Was ist deutsch?
Eine semantisch-historische Skizze
Was heißt es deutsch oder ein Deutscher zu sein? Nun, es bedeutet, zu glauben, daß man ein Deutscher ist, und für diese Überzeugung wichtige Gründe anführen zu können. Die Ansicht, die feste Überzeugung oder der Glaube, deutsch zu sein, wird damit ein wesentlicher Teil der persönlichen Identität. Wer rechtens meint, ein Definiens des Deutschtums bestehe in der Tatsache, auf etliche Generationen deutscher Abstammung zurückblicken zu können, sagt prinzipiell nichts anderes; denn er impliziert mit seiner Aussage die Aussage, die generative Herkunft sei seiner Überzeugung nach ein wesentlicher Bestandteil seiner Identität oder ein wesentlicher Grund für seine Überzeugung, ein Deutscher oder deutsch zu sein.
Wer beispielsweise glaubt, ein Franzose zu sein, aber nie in Frankreich war noch französische Verwandte hat, geschweige denn der französischen Sprache mächtig ist, dagegen seit seiner Geburt als ein Herr Richard Schäufele ein gemächliches Dasein in Tuttlingen verbracht hat, dort zur Schule ging, einen komfortablen Schlendrian als Hausmeister des dortigen Amtsgerichts absolviert und den schwäbischen Zungenschlag mit keiner Silbe verleugnen kann, ist entweder der deutschen Sprache nicht völlig mächtig, denn er kennt offensichtlich nicht die Bedeutung des Wortes „Franzose“ oder leidet an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, ist aber kraft seiner Überzeugung, ein Franzose zu sein, noch lange kein solcher.
Daraus ersehen wir: Nicht bloß die Überzeugung, wer oder was man sei, gibt den Ausschlag, sondern die wesentlichen Gründe, die man für diese Überzeugung anführen kann. In diesem theoretischen Zugang reduzieren wir die scheinbare Frage nach einem substantiellen Was auf die semantische Frage nach den Gründen und einem kohärenten System von Glaubensüberzeugungen.
Gründe können wiederum mit Bezugnahme auf andere Gründe erklärt werden, wie die Erklärung des Grunds, den Übergang über den wackligen Steg zu vermeiden, darin besteht zu sagen, man wolle nicht in den Abgrund fallen und sich dabei schwer verletzen oder umkommen. Wir nennen diese Form der Begründung vernünftig oder rational, denn es erscheint uns vernünftig, Gefahren zu vermeiden.
Andererseits stoßen wir auf Gründe, die wir nicht weiter unter Bezugnahme auf andere Begründungsquellen erklären und weiter erhellen können. Denn zu fragen, warum es unvernünftig ist, sich unnötigerweise Gefahren auszusetzen, können wir nichts weiter sagen als: „So ist es eben!“ oder „So leben wir nun einmal!“ Wir nennen Gründe dieser Art letzte Gründe. Weil sie rational nicht weiter ableitbar sind, müssen wir sie nicht als unvernünftig und irrational ansehen.
Bei der Bezugnahme auf Gründe, die unsere nationale und kulturelle Identität betreffen, handelt es sich um solche letzten Gründe, die nicht weiter rational abgeleitet werden können. Wir verstehen uns als Deutsche wie der Römer als Italiener, der Londoner als Brite oder der Einwohner Barcelonas als Katalane. Wir stoßen hier wie bei der Erotik auf ein gleichsam triebhaftes Element, und ähnlich wie wir nicht zu sagen wissen, warum uns beim Anblick der Geliebten das Herz höherschlägt oder wir Spuren, Zeichen, Andenken des geliebten Wesens aufsammeln, hüten, verehren, geht es uns in Hinsicht auf die Leidenschaften, die mit dem Bekenntnis zur eigenen Herkunft und nationalen Zugehörigkeit verknüpft sind.
