß er nach Italien gereist ist, beziehen wir uns auf eine Person namens Peter, die blonde Haare und eine Verletzung an der Hand hat und die nach Italien gereist ist. Peter könnte, ohne daß wir davon erfahren hätten, seine Haare braun gefärbt haben, seine Verletzung könnte ausgeheilt sein, er könnte längst von Italien zurückgekehrt sein; das ändert nichts daran, daß wir Peter meinen, auch wenn wir ihm fälschlicherweise Eigenschaften zusprechen, die er nicht hat. Denn Eigenschaften wie die, blonde Haare zu haben, unter einer Handverletzung zu leiden oder nach Italien gereist zu sein, gehören nicht zur Substanz dessen, was Peter als Person ist.

Wenn wir von Peter sagen, daß er einen traurigen Eindruck macht, meinen wir nicht, daß sein Gehirn in einem neuronalen Zustand ist, der Traurigkeit bewirkt, denn derselbe neuronale Zustand dürfte sich zur gleichen Zeit bei einer Menge anderer Menschen vorfinden; sondern wir sprechen von Peter, nicht von den körperlichen Ursachen seines Befindens, sondern vom wahrnehmbaren Ausdruck seines Befindens.

Der Neurologe könnte aufgrund der Untersuchung von Peters Hirnzustand voraussagen, daß er einen traurigen Eindruck hinterlassen muß; doch spricht er dann nicht von Peter, sondern von allen menschlichen Organismen, deren neurologische Untersuchung einen ähnlichen Befund ergibt und dieselbe Voraussage begründet.

Wenn wir danach fragen, wer dies oder jenes getan, so oder so gehandelt hat, erwarten wir als Antwort den Namen einer Person, nicht den Hinweis auf die Instantiierung oder Verkörperung einer Spezies, sei es einer tierischen Spezies oder von Homo sapiens.

Als Antwort auf die Frage, wer das Verbrechen begangen hat, genügt uns weder der Hinweis auf einen lebendigen Körper noch auf Teile oder Zustände eines lebendigen Körpers wie das Gehirn oder einen bestimmten neuronalen Zustand des Gehirns; wir geben uns erst mit einer Antwort zufrieden, die den Täter als handelnde Person benennt.

Der Name einer Person gibt uns die Antwort auf die Fragen: Wer handelt? Wer spricht? Die Person wiederum ist die Substanz, die einen Körper hat und nur als Person fungiert, wenn sie verkörpert ist; die Person hat alle Eigenschaften, die ihr Körper hat; denn wir sagen: Peter ist 180 cm groß, 45 Jahre alt, 78 Kilo schwer und leidet unter Schmerzen aufgrund einer Handverletzung.

Aber die Person ist nicht identisch mit ihrem Körper oder mit den Eigenschaften und Zuständen ihres Körpers. Denn wenn wir sagen, Peter spricht fließend englisch, meinen wir nicht, daß seine Sprechorgane Laute zu bilden fähig sind, die ein Engländer ohne weiteres versteht. Denn würde er nicht selbst verstehen, was er sagt, nicht wissen, was er mit dem Geäußerten meint, würden wir, was er tut, nicht sprechen nennen.

Die Person handelt, hat die Absicht, etwas zu tun, oder versäumt es, etwas zu tun; die Person spricht oder beißt sich auf die Lippen und schweigt. Nicht aber, wie schon Aristoteles erkannte, die Seele. Unter „Seele“ verstehen wir die Tatsache, daß ein lebender Organismus beseelt ist, und das heißt, sich mehr oder weniger deutlich dessen bewußt zu werden vermag, was er empfindet, fühlt, erleidet. Dies gilt für Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen. Beseeltheit ist kein uns als Personen auszeichnendes Merkmal.

Die Seele ist keine eigenständige Substanz, denn wäre sie es, bliebe ihre Verbindung mit dem Körper der Person, die sie hat, mysteriös, wie alle gescheiterten Versuche der philosophischen Tradition von Descartes über Malebranche bis zum deutschen Idealismus, eine solche Verbindung zu konstruieren, erweisen.

Die Person ist eine Substanz, die keine mysteriöse Verbindung mit ihrem Körper hat; vielmehr ist der Körper ein integraler Bestandteil der Person. Ähnlich den Linien und Farbflecken, die ein integraler Bestandteil eines Gemäldes sind; wenn wir es betrachten, nehmen wir nicht nur einzelne Linien und Farbflecken wahr, sondern sehen das Bild als Ganzes.

Wenn die Person es ist, die handelt und spricht, vermag sie es freilich nur als jene Substanz, die einen beseelten Körper hat.

Die Person ist nicht die Identität des Bewußtseins, denn diese ist zwar die Voraussetzung dafür, eine Person sein zu können, doch kann sie die Anonymität des Allgemeinbegriffs nicht abschütteln und durchbrechen; aber nur Peter, unser Freund aus dem Schachclub, ist Peter.

Weil eine Person zu sein sich nicht in der Identität des Bewußtseins erschöpft, sind alle Versuche, eine Philosophie methodisch auf der Grundlage des Bewußtseinsbegriffs, also auf einem fundamentum in mente, zu errichten, unzulänglich, ob wir nun an das kartesische Cogito, die transzendentale Subjektivität Kants, das Ich Fichtes, die Phänomenologie des Bewußtseins Hegels oder das Pour soi Sartres denken.

Der Körper spricht nicht, der Mund sagt nichts, das Gehirn übt seine neuronalen Aktivitäten in tiefer Stille aus.

