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Wenn Erinnerungen ansteckend wären

24.05.2015

Ich kann wieder mal sentimentalen Anflügen nicht widerstehen und erzähle dir von einem Erlebnis der frühen Jugendzeit in Koblenz, damals, als ich die Rheinpromenade entlangschlenderte, und aus der berühmten Orchestermuschel im Café Rheinanlagen drangen zum ersten Mal die berauschenden Klänge der Ungarischen Tänze von Johannes Brahms an mein Ohr – was zur Folge hatte, dass ich mir das Musikstück von Brahms bald darauf als Schallplatte besorgte, und diesem Stück folgten manch andere von Brahms. Gewiss habe ich, immer wieder einmal nostalgischen Launen ausgesetzt, diese Erinnerung aus der frühen Jugendzeit weder dir zum ersten Mal (und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal) zum Besten gegeben noch dir zum ersten Mal erzählt, sondern diesem und jenem zuvor, wen auch immer ich zum Opfer meiner Ergüsse erkoren haben mag.

Ich habe es erzählt und nunmehr kennst du meine Erinnerung. Ja, du kannst dich hinfort daran erinnern, dass ich dir von dieser Erinnerung an meine Jugend erzählt habe, und so wird meine Erinnerung gleichsam zu deiner Erinnerung. Oder? Wenn meine Erinnerung bloß aufgrund der Tatsache, dass ich sie dir mitgeteilt habe, zu deiner Erinnerung würde, wären Erinnerungen oder genauer das Erzählen von Erinnerungen gewissermaßen ansteckend. Aber zu unser aller Glück ist dem nicht so. Denn es wäre zu unser aller Unglück, wenn dem so wäre.

Wir bemerken den Unterschied der Berichte über meine Erinnerung aus meiner und deiner Warte am unterschiedlichen Gebrauch der Personal- und Possessivpronomina. Du sagst etwa: „Er erinnerte sich daran, in seiner frühen Jugend in Koblenz in der Rheinpromenade zum ersten Mal die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms gehört zu haben“. Während ich sage: „Ich erinnere mich daran, in meiner frühen Jugend in Koblenz in der Rheinpromenade zum ersten Mal die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms gehört zu haben.“ Der Unterschied zwischen meiner Erinnerung und deiner Erinnerung besteht darin, dass meine Erinnerung ein echter Bestandteil meiner personalen Identität darstellt, während deine Erinnerung ein echter Bestandteil deiner personalen Identität darstellt. Bestandteile verschiedener personaler Identitäten aber können nicht salva veritate vertauscht werden. Meine Erinnerung ist wirklich und wahrhaftig meine Erinnerung, wenn ich derjenige gewesen bin, der das Erlebnis, das die Erinnerung repräsentiert, an dem ganz bestimmten Ort und aus der ganz bestimmten Perspektive hatte, die du aufgrund dessen, dass du ein anderer bist als ich, nicht am selben Ort und mit derselben Perspektive gehabt haben kannst.

Nun kann es durchaus geschehen, dass du dich an ein Erlebnis zu erinnern glaubst, das du nicht selbst hattest, sondern von dem du nur durch den Bericht eines anderen erfahren hast. So wären vielleicht meine wiederholten Schilderungen des genannten Erlebnisses so eindrucksvoll und lebendig ausgefallen, dass sie sich deinem Gedächtnis aufs Intensivste in einer Weise eingeprägt hätten, als hättest du sie selbst erlebt. Indes würden wir uns in solchen Fällen nicht scheuen, von einer Selbsttäuschung und einem Selbstmissverständnis zu sprechen. Und wenn du mir mit der Geschichte von den Ungarischen Tänzen von Brahms kämest, die du zum ersten Mal an der Rheinpromenade gehört zu haben vorgibst (denn du hast damals ja gar nicht in Koblenz gelebt), würde ich dich am Schlafittchen packen und dich durch den Hinweis darauf zur Ordnung rufen, dass nicht du, sondern ich diese Erinnerung als eigene Erinnerung in Anspruch zu nehmen befugt bin.

Doch freilich, wenn du sie anderen Leuten weitererzählst und an deiner selbst geglaubten Legende weiterspinnst, kannst du damit durchkommen. Denn Erinnerungen und die Berichte über Erinnerungen tragen kein Zeichen ihrer Wahrheit oder Falschheit auf der Stirn. Wenn du deine schöne Sage wieder und wieder erzählst, kann es geschehen, dass die unechte Erinnerung zu einem echten Bestandteil deines Lebens wird. Du beschließt, endlich nach so vielen Jahren dir eine Aufzeichnung des Musikstückes von Brahms zu besorgen, und beginnst aufgrund der Tatsache, dass dich die Komposition dermaßen beeindruckt, dich in vertiefter Weise mit dem Komponisten zu beschäftigen, indem du andere Werke von Brahms hörst und etliches über ihn liest.