Es ist darum kein Zufall, daß nationale und kulturelle Identitäten immer schon und immer wieder aus sich heraus den Mythos erzeugen, der sich in Symbolen, Allegorien, Sagen, Fahnen wie der Nationalflagge und Liedern wie der Nationalhymne verbildlicht und ausspricht, ja, wir können so weit gehen zu sagen, daß sich ein Volk oder ein Verbund von Völkern durch den Mythos als Nation allererst konstituiert. So sehen wir es modellhaft an der Art und Weise, wie die Quellen der altrömischen Religion mit ihren Kulten der Hausschwelle, der Penaten und Laren, der Götter des Hauses, von Acker, Feld, Weide und Wald, des Wetters und der Mächte des Jahreskreises in den breiten Strom der von Vergil vollendeten Sage von der Herkunft und ewigen Bestimmung Roms münden.
Wir wollen hier im Wesentlichen zwei begriffliche Probleme klären:
1. Was sind im Unterschied zu zufälligen und unwesentlichen Gründen notwendige und wesentliche Gründe für die Überzeugung, ein Deutscher oder deutsch zu sein?
2. Wie müssen Gründe dergestalt zusammenhängen, daß die auf ihnen fußenden Überzeugungen von der eigenen nationalen und kulturellen Zugehörigkeit kohärent sind?
Ad 1:
Eine einfache und prägnante Bestimmung des Unterschieds zufälliger und wesentlicher Gründe geht so: Streiche (oder negiere) den Satz, in dem ein Grund angeführt ist, und schau, ob der Begriff, den er definieren oder rechtfertigen soll, unangetastet erhalten bleibt oder nicht (das heißt, unbrauchbar oder sinnlos wird). Streiche (oder negiere) den Satz „Die Katze mausert sich“ durch, und siehe, der Begriff, um den es augenscheinlich geht (Katze) bleibt unangetastet erhalten (denn Katze bleibt Katze, mausert sie sich nun oder nicht). Streiche (oder negiere) den Satz „Er ist der Überzeugung, ein Deutscher zu sein“, und der Begriff, um den es hier geht (Deutscher), wird unbrauchbar und sinnlos (denn einer, der leugnet, ein Deutscher zu sein, ist gemäß unserem semantischen Ansatz keiner, auch wenn er einen deutschen Paß vorweisen kann).
Man könnte meinen, es genüge tatsächlich, jemandes Personalausweis oder amtlichen Paß zu inspizieren, um hinreichend und mit der notwendigen Gewißheit über seine staatliche und nationale Zugehörigkeit und damit auch darüber, ob er ein Deutscher sei, ins Bild gesetzt zu werden. Doch Ausweise können gefälscht oder auf betrügerische Weise unter Angabe fiktiver Sachverhalte erschlichen worden sein. Es könnte der Tag kommen, an dem ein Unrechtsregime in Berlin das Ruder an sich reißt und den Namen „Bundesrepublik Deutschland“ in den Namen „Republik Ödland“ oder „Republik Kunterbunt“ ändert. Wir würden sodann demjenigen, den wir amtlich beispielsweise als „Ödländer“ anzusprechen hätten, nicht das Recht streitig machen, sich nach wie vor als Deutscher und als deutsch zu bezeichnen, soweit er gute Gründe dafür anzuführen wüßte.
Vielleicht können wir sogar so weit gehen und, jedenfalls um begriffliche Klarheit zu schaffen, einen Unterschied zwischen der Zugehörigkeit zum staatlichen Hoheitsgebiet oder der Unterordnung unter die staatsrechtlich gegebene Souveränität auf der einen Seite und der kulturellen Zugehörigkeit auf der anderen Seite annehmen, sodaß wir Folgendes feststellen können: Ein nach Amerika ausgewanderter Deutscher mag die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen, aber aufgrund seiner Überzeugungen und seiner Lebensweise, zum Bespiel als frommer, traditionell lebender Hutterer in Montana, an seiner Haltung und Überzeugung festhalten, ein Deutscher zu sein, währenddessen ein in Dortmund lebender Marokkaner wohl amtlich als deutscher Staatsbürger geführt werden mag, sich aber nicht als Deutscher versteht und wir ihn per defitionem auch nicht als solchen anzusehen genötigt sind, wenn er sich als strenggläubiger Moslem islamischem Kultus und der Scharia, dem islamischen Sitten- und Staatsrecht, unterstellt.
