Warum es keinen Mount Everest der Theorien gibt
Inwiefern können wir sagen, daß die Theorie des Kopernikus nicht bloß eine andere Theorie als die Theorie des Ptolemäus darstellt, sondern sogar und in erster Linie eine bessere Theorie, und eine bessere Theorie, nicht nur weil sie die Phänomene einfacher, ökonomischer und effizienter erklärt, sondern weil sie die Phänomene richtig erklärt?
Zunächst müssen wir uns klarmachen, daß wir Eigenschaften wie „gut“ und „besser“ in einem zweifachen, ganz verschiedenen Sinne zuschreiben: Der Läufer, der beim Rennen als erster ins Ziel kommt, ist schneller als alle anderen Läufer gewesen und im Sinne des Maßstabs, den wir für die Überlegenheit im Wettrennen anlegen, ist er der bessere Läufer, besser als alle anderen. Es handelt sich hier um den funktionellen Sinn von Qualifizierungen und Auszeichnungen, die sich auf eine mehr oder weniger erlernbare Fertigkeit wie das Laufen, Schwimmen, Fahrradfahren, aber auch das Rechnen und das Gedächtnistraining beziehen.
Die Annahme, mittels eines Umwegs ein Ziel eher, schneller oder besser erreichen zu können, wenn es von einem Hindernis versperrt ist, ist in diesem Sinne besser als die Annahme, es auf geradem Wege oder wie wir sagen, mit dem Kopf durch die Wand, erreichen zu wollen.
Theoretische Annahmen dagegen können gut oder schlecht, besser oder schlechter sein nach Maßgabe ihrer Funktion, das, was sie darstellen, richtig oder falsch oder adäquat oder weniger adäquat zu repräsentieren.
Intentionalistische Theorien über das Verstehen sind besser als kausale. Wenn du weißt, daß Walter seinem Freund Manfred zugerufen hat, und Manfred ist deswegen stehengeblieben, um mit Walter zu plaudern, weißt du auch, daß Manfred Walters Zuruf gehört und verstanden hat. Du schließt demnach auf richtige oder korrekte Weise aus Vorgängen, die der allgemeinen Beobachtung zugänglich sind, wie dem Zuruf Walters und der Verhaltensänderung Manfreds, auf Vorgänge, die der allgemeinen Beobachtung unzugänglich sind, wie das Verstehen des Zurufs als eines Sprechaktes der Aufforderung und die Absicht, der Aufforderung zu entsprechen, durch das Verweilen des Angerufenen. Die Theorie, die du hier im Hintergrund hast, nämlich, daß wir bedeutsame Gesten und Äußerungen auf dem Hintergrund der intentionalen Struktur der sprachlichen Bezugnahme verstehen, ist besser als die Theorie, wonach Verstehen und Antworten nur metaphorische Ausdrücke für kausale Mechanismen der Konditionierung darstellen. Denn wären wir auf verbale Stimuli kausal so konditioniert, daß wir auf sie durch verbalen oder praktischen Output reagieren, ohne groß eine Wahl zu haben, könnten wir den Unterschied zwischen der konditionierten Reaktion auf einen halluzinierten akustischen Stimulus von der spontanen Reaktion auf den wahrgenommenen Zuruf nicht als Unterschied der nicht wahrheitsfähigen Aussage über den phänomenalen Bewußtseinszustand:„Manfred hat die Stimme seines Freundes Walter gehört“ von der adäquaten und richtigen Wahrnehmungsaussage: „Manfred hörte, daß ihm sein Freund Walter zugerufen hat“ erklären.
Die Annahme Newtons, daß der Apfel aufgrund einer auf alle Körper gleichmäßig wirkenden Schwerkraft zu Boden fällt, ist besser als die Annahme des Aristoteles, Körper würden durch einen verborgenen Impuls zu ihrem natürlichen Ort gezogen, weil letztere Annahme mit Hypothesen wie der Hypothese des natürlichen Orts und der Hypothese des inneren Impulses arbeitet, die wir nicht nachweisen und mittels der Theorie Newtons einfach streichen können.
Die Annahme, die Gleichmächtigkeit der Mengen der natürlichen und der rationalen Zahlen dadurch erweisen zu können, daß wir jeder natürlichen Zahl eine rationale Zahl zuordnen, ist besser als die Annahme, dasselbe dadurch erweisen zu wollen, daß wir auf das Ergebnis des Abzählens beider Zahlreihen warten, um ihre Gleichmächtigkeit ad oculos zu demonstrieren – ja, letztere Annahme ist nicht nur nicht besser, sondern schlechter, weil sie mittels dieser Methode gar nicht erwiesen werden kann.
Die Annahme des Kopernikus, daß sich die Planeten einschließlich der Erde in kreisförmigen oder elliptischen Bahnen um das Zentralgestirn der Sonne bewegen, ist besser als die Annahme des Ptolemäus, die Planeten einschließlich der Sonne bewegten sich in kreisförmigen Bahnen um die Erde, weil letztere Annahme der Zusatzhypothese der epizyklischen Eigenbewegungen der Planeten bedarf, um die Voraussagen der Wiederkehr der Planeten erklären zu können, Eigenbewegungen, die empirisch nicht nachweisbar sind.
Es geht nicht nur darum, daß die kopernikanische Theorie effizienter ist, weil sie mit weniger Hypothesen arbeitet als die ptolemäische, sondern daß sie im Vergleich mit der ptolemäischen Theorie richtig oder wahr ist, weil sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Beobachtungen übereinstimmt, während die ptolemäische mit weniger Beobachtungen übereinstimmt.