Man kann einer Person den Mund verbieten, nicht, weil dieser, sondern weil jene am falschen Ort das Falsche gesagt oder sich im Ton vergriffen hat.

Schweigen ist ein Sprechakt.

„Dico ergo sum“ – „Ich spreche, also bin ich“ ist die Maxime und das Schibboleth der Person.

Wenn wir unser Wort darauf geben und versprechen, dem Freund das geliehene Gut in zwei Jahren wieder auszuhändigen, tun wir dies, auch wenn wir wissen, daß unsere leibliche und seelische Verfassung während dieser Zeit mehr oder weniger eingreifenden Modifikationen und dramatischen Wandlungen unterliegen wird. Doch ist die Zeit verstrichen, und wir lösen unser Versprechen ein und halten Wort, tut es dieselbe Person, die es gegeben hat.

Haben wir unser Versprechen und das gegebene Wort vergessen, werden wir dafür haftbar gemacht, wenn wir in der Lage gewesen sind, unsere Erinnerung daran wachzuhalten. Freilich, sind wir aufgrund einer geistigen Erkrankung dazu nicht in der Lage gewesen, wird uns das Versäumnis nicht angerechnet.

Wenn geistige Erkrankung unseren Status als Person einzuschränken vermag, folgern wir daraus nicht, daß er dadurch gänzlich aufgehoben wird; denn wir gehen davon aus, daß die Substanz der Person nicht die Summe ihrer leiblichen und mentalen Eigenschaften ausmacht. Doch erkennen wir, daß wesentliche geistige Eigenschaften wie die Identität des Bewußtseins eine Grundlage dafür bilden, als Person handeln und sprechen zu können. Sind wir aufgrund geistiger Erkrankung zu absichtsvollem, zweckgerichtetem, vernünftigem und verantwortlichem Handeln und Sprechen nicht mehr fähig, fallen wir gleichsam auf den Status einer Person in nuce oder in potentia zurück, einem Kleinkinde nicht unähnlich. Das Kleinkind erlangt aufgrund natürlicher Reifung den vollen Status einer Person; der Kranke mag ihn mittels künstlicher medizinischer Eingriffe wiedererlangen.

Die Person ist nicht die Summe ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Erlebnisse und Taten, sondern die Instanz, die sich an sie erinnern, davon sprechen, sich an ihnen ergötzen, etliche bedauern, etliche bereuen kann.

Wäre die Person die Identität des Bewußtseins und die Einheit ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrung im Gedächtnis und wäre beides, Identitätsbewußtsein und Gedächtnis, eine kausale Funktion bestimmter Teile des Gehirns, würden sich Peter in Hans und Hans in Peter verwandeln, wenn ihre kausal relevanten Hirnareale operativ gegeneinander ausgetauscht würden. Doch wenn Hans weiterhin so handelt und spricht wie Peter und Peter wie Hans, nähmen wir sie über kurz oder lang als die uns bekannten Personen wahr. – Und sie sich selbst? Früher oder später wohl auch sie selbst.

Sprechen heißt etwas meinen; etwas meinen heißt einen Gedanken zum Ausdruck bringen. Gedanken können wir nur mittels Sätzen oder satzförmigen Ausdrücken darstellen. Sätze können einen Gedanke nur mitteilen, wenn sie grammatisch regelkonform gebildet und mit einem Minimum an semantischem Ausdrucksreichtum ausgestattet sind. Also unterliegt alles Sprechen Kriterien der Korrektheit und Adäquatheit.

Diejenigen, die in Jahrhunderten vor unserer Zeit die Sprache gebildet, geprägt und überliefert haben, und diejenigen, die sie in der Gegenwart mit uns teilen, vermitteln uns die Kriterien der sprachlicher Wohlgeformtheit und Adäquatheit des Ausdrucks.

Wir müssen bekanntlich nicht alles sagen, was wir meinen, ohne Gefahr zu laufen, nicht verstanden zu werden. Denn wenn wir nach dem heiteren Mahl bei unserem Freund zu dem verabredeten Spaziergang aufbrechen wollen, sagen wir nach einem skeptischen Blick aus dem Fenster zu ihm: „Nimm einen Regenschirm mit!“ Damit implizieren wir, was wenn auch ungesagt leicht von dem Angesprochenen ergänzt werden kann: „Es regnet“ oder „Es sieht nach Regen aus!“

Plaudern wir angerregt mit Freunden, unterliegen unsere Äußerungen, wollen wir uns verständlich machen, zwar den Kriterien grammatisch-syntaktischer Wohlgeformtheit und semantisch hinreichender Expressivität, sie sind aber gleichsam durch unsichtbare Anführungszeichen als uneigentlich, spielerisch, fiktional gekennzeichnet. Treiben wir wie üblich das beliebte Konversationsspiel, uns über Abwesende zu belustigen und zu mokieren, die gottseidank keinen Einspruch erheben und uns keine Hemmungen auferlegen können, wird unsere bisweilen anzüglich oder schrill getönte Rede – je kühler der Krug, umso heißer das Herz – paradoxerweise gerade dadurch semantisch gemildert und moralisch geläutert, daß wir sie ins Phantastische und Legendäre, ins Burleske und Groteske, jedenfalls irreal Anmutende übersteigern. So atmen wir leichter, im Dämmerlicht lasziven Geplauders befreit von der drückenden Last des hellen Werktags, Wahrheitsansprüchen mittels Argumenten und stichhaltigen Beweisen gerecht werden zu müssen.

Die Plauderei ist, recht verstanden, eine literarische Gattung.

 

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