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Weltbeschreibung und sprachliche Vernunft

02.09.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Denken wir uns ein Modell maschinellen Sehens: Ein Strahl tastet die Umwelt ab, trifft auf einen Körper und berechnet seinen Umfang und die Entfernung von der Position des Senders, ja vermag sogar die chemische Zusammensetzung des Objekts zu analysieren.

Würden wir das Sehen nennen, in dem Sinne, wie wir sehen, nicht nur, daß unser Gegenüber ein paar Schritte von uns entfernt ist, sondern daß es sich um einen Menschen handelt, daß es unser Freund Peter ist, daß Peter lächelt?

Eine Maschine könnte akustische Phänomene wahrnehmen oder registrieren, indem sie die von einer Schallquelle ausgesandten akustischen Wellen und Luftschwingungen identifiziert und ihre Frequenzen mißt.

Aber würden wir das Hören nennen, in dem Sinne, wie wir eine Melodie hören, indem wir nicht nur die Abfolge bestimmter Luftschwingungen registrieren, sondern sie als sinnvolle musikalische Einheit wahrnehmen, deren Rhythmus, Spannungsbogen und spezifische Stimmung wir anzugeben wissen?

Dies gilt a fortiori für akustische Phänomene, die aus einer Abfolge von Phonemen bestehen und die wir sprachliche Äußerungen nennen. Hier hören wir nicht nur die Schwingungen des Schalls, nicht nur einen Rhythmus, einen Spannungsbogen und eine gefühlsmäßige Stimmung, sondern unmittelbar auch den Sinn des Gesagten.

Wir können das spezifisch humane Phänomen des sprachlichen Sinnverstehens mit dem physiognomischen Wahrnehmen des Lächelns vergleichen. Wie wir bei der Wahrnehmung des Lächelns nicht irgendwelche Verzerrungen der Gesichtsmuskulatur unseres Gegenübers registrieren, sondern einen bestimmten physiognomischen Ausdruck, so vernehmen wir an sprachlichen Äußerungen nicht nur Geräusch und Klang, sondern hören unmittelbar ihren Sinn.

Die akustische Gestalt der Phoneme kann einen Sinnunterschied markieren, so wenn wir die Stimme anheben, um eine Frage zu stellen.

Ein primitives Modell der Sprache geht von der Annahme aus, sie entwickle sich mittels hinweisender Ausrufe wie „Ach!“ und „O!“, die dem Ausdruck der Enttäuschung und des Erstaunens dienen.

Aber wir gebrauchen die Interjektion „Ach!“ vielleicht, wenn wir eine Schublade öffnen und unversehens den Gegenstand finden, den wir andernorts vergebens gesucht haben. In einem solchen Fall steht der Ausruf für die implizite Feststellung: „Hier also liegt meine Sonnenbrille!“

Auch der Satz „Hier also liegt meine Sonnenbrille!“ hat den Charakter eines Ausrufs, aber was ihn zum sprachlichen Ausdruck macht, ist sein deskriptiver Kern, die Feststellung der Tatsache, daß sich ein bestimmter Gegenstand an einem bestimmten Ort befindet.

Der semantische Kern der Sprache, die uns eigen ist, besteht in dem, was wir Weltbeschreibungen nennen können.

Der Ausruf „Pfui!“ kann eine spontane Reaktion beim versehentlichen Genuß einer verdorbenen Speise sein, ausgelöst von ihrem fauligen Geschmack; die Interjektion kann aber auch eine primitive Form der Warnung sein, wenn eine Mutter sie dem Kleinkind zuruft, das eine faule Frucht aufhebt und in den Mund stecken will.

Hier steht der Ausruf „Pfui!“ für die Aufforderung: „Laß das bleiben!“ und die implizite sprachliche Äußerung: „Diese Frucht ist verdorben!“

Auch der Satz „Diese Frucht ist verdorben!“ hat den Charakter eines Ausrufs (der Warnung), aber was ihn zum sprachlichen Ausdruck macht, ist sein deskriptiver Kern, die Feststellung der Tatsache, daß ein bestimmter Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat.