Wir sagen nicht, die Annahme des Kopernikus habe sich nicht nur als besser als die Annahme des Ptolemäus erwiesen, sondern als die beste Annahme zur Erklärung der Bahnen der Himmelskörper, weil wir in der Theorie Newtons, die die Bewegungen der Himmelskörper aus dem Wirken der Schwerkraft ableitet, eine bessere Theorie haben als die des Kopernikus, der mit der Zusatzhypothese arbeitete, daß die Kreisbahn als vollkommenste geometrische Figur dem Schöpfungswillen Gottes am ehesten entsprochen habe.
Die Annahme Einsteins, daß die Himmelskörper sich in bestimmten Bahnen bewegen, weil die Materie die Form und Struktur der Raum-Zeit konstituiert, ist besser als die Annahme Newtons, sie würden aufgrund einer geheimnisvollen Kraft in ihren Bahnen gehalten, weil sie die Zusatzhypothese eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit vermeidet, die mit unseren Beobachtungen der Relativität von Ereignissen nicht übereinstimmt. Denn auch unsere Uhren und Längenmaße werden aufgrund ihrer Bewegungen in der Raum-Zeit andere Ergebnisse messen als Uhren und Längenmaße, die sich relativ zu ihnen an anderen Raum-Zeit-Postionen bewegen.
Die Annahme Bohrs, daß ein Radiumatom vom Quantenzustand A in den Quantenzustand A* wechselt, der eine Überlagerung der Quantenzustände des noch nicht zerfallenen Radiumatoms A und des zerfallenen Radiumatoms B darstellt, ist besser als die Annahme Einsteins, daß sich das Radiumatom zunächst im Quantenzustand A und dann entweder im Quantenzustand A oder im Quantenzustand B befindet, weil sie mit den Ergebnissen der physikalischen Messung übereinstimmt, die dazu führt, daß der überlagerte Zustand A* sich in den Quantenzustand A oder den Quantenzustand B aufspaltet.
Warum können wir nicht sagen, hier halten wir innen und erkennen oder deklarieren, die Annahme X sei nicht nur besser als alle bisherigen Annahmen, sondern die beste? Nicht aus dem Grund, weil die Forschung und das Streben nach besseren Theorien und Erklärungen kein Ende zu finden scheinen, sondern weil die Annahme, X sei die beste Theorie, zu Paradoxien führt.
Wir können mit Grund annehmen, daß es einen höchsten Berg auf der Erde gibt, weil wir nachweisen können, daß alle anderen Erhebungen niedriger sind. Wir können mit Grund vermuten, daß es einen schnellsten Läufer gibt oder jemanden, der am besten rechnen oder sich an Ereignisse erinnern kann.
Nichts hindert uns an der Vorstellung, daß aufgrund der Aktivitäten der Kontinentalplatten Bergmassive aufgefaltet würden, die den Mount Everest überragten. Eine vor allen anderen ausgezeichnete Theorie indes aus ihren Annahmen ein Theorem darüber entwickeln können, warum es keine bessere Theorie geben kann als sie selbst. Eine Theorie, die in ihrer eigenen Metatheorie erklären könnte, warum sie besser ist als sie selbst, mündet augenscheinlich in einer Paradoxie.
Ein zwingender Grund dafür, daß es keine beste Theorie geben kann, besteht in der Tatsache, daß alle Theorien in dem Maße unvollständig sind, als sie sich nicht selbst enthalten oder aufeinander abbilden können. Das aber ist zugleich der Grund dafür, daß es andere und in diesem Sinne bessere Theorien geben kann, die die Ausgangstheorie enthalten, auch wenn sie selbst wieder unvollständig sein werden.
Viele Theorien können sich nicht nur deshalb nicht selbst erklären, weil sie notwendig unvollständig sind, sondern weil sie schlicht falsch oder paradox sind. Die Theorie Darwins kann sich nicht selbst erklären oder nicht erklären, inwiefern Theorien ihrer Art nach darwinistischen Erklärungsprinzipien entstehen und Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit beanspruchen können, weil sie die biologischen Prozesse der Menschwerdung unter Ausschluß des Prinzips erklärt, das aller Theorie und allem menschlichen Handeln zugrundeliegt: der Sinnhaftigkeit von sprachlichen Handlungen und der sprachlichen Bezugnahme, die wir als Intentionalität bezeichnen.
Die Theorie Freuds kann sich nicht selbst erklären oder erklären, inwiefern Theorien ihrer Art aus psychoanalytischen Erklärungsprinzipien entstehen und Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit erheben können, weil sie die psychischen Prozesse unter Ausschluß des Prinzips erklärt, aufgrund dessen Annahmen und Theorien wahr oder falsch sind, nämlich der Bedeutung unserer Wörter und sprachlichen Wendungen, die jede semantische Funktion einbüßen, wenn wir sie naturalisieren und als Effekt unbewußter Triebmechanismen auffassen.
Die Theorie Derridas kann sich nicht selbst erklären oder erklären, inwiefern Theorien ihrer Art entstehen und Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit erheben können, weil sie die Semantik unseres Verstehens von Texten unter Ausschluß des Prinzips erklärt, das ein Verstehen erst möglich macht, nämlich der Fähigkeit, bessere von weniger guten Texten zu unterscheiden, weil die einen das, was sie meinen, richtig und die anderen falsch repräsentieren.
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