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Was der Brauch ist

23.03.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Philosophieren heißt auch, unser Sprachgefühl soweit zu verfeinern, daß wir die kleine Erbse unter der schweren rhetorischen Matratze spüren; das dünne Haar in der dicken Theoriesuppe sehen.

 

Symbolische Handlungen wie die Begrüßung sind (bei uns) Brauch.

Wir finden oder springen von „grün“ zu grün. Wir finden vom „Wald“ in den Wald.

Wir sollten uns nicht im Wald der Zeichen verirren.

Etwas, was sich von selbst versteht, muß, wenn auch nur von fern, wenn auch noch so matt, durchschimmern.

Wenn wir jemandem erklären wollen, worum es beim hiesigen Brauch der Begrüßung geht, sollen wir auf zwei Leute zeigen, die sich die Hand geben oder die Hände schütteln? – Sie könnten sich auch gerade voneinander verabschieden.

Sich die Hände zu waschen kann eine hygienische Maßnahme sein oder ein symbolischer Akt der Reinigung, der sich in eben jener Handlung ausdrückt, die wir eine hygienische Maßnahme nennen, falls sie im Bad und nicht vor einem heiligen Ort stattfindet.

Das, was wir Reinigung nennen, hat im einen und anderen Fall unterschiedlichen Sinn; aber die Verschiedenheit beruht auf einer Verwandtschaft, die sich in gewissen Analogien und Ähnlichkeiten ausdrückt.

Wir gehen ein Tal hinan, vorbei an Blumengärten, Obstfeldern, Weinbergen und kleinen Wäldern; auf der Höhe angekommen, erblicken wir das Tal und übersehen die Reihe der von uns beim Aufstieg nach und nach erlebten Ansichten auf einen Blick, wenn auch in umgekehrter Abfolge.

Wir erblicken von der Anhöhe mehr als das, was wir im provinziellen Umkreis unserer eingeschränkten Sicht in der Ebene gesehen haben. Aber wir können nicht sagen, daß dies Mehr der Höhe das Wenige des Flachlands aussticht, verbessert oder gar „widerlegt“. Wir haben einen besseren Überblick und sehen, daß die Hütte, von der wir ausgingen, in der Nähe eines Baches liegt, dessen Verlauf wir allererst von hier oben erfassen.

Doch daß die blauen Blumen neben den roten Iris und Rosen sind, solche Feinheiten kannst du aus der Höhe und in solchem Abstand nicht erkennen.

Wir nennen das Händeschütteln eine Form der Begrüßung und die Begrüßung bezeichnen wir als einen hier üblichen Brauch. Wenn wir jemandem erklären wollen, was ein Brauch oder hierzulande der Brauch ist, sagen wie „die Begrüßung“ und verweisen zur Verdeutlichung und zum besseren Verständnis auf zwei Leute, die sich treffen und sich die Hände schütteln.

Wenn es die Eskimos und Japaner anders halten (und wie die Ethnologen illustrieren, verschiedene Völker verschieden), verstehen wir, was jene machen, die sich bei der Begrüßung an der Nase berühren oder ehrfurchtsvoll voreinander verbeugen, als dasjenige, was wir machen, wenn wir uns die Hände schütteln – per analogiam.

Doch wenn wir uns nicht zur Begrüßung die Hände schüttelten (oder andere Gesten vollzögen), verstünden wir nicht, was die Eskimos tun.

Was immer wir denken oder empfinden mögen, wenn wir jemandem zur Begrüßung die Hand reichen, wir vollziehen den Brauch und zeigen, daß wir im gemeinsamen Haus der Sittlichkeit wohnen.

Weil der Vollzug des Brauchs sich neutral zu demjenigen verhält, was dabei in unserem Kopf spukt, können wir davon ausgehen, daß wir die Bedeutung solch elementarer sozialer Vorgänge wie die Begrüßung nicht als mentales Ereignis identifizieren können oder müssen.

Daß wir die Bedeutung der sozialen Konvention der Begrüßung verstanden haben, zeigt sich, wenn wir dem ehemaligen Freund, von dem wir uns verraten fühlen, bei einer Begegnung den Gruß verweigern.

Die Ethnologie und Verhaltenspsychologie können uns nicht erklären, was (bei uns und andernorts) der Brauch oder eine Begrüßung ist, wenn wir es nicht zuvor schon verstanden haben.