Es ist demnach neben dem Modus der Äußerung (Aufforderung, Frage, Warnung) der deskriptive Kern einer sprachlichen Äußerung, den wir identifizieren müssen, um ihren vollen Sinn zu verstehen.

Der deskriptive Satzkern hat eine grammatische Struktur, in der sich eine logische Form zeigt oder verbirgt: Die Aussage „Diese Frucht ist verdorben“ hat eine grammatische Struktur, durch die der Träger eines Namens mittels eines Demonstrativums aus der näheren Umgebung herausgehoben und durch ein Eigenschaftswort charakterisiert wird. Die logische Form können wir so darstellen: Es gibt mindestens ein x (in der näheren Umgebung) und x ist eine Frucht und x ist verdorben. Die grammatische Struktur des Satzes scheint der logischen Form zu entsprechen; allerdings macht es einen bisweilen entscheidenden Unterschied, daß die logische Form im Gegensatz zur grammatischen der Aussage einen Existenzquantor („es gibt mindestens ein x“) voranstellt.

Die grammatisch scheinbar einfache Aussage „Peter lächelte, denn er hatte seine Brille wiedergefunden“ hat dagegen eine verborgene logische Form, die wesentlich komplexer ist; wir geben sie in etwa so wieder: P(x) ist der Grund für Q(x) und P(x) beschreibt die Tatsache, daß x etwas wiederfand, und Q(x) die Tatsache, daß x lächelte, wobei P(x) zwingend Q(x) vorauszugehen hat. Die in der Aussage implizite Identität des mit dem Relativwort („er“) Gemeinten mit dem Subjekt des Hauptsatzes („Peter“) wird in der logischen Form einfach mittels der Identität des Zeichens x angezeigt. Die logische Form kehrt dagegen die grammatische Struktur der Aussage um: Peter fand seine Brille; also lächelte er.

Wir stehen am offenen Fenster, die Abendsonne hat noch Glut, und wie du die Blätter im Hof rascheln hörst, sagst du nur leise: „Ach!“ Ich aber verstehe, was dein Ausruf bedeutet, etwa: „Jetzt kommt der Herbst!“

Mit unseren präzisen Uhren können wir zeitliche Verläufe und Ereignisse aufs genaueste messen; aber keine Uhr kann, was wir mit „jetzt“ meinen, zum Ausdruck bringen, wie wir mit dem Satz: „Jetzt kommt der Herbst.“ Mittels GPS und Satellitensonden können wir den Ort unseres Aufenthalts aufs genaueste angeben; aber kein über Lichtstrahlen den Ort exakt ermittelndes Orientierungssystem kann, was wir mit „hier“ meinen, zum Ausdruck bringen, wie wir mit dem Satz: „Hier liegt also meine Sonnenbrille.“

Indexwörter wie „hier“ und alle davon abgeleiteten wie „dort“, „darüber“, „darunter“, „rechts“, „links“ oder „geradeaus“ sowie „jetzt“ und alle davon abgeleiteten wie „früher“, „später“, „gestern“, „morgen“, „damals“ oder „einst“ sind ein spezifisches Element der menschlichen Sprache. Sie verweisen auf den Blickpunkt und die Perspektive dessen, der spricht, und stehen in einer internen Relation zur Perspektive dessen, dem die Äußerung gilt.

Manchmal verlangt diese Relation eine Umkehrung des Sinns auf Seiten des Empfängers; denn, was für dich rechts ist, ist aus meiner Warte links, was für dich hier ist, ist für mich dort.

Wir finden demnach bestätigt, was die Phänomenologen, Karl Bühler, Heidegger oder Wittgenstein in minutiösen Analysen ans Licht brachten: daß neben dem deskriptiven Satzkern die Perspektive der ersten Person und ihrer Spiegelung in der zweiten Person ein die menschliche Sprache konstituierendes Element darstellt.