Der hoheitlich oder staatsrechtlich definierte Begriff nationaler Zugehörigkeit wäre demnach keine notwendige Voraussetzung oder kein wesentlicher Grund dafür, der Überzeugung, ein Deutscher zu sein, Bedeutung zu verleihen. Dennoch werden wir nicht anstehen, den semantisch vollen Bedeutungsgehalt der Begriffe „deutsch“ und „Deutscher“ in der Kombination beider Elemente, der hoheitlichen und der kulturellen Zugehörigkeit, festzumachen.
Wir glauben uns zu dieser Kombination aufgrund der Tatsache berechtigt, daß wir das hoheitliche Element des Begriffs auf die Nation eingrenzen können. Nation aber nennen wir das staatliche Hoheitsgebiet einer Ethnie oder eines mehr oder weniger homogenen Verbunds von abstammungsmäßig oder kulturell verwandten Ethnien, das durch deren führende Repräsentanten, meist Mitglieder der dominanten Ethnie, beherrscht, kontrolliert und verwaltet wird. Die ethnische und kulturelle Homogenität ist insbesondere in historisch in langen und oft qualvollen Geburtswehen hervorgegangenen und gewachsenen Staatsgebilden wie dem deutschen (denn von Staatsverbünden wie dem amerikanischen oder Imperien wie dem russischen oder chinesischen können wir hier absehen) erforderlich, wenn andernfalls die sittliche Ordnung des Gemeinschaftslebens Gefahr liefe, durch starke Diskrepanzen kultureller Einstellungen unterminiert und im Extremfall in Bürgerkriegen dem Zerfall preisgegeben zu werden. Die Nation ist staatsrechtlich betrachtet demnach durch die Grenzen ihres Hoheitsgebiets definiert, innerhalb deren das gesetzte Recht gilt. Eine für die Nation unabdingbare Aufgabe polizeilicher und militärischer Kräfte besteht in der Bewachung und dem Schutz ihrer Grenzen, was im Notfall natürlicherweise die bewaffnete Abwehr feindlich drohender oder invasiver Mächte einschließt.
Warum die Bestimmung durch den Souverän und die staatlich eingerahmten Strukturen und hoheitlich bedeutsamen Ereignisse keineswegs durch die semantischen Maschen fallen sollte, sehen wir, wenn wir uns ihrer historischen Dimensionierung und Grundierung zuwenden.
Wer vorgibt, historische Ereignisse wie die Entstehung der islamischen Weltanschauung und ihre sittlich kodifizierte Lebensweise sowie ihr imperiales Ausgreifen auf die Länder Nordafrikas, Asiens und Südeuropas, wie die Entdeckung und Kolonisierung Amerikas oder die Erlangung seiner Unabhängigkeit von der englischen Krone, wie die Französische Revolution, ihre institutionellen und moralischen Umbrüche sowie ihre ideologischen Kundgaben seien genau solche Ereignisse, deren Sinn und Auswirkungen er als Gründe dafür anführen könnte, sich als Deutscher zu verstehen, wird weder zufällige noch notwendige Gründe der Art vorweisen, die seine Überzeugung von seiner nationalen und kulturellen Zugehörigkeit stützen könnten, sondern gar keine Gründe.
Hier werden wir darauf gestoßen, daß die Unterschiede der Regierungsformen, in denen sich die nationale Hoheit darstellt, für die Bedeutung des Begriffs „deutsch“ keine notwendige semantische Relevanz aufweisen. Sonst wäre Goethe, der in einem kleinen Feudalstaat lebte, kein deutscher Dichter und Beethoven, der in einer Monarchie komponierte, kein deutscher Komponist. Ob jetzt der Demos oder das Vulgus herrscht und morgen eine neue Elite die repräsentative Demokratie, repräsentative Demokratie, also die Herrschaft durch Negativauslese des schlechten Geschmacks und der Mittelmäßigkeit, aufs überfällige Altenteil setzt, ramponiert die Semantik des Begriffs „deutsch“ nicht im geringsten.