Wir bemerken, dass echte oder als echt geglaubte Erinnerungen nicht nur wie ein Mückenschwarm aufzutauchen pflegen, den wir mit leichter Hand verscheuchen mögen, sondern sich wie ein solider Pflanzstock im Humus unseres Gedächtnisses und unserer personalen Identität einwurzeln können, der dann seltsame Blüten hervortreibt. Es sind dies die motivgeladenen Erinnerungen, die uns zu Handlungen bewegen. Es sind motivgeladene Erinnerungen, die uns zu den bedeutendsten, größten, fatalsten Handlungen antreiben können. Wer sich daran zu erinnern glaubt, von dem oder jenem schlecht behandelt, geschnitten, um sein Geld, seine Frau, sein Lebensglück betrogen worden zu sein, wird vielleicht über Jahre darauf sinnen, sich für das vermeintliche oder tatsächliche Unrecht, die vermeintliche oder echte Traumatisierung zu rächen. Übeltaten und Verbrechen sind die Kinder übler Erinnerungen.

Wenn wir Erinnerungen nicht ansehen können, dass sie wahr oder echt sind, wie können wir es dann feststellen? Wenn ich meine Erinnerung an das musikalische Erlebnis meiner Jugend verifizieren und also bewahrheiten will, dass meine Erinnerung überhaupt eine Erinnerung darstellt, muss ich Zeugen und Zeugnisse dafür auftreiben, dass ich an dem und jenem Tag genau an dem und jenem Ort war (also am Café Rheinanlagen in Koblenz) und dass dort zu dieser Zeit tatsächlich die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms aufgeführt wurden. Es könnte sich der Ankündigungszettel für diesen Tag im Archiv der Stadt Koblenz auffinden lassen, aus dem hervorgeht, dass dort ein überregional bekanntes Orchester gastiert und unter anderem besagtes Stück von Brahms gespielt hat. Aber das genügt nicht. Es müssten sich mindestens zwei Zeugen finden, die bezeugen, dass sie mich zu dieser Zeit an diesem Ort gesehen haben. Ein Zeuge genügt nicht, denn er könnte unglaubwürdig sein, und seine Glaubwürdigkeit von einem Dritten in Zweifel gezogen werden. Dieser Umstand allein zeigt, wie schwierig die Verifikation von Erinnerungen durch Zeugen und Zeugnisse ist, und er wirft einen Schatten auf die fragwürdige Figur des sogenannten Zeitzeugen, dem überdies von Leuten ohne den mindesten Anflug von Zweifeln Gehör und Glauben deshalb geschenkt wird, weil sie ein Interesse daran haben, dass die Berichte des Zeitzeugen so ausfallen, wie sie ausfallen.

Wir gehen indes weiter und bemerken einen noch tieferen Graben zwischen uns und der Vergangenheit, den wir mit dem Sprung der Erinnerung oft nicht überspringen können. Die Wahrheit unserer Erinnerungen entgeht uns nämlich dann, wenn wir sie nicht individuieren und als Einzelerinnerungen isolieren und identifizieren können, sondern wenn sie uns als Amalgam und Verschmelzungsprodukt einiger, etlicher oder vieler Einzelerinnerungen vorschweben. Damals in der Jugendzeit pflegte ich häufig die Rheinpromenade in Koblenz entlangzuschlendern und ich mag wohl bei mehr als einer Gelegenheit Musikstücke aus der Konzertmuschel des Cafés an mein Ohr dringen gehört haben. Zumindest einmal ertönten da auch die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms und sie sind mir vorzüglich und stärker als all die anderen gehörten Stücke aufgefallen. (Es könnte indes auch der Fall sein, dass ich dort nie die Ungarischen Tänze vernommen habe; später hörte ich sie dann oft und gern und habe meinem Gedächtnis den subtilen Scherz erlaubt, das erste Gehörthaben der Ungarischen Tänze zeitlich zu versetzen und sie der Erinnerung an meine Spaziergänge auf der Rheinpromenade zu okulieren.) Mein Gedächtnis hat die Reihe der Einzelerinnerungen verschmolzen und auf das Eingangsportal dieser Kollektiverinnerung den Titel geschrieben „Ungarische Tänze von Johannes Brahms“.

Wir bemerken, dass es nicht nur schwierig ist, im Einzelfall die Echtheit und Wahrheit von Erinnerungen zu verifizieren, sondern ebenso schwierig, ihr singuläres Vorkommen zu isolieren und zu individuieren. Wenn ich aber nicht feststellen kann, dass es genau diese einzigartige und einmalige Erinnerung ist, die das damalige einzigartige und einmalige Erlebnis repräsentiert, weiß ich nicht, ob es sich überhaupt um eine Erinnerung handelt. Oft verschmelzen wir eine Reihe von ähnlichen Erinnerungen zu einem Gesamteindruck, wobei die Erinnerungen an der Peripherie verblassen, während das Irrlicht der scheinbaren Erinnerung im Mittelpunkt umso heller erstrahlt.