Unsere deskriptiven Sätze bedürfen einer grammatisch-logischen Mannigfaltigkeit, die sich mindestens aus Namen für Dinge und Ereignisse und ihnen zugeordneten Eigenschaften beziehungsweise aus Quantoren, Namen und ihnen zugeordneten Relationen oder Funktionen zusammensetzt.

Dagegen verweisen wir mit der Verwendung der ersten und zweiten Person weder auf Objekte und Eigenschaften in der Welt noch auf die Bedeutung logischer Operatoren, sondern gleichsam auf die Grenze unserer Welt und die Grenze des sinnvoll Sagbaren.

Wir können bezweifeln, ob unsere Weltbeschreibungen zutreffend sind, ob beispielsweise die Brille, die wir in der Schublade entdecken, tatsächlich die unsere ist, oder die Frucht, obwohl sie leicht faulig schmeckt, tatsächlich verdorben ist. Aber wir können unter normalen Umständen nicht daran zweifeln, daß wir eine Brille in der Schublade gefunden haben oder daß uns die Frucht einen fauligen Nachgeschmack hinterläßt.

Daß wir auf der einen Seite unsere Weltbeschreibungen bezweifeln können, impliziert die Möglichkeit, sie auf der anderen Seite durch wohlerwogene Gründe und empirisch belegte Argumente zu stützen und zu rechtfertigen, abgesehen davon, durch logischen Scharfsinn ihre Kohärenz oder Inkohärenz mit unserem Netzwerk von Überzeugungen und ihre Konsistenz oder Inkonsistenz mit anerkannten Axiomen nachweisen zu können.

Aufgrund des semantisch fundamentalen deskriptiven Kerns der menschlichen Sprache sind wir gleichsam zur Teilnahme an einem vernunftgeleiteten Gespräch berufen, auch wenn uns eingewurzelte Willensschwäche, epistemische Blindheit oder ideologische Verblendung dabei nicht selten allzu vorlaut werden oder kleinlaut verstummen lassen.

Unsere Weltbeschreibungen sind die Samen des semantischen Kerns der Sprache.

Unsere Fähigkeit, ich sagen zu können, ist der fruchtbare Humus, in dem der semantische Kern der Sprache aufgeht.

Wenn wir uns genötigt fühlen, Zweifel an unseren Weltbeschreibungen mittels Rückgriff auf bessere Argumente und Belege auszuräumen oder unsere Annahmen angesichts des Einspruchs des Weltgeschehens zu revidieren oder ganz aufzugeben, bekunden wir damit, daß wir für unsere Aussagen Verantwortung zu übernehmen bereit sind.

Haben wir doch Regularien und Korrektive gleichsam disziplinarischer Natur wie Lob und Tadel, Anerkennung und Kritik in das Spiel der Argumente eingebracht.

In dem Maße, in dem unsere Rede sich als Teil eines vernunftgeleiteten Gesprächs versteht, erwächst aus der scheinbar neutralen sprachlichen Kompetenz ein Ethos der Sprache.

Das Ethos der Sprache verpflichtet uns dazu, die Grenze des sinnvoll Sagbaren möglichst genau zu umreißen und zu achten und den Unsinn, das Gerede, den sentimental verlogenen oder realitätsblind verstiegenen Sprachwust mittels grammatisch-logischer Analyse zu entlarven und zum Schweigen zu bringen.

Nicht jeder kann über alles (mit-)reden. Das Ethos der Sprache eröffnet keinen Diskurs einer universalistischen Moral.

Die Fähigkeit, logisch präzise und argumentativ komplex zu denken, sowie der Wille, für sein Wort gerade zu stehen und für seine Aussagen Verantwortung zu übernehmen, sie im Lichte der Erfahrung zu revidieren, zu verwerfen oder angemessene neue zu formulieren, sind über die Mitglieder verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen ähnlich wie die allgemeine Intelligenz sehr ungleich verteilt. – Daraus berechnet sich die Höhe des ewigen Tributs der Ethik an die rohe, unbezähmbare Natur.