Wer dagegen einschneidende historische Bezugsgrößen wie die Christianisierung der germanischen Stämme und Völker durch irische und angelsächsische Mönche im Auftrag der Kurie, die Translatio Imperii Romani unter Karl dem Großen, die karolingische Bildungsreform und ihre Ausstrahlung in Klöster und Universitäten, den Streit zwischen den deutschen Königen und Kaisern und dem römischen Stuhl, das föderale Wahlkaisertum des Römischen Reiches Deutscher Nation, das Wirken der lutherischen Bibelübersetzung auf die deutsche Sprache der Klassik, die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg, den Aufstieg Preußens unter Friedrich dem Großen, die Gründung des Deutschen Reichs unter Bismarck, Hitler und die üblen Folgen, um nur diese zu nennen, als Bestandteile seiner kulturellen Identität zumindest intuitiv erfaßt, dem werden wir zubilligen, zumindest einige wesentliche Gründe angeführt zu haben, die seine Überzeugung, ein Deutscher zu sein, unterfüttern.
Ad 2:
Die Kohärenz der wesentlichen Gründe, die wir zur Rechtfertigung der Überzeugung, ein Deutscher zu sein, ins Feld führen, ergibt sich aus der geschichtlichen Tatsache, daß sie nicht ins Belieben gestellt und keine Sache willkürlicher Auswahl darstellen. Die Macht der fatalen Nötigung, der wir nur um den Preis des Selbstverlustes ausweichen könnten, zeigt sich in der Zugehörigkeit zu einer historisch gewachsenen Schicksalsgemeinschaft und den sie tragenden und durchwaltenden Erinnerungen oder Überlieferungen. Es ist jenes Erbe der Vorfahren, seien es Reichtümer materieller oder kultureller Natur, seien es Schulden moralischer oder güterrechtlicher Natur, das auszuschlagen uns ins geschichts- und gesichtslose Abseits verschlüge.
Allerdings können aus dem Repertoire des historischen Gedächtnisses scheinbar beliebige Lose gezogen werden und immer gibt es so oder so einen Treffer. Doch sind, dies gilt es zu beachten, die Verfahren der Auswahl selbst historisch bedeutsame Ereignisse und unterliegen zentripetalen und zentrifugalen Kräften, die von den beteiligten Akteuren ausgelöst werden. So hatten und haben die herrschenden Eliten ein vorwaltendes Interesse daran, die Schuld der deutschen Nation am Zweiten Weltkrieg und seinen Gräueln, allen voran an der Judenverfolgung, ins mediale und curriculare Rampenlicht zu stellen, um mit dem pseudomoralisch oder hypermoralisch gehätschelten schlechten Gewissen der Deutschen ihre politische Agenda voranzutreiben, nämlich die nationale Einheit des Landes zu schwächen und mittels Währungsunion und Delegation nationaler Aufgaben an übernationale Instanzen wie die EU oder die UN in eine übernationale buntscheckige Uniform zu stecken.
Den Wunsch, die markanten Züge und Eigenheiten, das Lokalkolorit und das atmosphärisch singuläre Sfumato, den herben Duft deutschen Eigensinns aufgrund einer eingefressenen Germanophobie zu verwischen, zu neutralisieren oder zu tilgen, finden wir allenthalben, beim Management global ausgerichteter Unternehmen genauso wie bei postmodernistisch beschwipsten Feuilletonisten der Lifestyle-Gazetten – vom Rassenvermischungswahn dumpfer Antinationalisten zu schweigen. Die Knoten in diesem verschlungenen Band antideutscher Ressentiments aufzudröseln ist hier nicht unsere Aufgabe. Ein Hinweis bietet immerhin das Motiv der Angst vor der Freiheit – der Freiheit, man selbst, souverän, widerspenstig zu sein und angesichts der Drohkulisse eines amtlich verordneten moralischen Universalismus das Bekenntnis zur Eigenliebe zu wagen.
Wer sich an was oder wen erinnert, ist also eine Frage des kulturellen Kampfes und muß auf dieser Ebene ausgetragen und ausgefochten werden. Dennoch gilt die allgemeine semantische Forderung, daß die Inhalte des kollektiven Erinnerns kohärent mit der Absicht zusammenstimmen müssen, die kulturelle Identität sinnvoll zu definieren.
