Skip to content

Kleine philosophische Lektionen XII

31.10.2014

Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre – kontrafaktische Konditionalsätze

Wenn Hitler die Relativitätstheorie ablehnte, weil er die Herkunft ihres Begründers für rassisch minderwertig hielt, bietet diese Tatsache keinen Grund dafür, die Wahrheit der Relativitätstheorie zu behaupten. – Wenn Hitler die Relativitätstheorie freudig begrüßt hätte, weil ihr Begründer eine ihm zusagende Herkunft (zum Beispiel die jüdische) hätte vorweisen können, böte diese Tatsache keinen Grund, die Wahrheit der Relativitätstheorie zu bezweifeln.

Du nennst mich mit meinem Namen, und könntest dich im Gebrauch meines Namens irren, indem du aus Zerstreuung über mich redend mir einen falschen Namen zulegst oder meinen Namen auf jemanden münzt, der nicht ich bin (auch wenn du dabei an mich denkst). Du nennst dich nicht mit einem oder deinem Namen, es sei denn ironisch (was hat Herr/Frau N. N. da wieder angestellt). Wenn du dich nicht anders als mit dem Namen benennen könntest, der in deinem Geburtsregister eingetragen ist und mit dem alle anderen dich benennen, könntest du dich wie alle anderen bei der Anwendung dieses Namens auf deine Person irren. Das aber scheint nicht möglich zu sein, wenn du von dir sagst: „Entschuldigung, ich bin zu spät“ oder „Ich bin müde“.

Wenn Sokrates nicht so tapfer gewesen wäre, wie er gewesen ist, hätte er nicht, ohne mit der Wimper zu zucken, den Schierlingsbecher getrunken. Sätze dieser Art, kontrafaktische Konditionalsätze, täuschen Wahrheitsbedingungen vor oder vornehmer gesagt: modellieren Wahrheitsbedingungen, taugen aber nicht zur Wahrheitsfindung. Sokrates hätte bei all seiner tapferen Gesinnung aus wohlerwogenen Gründen das gegen ihn ergangene Urteil hintergehen und aus dem Gefängnis fliehen (wie es seine Schüler vorschlugen) und somit sich weigern können, den Giftbecher zu leeren.

Dass Sokrates weise war, erhelle aus der Tatsache, dass Platon, der auch weise war, sich ihm als Schüler anschloss. – Aber Platon hätte auch eine dumme Person sein können und sich dennoch dem weisen Sokrates anschließen mögen (immerhin scharten sich Sophisten und weniger große Leuchten um den Lehrer Platons). Wenn Platon dumm gewesen wäre und sich Sokrates angeschlossen hätte, böte diese Tatsache keinen Grund dafür anzunehmen, Sokrates sei nicht weise gewesen.

Wenn die Erde sich nicht in einem bestimmten Abstand um die Sonne bewegt haben würde, sodass die Bedingungen der Existenz von Wasser auf ihr gegeben waren, wenn die Erde nicht all die physikalisch-chemischen Bedingungen hervorgebracht hätte, die Bedingungen der Existenz von Leben und der Evolution von Organismen darstellen – nun, was dann? Dann würde jetzt niemand jemand mit dummen Fragen dieser Art behelligen oder narren können.

Ja, ja, nein, nein: wenn ja, dann ja, wenn nicht, dann nicht. Wenn es nicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Entstehung von Leben gegeben hätte, wäre kein Leben entstanden. Wäre kein Leben entstanden, wäre kein Leben da. Aha! Wir sind glücklich im Schoße der Tautologie zu liegen gekommen, die zwar nicht falsch sein kann, uns aber nicht anders als den lieben langen Tag verdösen und Gott einen guten Mann sein lassen lässt.

Zu sagen, dass die Tatsache des Lebens die Möglichkeit des Lebens, das Wirkliche das Mögliche voraussetze, heißt nichts sagen. Die Möglichkeit, dass wir uns morgen begegnen und du eine gelbe Rose in der Rechten, ich eine weiße Krawatte tragen würde, hat so wenig Aussicht, eine Tatsache zu werden, wie die Tatsache, dass ich aus einem einstmals schläfrigen Weiler der Vordereifel stamme, die Verwirklichung einer Möglichkeit darstellt, die in den Büchern der Schöpfung oder den Annalen der Könige und Kaiser aller Reiche aller Zeiten oder den Zyklen des evolutionären Wandels eingeschrieben war.

Wenn die Evolution dem Schimpansen die physiologische Ausstattung verpasst hätte, die es uns ermöglicht, artikulierte Laute zur Verständigung hervorzubringen, würde er uns zwischen den Gitterstäben des Zoos zuraunen: „Menschenskind, da hast duʼs. Jetzt reden wir miteinander von gleich zu gleich, wie wir uns schon immer unterhalten haben würden, wenn ich es gekonnt hätte. Aber eigentlich habe ich es ja schon immer gekonnt. Es fehlte mir nur ein gewisses Jucken in der Kehle. Also wirst du nicht umhin können, mir ab sofort das Recht auf eine bürgerliche Existenz zuzusprechen. Als Einstieg in mein neues Leben gedenke ich übermorgen die dort in den Seilen schwingende Schimpansin zu ehelichen – mit allem festlich-rituellen Drum und Dran, was dazugehört!“ Wer wäre in solch einem Falle begriffsstutziger, der edle Affe, der das Recht auf eine bürgerliche Menschenexistenz einfordert, oder der gemeine Wissenschaftler, der sie ihm einzuräumen nicht anstehen dürfte?

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top