Wir bemerken noch, dass es eine weitere Vertiefung des Grabens zwischen uns und der Vergangenheit gibt, die wir mit dem Sprung der Erinnerung meist nicht überwinden können. Vergleichen wir die Erinnerung mit einem weißen Tuch, auf das im gegenwärtigen Augenblick farbiges Licht fällt. Die Erinnerung nimmt dann die Farbe des gegenwärtigen Augenblicks an, wir aber glauben uns an die Farbe des vergangenen Augenblicks zu erinnern. Die Farbe kann unsere gegenwärtige emotionale Befindlichkeit oder unsere epistemisch eingeschränkte oder erweiterte Perspektive sein: Die Person, an die wir uns erinnern, hat uns kürzlich übel mitgespielt, und nun erscheinen ihre Züge bereits im Spiegel der Erinnerung an weit zurückliegende Erlebnisse verzerrt. Angeregt durch das damalige Hörerlebnis haben wir uns in den darauffolgenden Jahren eingehend mit der Musik von Johannes Brahms beschäftigt. Nun vermeinen wir, unsere Erinnerung an das erste Hören der Ungarischen Tänze in der Jugend mit musikalischen Nuancen und Feinheiten angereichert zu wissen, die wir damals gewiss nicht zu hören imstande waren.

Wir sehen, sobald wir den Sack der Erinnerungen öffnen, fliegen Flohschwärme von Fragen und Zweifeln heraus. Doch benehmen sie uns nicht der einen Gewissheit, dass wir ohne unsere vermeintlichen und echten Erinnerungen nicht die wären, die wir sind. Und wir wären auch nicht die, die wir sind, wenn unter all unseren Erinnerungen neben den vermeintlichen und unechten nicht ein Kernbestand von wahren und echten Erinnerungen auszumachen wäre: Ohne diesen zerfiele unsere personale Identität in nichts als Illusionen und Selbsttäuschungen. Die Täuschungen können tief gehen. Mancher lässt sich von Pseudo-Theorien und Vulgärberichten infizieren und findet durch mühsame „Erinnerungsarbeit“ schließlich heraus, dass er sich über das vermeintlich freundliche und gütige Wesen seines Vaters, seiner Mutter getäuscht haben muss, letztlich ist seine Kindheit wegen tückischer Repressalien und böser Nachstellungen, die sich bei einigen flugs zu Missbräuchen auszuwachsen pflegen, nichts als die Hölle auf Erden gewesen. Und doch ist es derselbe Vater, dieselbe Mutter, an die uns echte Erinnerungen bleiben, auch wenn alle möglichen Geschichten, die wir über ihr Wesen und Unwesen in die Welt gesetzt haben, auf die grelle Färbung der Erinnerungen durch das Spektrum des gegenwärtigen Augenblicks zurückgehen.

Unsere personale Identität löste sich auch auf, wenn unsere Erinnerungen oder die Berichte über unsere Erinnerungen ansteckend wären in dem Sinne, dass die Grenzen zwischen meiner Erinnerung und deiner Erinnerung undicht und gleichsam osmotisch ineinanderfließend würden. Es ist nicht arg, wenn ich mich daran zu erinnern wähne, jenen Spazierweg mit dir gegangen zu sein, obwohl du damals an einem anderen Ort weiltest, ich aber war auf dem Weg mit den Gedanken vielfach bei dir. Es wäre aber arg, wenn einer den Bericht einer Zufallsbekanntschaft über die Erinnerung an eine schlimme Übeltat, die er in der Jugend begangen hat, als echte eigene Erinnerung zu schlucken gezwungen wäre und daraufhin sein Leben in Zerknirschung und bitterer Reue dahinschleppte.

Und wenn es eine Wunderdroge gäbe, nach deren Einnahme unsere Erinnerungen nicht nur frisch und lebendig aufleuchteten, sondern uns, obwohl wir müßig auf dem Sofa lägen, gleichsam wie auf einem fliegenden Teppich in die Intensität und Genauigkeit der Wahrnehmung, den Genuss der Düfte und Farben, der Klänge und Harmonien, hinein- und zurückversetzte, deren blasse Wiedergänger unsere Erinnerungen bisher waren? Ich wäre also gleichsam und wunderbarerweise zurückverwandelt in die Jugendzeit und erlauschte in der Rheinpromenade die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms in einer Intensität und Präzision der Klangwiedergabe, als ob ich sie auf dem CD-Player in der Gegenwart abspielen lassen würde. Zum einen würde diese kleine charmante Zauberei keineswegs die Echtheit und Wahrheit meiner Erinnerungen verifizieren, denn auch unechte und mythische Erinnerungen vermöchten so von innen aufzuleuchten. Zum anderen könnte ich die Subtilität und Nuanciertheit meiner verlebendigenden Erinnerung nur dadurch bezeugen, dass ich in eben solch nuancierter und subtiler Weise von ihnen Bericht gäbe. Aber das wäre keine Sache der Erinnerung, sondern, wie eben bei Marcel Proust, eine des großen Stils.

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