Äneas trägt den alten Vater Anchises aus dem brennenden Troja, den Sohn Ascanius an der Hand, er führt die Schutzgötter seiner Herkunft ins italische Lavinium, wo ihnen von den Lenkern des römischen Staats bis in historische Zeiten kultische Verehrung gezollt wird. Die Penaten sind die Allegorie des kulturellen Erbes und der Überlieferung, die uns eine Art religiöser Scheu und Pietät einflößen. Der Kampf um die Selbstbehauptung der nationalen Souveränität hat das Weiterleben der Penaten oder das Fortwirken des kulturellen Erbes zum Auftrag und Ziel.
Die Wahrheit der Überzeugung davon, wer man ist, erweist sich an den Opfern, die man zu ihrer Bewahrheitung zu bringen bereit ist. Ja, im Extremfalle äußerster Bedrohung und Gefährdung des Vaterlandes, dessen Namen man trägt, schließt ein solcher Einsatz das Opfer des eigenen Lebens ein. Unter dem Mantel des Bürgers kommt in der Bewährungsprobe der Ausnahmesituation der Soldat zum Vorschein – oder der Partisan.
Doch werden die Alis und Mohammeds in den kommenden Schlachten neuer Kultur- und Glaubenskriege die Monumente deutscher Geschichte und Kunst wenn nicht mit der Waffe so doch mit der deutschen Fahne in der Hand symbolisch verteidigen oder die Klöster, Dome und Kirchen – so sie nicht bis dahin von einem am strengen und eifernden Gott des Leviticus und der Königsbücher irre gewordenen deutschen Klerus längst entweiht und profanisiert worden sein sollten? Dies wird die hohe Zeit der Not und der Reinigung, in welcher der deutsche Name neuen Glanz erlangt und die Staatsbürgerschaften neu verteilt werden.
Die Bestimmung, deutsch oder ein Deutscher zu sein, bewährt sich demnach an der Bereitschaft des Verzichts und der Opfer, die man auf sich zu nehmen gewillt ist, um dem deutschen Namen Ehre zu erweisen. Das beginnt mit den vom Souverän eingetriebenen Steuern, die man so lange bereitwillig entrichtet, als ihre Verwendung als sinnvoll anerkannten Gemeinschaftszwecken zufließt, und endet mit den freiwilligen und obligaten Pflichten der Selbstversorgung durch Arbeit, der Erziehung, des sozialen Engagements, der Fürsorge für die gebrechlichen Eltern oder der Nothilfe noch lange nicht. Denn auch die sittlichen Ordnungen schränken unsere Willkür und Selbstherrlichkeit ein, sei es, daß wir den Hof fegen, nicht auf die Straße spucken, den garstigen Nachbarn höflich grüßen oder das Nachbarskind betreuen.
Der Sinn der Entbehrungen, die der einzelne für die Gemeinschaft auf sich lädt, erfüllt sich einerseits im Bestand und der Entfaltung der institutionellen Ordnungen und Einrichtungen, die sein Leben rahmen und sichern – vom Arbeitnehmergehalt und Kapitalzins über die Energieversorgung bis hin zur freien Ausbildung, Sozialfürsorge und Rente.
In den alten mediterranen Kulturen gewahren wir auf der anderen Seite einen überquellenden Reichtum an festlichen Anlässen und gemeinschaftlichen Feiern, die von einem religiös grundierten Jahres- und Festkalender zum Ausgleich all der vielen dem Gemeinwesen entrichteten Opfer und Entbehrungen dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben waren; auch die Kulturen der deutschen Landschaften waren einmal dank der Einhaltung des kirchlichen Festjahres von mediterranem Lebens- und Festgeist durchdrungen. Hier sehen wir allenthalben im Bereich der sogenannten Kultur des Events und der Selbstverherrlichung, ob in Sportstätten und Theatersälen, der Idiotie von Fernsehshows nicht zu gedenken, ein gerüttelt Maß an Verflachung und Vulgarisierung. Einzig in den Konzertsälen und Opernhäusern gedeiht noch da und dort der Sinn für das Sublime, wenn sie sich die Ehre lokaler Traditionen auf ihre Fahnen schreiben.