Mit dem kriminellen Charakter, der aufgrund natürlicher Neigungen auf Betrug und Übervorteilung aus ist, wollen wir weder verhandeln noch Verträge machen.

Der Wüstling versteht die Sprache der Liebe nicht.

Der einfältige Spießer, der sich mit seinem Satireblatt auf das stille Örtchen zurückzieht, wird nimmermehr vom zauberischen Fächer Mallarmés angeweht.

Wir können uns fragen, ob das Lächeln des Freundes Freude und Zufriedenheit ausdrückt oder einen Anflug von Ironie und Schelmerei hat; aber wir täuschen uns unter normalen Umständen nicht darin, daß er lächelt.

Wenn wir die in der Schublade gefundene Brille für ein Insekt halten, könnte diese Bizarrerie entweder darauf hindeuten, daß es sich um einen Traum handelt oder daß wir verrückt geworden sind. Wenn wir das Lächeln des Freundes nicht mehr als solches wahrnehmen können, deutet dies darauf hin, daß wir aufgrund einer nervösen oder schweren seelischen Störung physiognomisch bedeutungsblind geworden sind.

Bedeutungsblind und unfähig, uns sprachlich mitzuteilen oder die sprachlichen Äußerungen anderer zu verstehen, werden wir, wenn die Ich-Funktion wie bei der Psychose in gravierender Weise zerrüttet ist.

Der seelische Tod gibt uns eine Vorahnung des wirklichen Sterbens.

Das Lächeln, das zu einer leeren psychotischen Maske erstarrt ist, verweist uns auf die Tatsache, daß, was wir Seele nennen und nur in der alltäglichen Verwendung des Pronomens der ersten Person bewahrheiten können, leiblich vollständig inkarniert ist.

Die mit der Perspektive der ersten Person uns unentrinnbar gegebene singuläre Position der Existenz ist kein Ausdruck eines animalischen Egoismus, denn sie ist es, die uns in die Lage versetzt, von uns Abstand zu nehmen, uns gleichsam aus dem ununterbrochenen Gerede der Welt zurückzunehmen, ins Schweigen zu fliehen, im Verborgenen zu leben, ja unser Dasein für andere oder ein Ideal hinzugeben.

Es gibt allerdings eine Sprache, die sich dem Verantwortungsethos sprachlicher Vernunft entzieht, ohne gleichsam verrückt zu werden, auch wenn sie manchmal der Sprache des Wahnsinns ähnelt, die Sprache der Dichtung. Ihr semantischer Kern ist freilich nicht deskriptiv, sondern evokativ, was sie benennt, sind keine Objekte der Welt, sondern Quasi-Objekte einer imaginären Welt, und was sie ihnen an Eigenschaften zuspricht, sind keine wirklichen Eigenschaften, sondern gleichsam Schatten und verzerrte Spiegelbilder wirklicher Eigenschaften, die wir verharmlosend metaphorisch nennen.

Obwohl die Sprache der Dichtung nicht auf das Ethos der sprachlichen Vernunft und also weder auf Wahrheit noch auf objektives Wissen verpflichtet ist, sondern die grammatisch-logische Mannigfaltigkeit unserer normalsprachlichen Aussagen spielerisch verkürzt oder symbolisch überdehnt, vermag sie dennoch gleichsam wie mit einem Kompositfoto von übereinandergelegten Porträtaufnahmen aus unterschiedlichen Lebensphasen eine tiefere Wahrheit über die Physiognomie unseres Seelenlebens zum Ausdruck zu bringen.

Ob die Sprache der Dichtung ein eigenes Ethos aus sich hervorbringt, ist eine philosophisch kaum gestellte Frage.

 

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