Wir begrüßen diejenigen, die im engeren und weiteren Sinne zu uns gehören; und wiederum grüßen uns diejenigen, die sich im engeren und weiteren Sinne zu uns gehörig fühlen.

Wenn wir uns von einem Menschen oder einer Gruppe lossagen, grüßen wir sie nicht (mehr); wenn wir von einem Menschen oder einer Gruppe als nicht (länger) zugehörig betrachtet werden, werden wir von ihnen nicht (mehr) gegrüßt.

Wir verlieren an Ansehen, wenn wir von angesehenen Personen nicht mehr gegrüßt oder eingeladen werden.

Zur Grammatik der Begrüßung gehört, daß sie das Gegenteil der Verabschiedung, aber das Komplement der Einladung darstellt.

Um die Grammatik eines Brauchs zu erlernen, bedarf es keiner Psychologie oder psychologischen Erklärung; wie wir auch keine Psychologie brauchen, um die Grammatik des Lateinischen zu erfassen.

Psychologisch-genetische Erklärungen, wie daß der Handschlag die Wehrlosigkeit des Grüßenden bezeigt, sind so einfältig und unfruchtbar wie die Hypothese, der Begrüßungskuß sei ein Residuum der frühkindlichen Mutterbindung oder der Aberglaube eine Art infantile Physik.

Willkommen und Abschied sind entscheidende Wegmarken auf dem Lebensweg und die sie umrankenden oder stützenden Formeln, Gesten, Rituale sprechen mit dem Atem vitaler Mächte und Instinkte.

Für den Gläubigen ist die Geste, die Ikone zu küssen, Ausdruck der Verehrung. Für den Liebenden, das Bild der Geliebten zu küssen, Ausdruck seiner Hingabe. Das erste ist ein Brauch, nicht das zweite.

Die Gesten religiöser Verehrung können den Gläubigen abverlangt werden, die Rituale des Eros gehorchen keiner verbindlichen Konvention.

Wir könnten die Frage mittels einer Geste wie das Händeklatschen, Pfeifen oder Fingerschnippen kenntlich machen. Daß wir es durch Anheben der Satzmelodie machen, müssen wir nicht damit erklären, dies sei eben weniger aufwendig und ökonomischer.

Der Aufwand und das Gepränge entscheiden nicht über den Sinn und die Funktion eines Brauchs. Nichts überschwänglicher, üppiger, aufwendiger als das archaische Begrüßungszeremoniell am Hof des persischen Großkönigs oder die Morgenaudienz des französischen Sonnenkönigs. Nichts verhaltener und sublimer als die alte Sitte, der Dame zur Begrüßung die Hand zu küssen.

Eine Einladung aus fadenscheinigen Gründen abzulehnen kann den Willen kundtun, nicht zum Kreis der Geladenen gerechnet zu werden. Den Grüßenden zu schneiden, dem, der die Hand reicht, die seine zu entziehen, drückt Verachtung aus.

Wir müssen denjenigen, dessen Gruß wir erwidern, nicht sympathisch finden oder schätzen, doch wir entrichten ihm die echte Münze der Hochachtung.

Jene, die niederknien und dem hohen Würdenträger den Siegelring küssen, können dies, anders als der Liebende, der das Bild der Geliebten küßt, ohne innere Anteilnahme tun.

Der hohe Würdenträger gibt eine Audienz und wird feierlich begrüßt; die Freunde reichen sich ihre Hand auf Augenhöhe. Das eine bezeichnen wir durch einen einstelligen Relationsausdruck (X begrüßt Y), das andere durch einen zweistelligen Relationsausdruck (X und Y reichen sich die Hand).

Mit der Begrüßungsformel wird ob mündlich oder schriftlich ein Tor geöffnet, eine Sequenz angekündigt: ein Gespräch, eine Mitteilung.

Das Formelhafte des sprachlichen und gestischen Ausdrucks ist ein Kennzeichen dessen, was wir Brauch, Gepflogenheit oder soziale Institution nennen.

Ein Roboter könnte Begrüßungsrituale und Grußformeln nach Programm simulieren, aber nicht vermuten, daß der vorbeiwackelnde Genosse, der sich nicht die Bohne um ihn schert, entweder zu zerstreut ist, um ihn wahrzunehmen, oder indigniert „nach unten blickt“ und den Gruß verweigert, weil er aufgrund einer Zurücksetzung oder Mißachtung den Beleidigten spielt.