Die größte Gefahr, die Gründe für die Überzeugung, sich als deutsch und Deutscher zu verstehen, resigniert oder in einer Art selbstzerstörerischem moralischen Enthusiasmus fahren zu lassen oder zu verleugnen, weht allerdings der eisige Wind der kulturellen Entwurzelung durch globalisierende oder den Herkunfts- und Nationalstolz zersetzende Institutionen wie die Europäische Union ins Haus der hemmungslosen oder devoten Gemeinde, die impotent wurde, seine Schwelle zu hüten, und seine Infiltration und Besetzung durch feindliche Mächte als Ausweis von Großherzigkeit und Toleranz mißversteht oder gar feiert.
Sich dagegen zur Wehr zu setzen, ist einerseits eine Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln und die Leitsterne schöpferischer Größe von der mittelalterlichen deutschen Epik und Lyrik, über Goethe, die Romantiker bis hin zu Hugo von Hofmannsthal und Stefan George vonnöten, von der großen deutschen Musik von Bach bis Schubert und Wagner zu schweigen. Andererseits gebietet die Überfremdung des Eigenen durch aufgenötigte kulturelle Entweihungen und kulturvernichtende Migrationen, auch und gerade wenn sie durch ideologisch vergiftete Feinde der Nation und nationalen Kultur, vulgo Intellektuelle oder Medientreibende, angestiftet werden, legitimen Widerstand, der in Ausnahmelagen illegale Mittel nicht zu verschmähen braucht – denn wie die mutige Entscheidung der Briten, dem Zwangsregime Brüssels den Rücken zu kehren, oder die heroische Willensbekundung der Katalanen, sich als freies Volk auf freiem Grund zu konstituieren, vor aller Augen demonstrieren, beginnt schöpferische Legitimität meist an der Grenze zur Legalität.
Resümee:
„Deutsch“ ist der Name einer nationalen hoheitlichen und kulturellen Zugehörigkeit, einer Zugehörigkeit, die eine Überzeugung von der begründeten Anwendung des Begriffs auf seinen Träger voraussetzt. Ein Deutscher oder deutsch zu sein kommt nicht ohne die auf wesentliche Gründe verweisende Überzeugung aus, ein Deutscher oder deutsch zu sein, denn wie wir sahen, ist eine rein faktische Begründung, wie der Vorweis des Personalausweises, semantisch nicht hinreichend, um die Anwendung des Begriffs in allen relevanten Fällen zu rechtfertigen. Die wesentlichen Gründe, die für die Überzeugung angeführt werden können, sind rational nicht weiter ableitbare letzte Gründe, denn sie entstammen dem historischen und mythischen Gedächtnis der Schicksalsgemeinschaft, die seine Inhalte, die kollektiven Erinnerungen und Überlieferungen, als gemeinschaftsstiftend auffaßt und mittels Bildungseinrichtungen und Ritualen der Erinnerung weitergibt. Diese Inhalte sind nicht ins Belieben des einzelnen gestellt, sondern wohl historisch kontingent, aber semantisch notwendig und kohärent (daher sprechen wir rechtens von Schicksal, denn dies ist eben die Einheit von historischem Zufall und Notwendigkeit). Die Anwendung des Begriffs wird sinnlos, sobald das kulturelle Erbe, aus dessen Gehalten er sich begründet, verfällt und mehr und mehr vergessen wird. Daher ist eine rein substantielle Definition des Begriffs „deutsch“, beispielsweise durch eine Ahnentafel, semantisch nicht ausreichend. Denn wir haben Phantasie genug, uns die alteingesessenen Einwohner dieses Landes oder ihre Nachkommen als solche vorzustellen, denen wir mangels kultureller Identität den mehr oder weniger honorigen Titel der Deutschen in Abrede zu stellen gewillt wären. Sie gehörten, um Nietzsches Wort zu paraphrasieren, zu den ihrer kulturellen Identität und Eigenart beraubten letzten Menschen, einer geschichtslos dahindämmernden, geistig grauen, ethnisch wahllos bis ins Fratzenhaft-Groteske vermischten Masse, die unsere Kirchen und Dome als Lagerhallen benutzt und ein babylonisches Idiom radebrecht, das ihr die Gedichte der Goethe, Hölderlin und Trakl in ein unverständliches Gekritzel und Gewirr enigmatischer Zeichen entrückt.
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