Könnte er Vermutungen anstellen, käme der Roboter nur dahin anzunehmen, daß bei dem blasierten Zwilling wohl ein Schräubchen locker bzw. ein Sensor ausgefallen ist, aber sein Gebaren so frei von allem Sinn ist wie sein eigenes.

Roboter entwickeln keine Bräuche, das heißt keine Kultur.

Wir werden von unseren Bräuchen und Gepflogenheiten wie Kinder von ihren Schwimmhilfen über dem unruhigen Wasser der sozialen Ungewißheiten und kommunikativen Unbestimmtheiten gehalten.

Wer mutwillig oder romantisch-rebellisch gegen unsere Bräuche und Gepflogenheiten das Messer der höheren Gesinnung ungeheuchelter moralischer Nacktheit wetzt, riskiert oder will, daß wir in dieser trüben Brühe absaufen.

Die Gastgeschenke, die wir bei der Begrüßung dem Gastgeber zu überreichen pflegen, entsprechen in ihrem Wert sowohl ihrem als auch unserem sozialen Rang.

Es gibt keinen prinzipiellen moralischen Einwand post festum gegen archaische oder exotische Bräuche, und mögen sie unserem spätzeitlich-effeminierten Gefühl noch so grausam dünken, wie die Tieropfer bei den antiken Völkern (von Menschenopfern zu schweigen), die den Göttern gleichsam als Begrüßungsgeschenke dargebracht wurden, auf daß sie ihre Aufwartung im Tempel machten, um sie huldvoll entgegenzunehmen.

Keine Prinzipien einer angeblich höheren Moral können uns dazu herabwürdigen, Leute oder die Anwesenheit von Leuten oder den Andrang von Leuten zu tolerieren, die unsere Bräuche und Sitten, das über Generationen gewebte Netz unserer Lebensform, mißachten, verachten oder kraft ihrer einschüchternden Ausstrahlung aushöhlen und durch zerstörerische Akte zersetzen.

Gewiß, wir sehen den Wandel der Institutionen, die ihre Gestalt im Laufe der Zeit verändern; aber mehr noch die Gefahr unbedachter Exzesse, die ihr nährendes Blut zur Ader lassen.

Die Grammatik der Gesten muß wie die Grammatik der Sprache aus sich selber leben und schöpfen.

Sowenig wir die Grammatik der Sprache erfunden haben, sowenig die Grammatik der Gepflogenheiten.

Die sprachlichen Formeln und gestischen Formen von Begrüßung und Abschied gleichen in manchem Handschuhen; wir können den rechten nicht über die linke Hand stülpen und den linken nicht über die rechte Hand.

Der Zerstreute, der versucht, den rechten Handschuh über die linke Hand zu ziehen, gleicht einem, der beim Toast während einer Jubelfeier elegische Töne anschlägt oder bei der Trauerfeier einen obszönen Witz fahren läßt. Man kann psychologisch darin Fehlleistungen aufspüren; es handelt sich aber in erster Linie um grammatische Patzer.

Einer, der auf der Beerdigung in einer grellen Aufmachung, wie in einem Faschingskostüm, erscheint – ein Diogenes, ein satirischer Schelm, ein manisch Besessener? Oder einer, der Trauerkleidung für eine öde Form der Kostümierung ansieht.

Die Strenge, mit der wir oftmals Verletzungen jener Konventionen ahnden, die unsere Gepflogenheiten bestimmen, zeigt, daß wir hier nicht, ohne Mißverständnisse hervorzurufen, analog zu den Sprachspielen von Spielen der Geselligkeit sprechen können.

Wir können die sprachliche und gestische Ausstaffierung von Gebräuchen als Dekorum betrachten und mit einem Set rhetorischer Figuren und Topoi vergleichen.

Was geschähe mit unserem Drang, ins Unbekannte vorzustoßen, wenn wir die grammatische Form der Frage verlören?

Das Netz der Bräuche und Gepflogenheiten trägt uns wie ein feines Spinnenweb Tropfen, die in der Morgensonne funkeln. Freilich, sie können von einem Windhauch herabgeweht werden.

Ohne das Gewebe fielen die Tropfen auf den Boden, zerstöben auf dem Stein oder versänken in der Erde.

 

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