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Walther von der Vogelweide, Owê

10.09.2016

Owê war sint verswunden     alliu mîniu jâr !
ist mir mîn leben getroumet,     oder ist ez wâr ?
daz ich je wânde ez wære,     was daz allez iht ?
dar nâch hân ich geslâfen     und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet,     und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic     als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich     von kinde bin erzogen,
die sint mir worden vremde     rehte als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren,     die sint træge unt alt.
daz velt ist unbereitet,     verhouwen ist der walt:
wan daz daz wazzer vliuzet     als ez wîlent vlôz,
vür wâr mîn ungelücke     wande ich wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge,     der mich bekande ê wol.
diu werlt ist allenthalben     ungenâden vol.
als ich gedenke an manegen     vil wünneclîchen tac,
die mir sint gar entvallen     als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.

Owê wie jæmerlîche     junge liute tuont,
den ê vil hovelîchen     ir gemüete stuont !
die kunnen niuwan sorgen:     wê wie tuont si sô ?
swar ich zer werlte kêre,     dâ ist nieman vrô:
der jugende tanzen, singen     zergât mit sorgen gar:
nie kein kristenman gesach     sô jæmerliche schar.
nû merkent wie den vrouwen     ir gebende stât:
die stolzen ritter tragent an     dörpellîche wât.
uns sint unsenfte brieve     her von Rôme komen,
uns ist erloubet trûren     und vreude gar benomen.
daz müet mich inneclîchen     (wir lebeten ie vil wol)
daz ich nû für mîn lachen     weinen kiesen sol.
die vogele in der wilde     betrüebet unser klage:
waz wunders ist ob ich dâ von     an vreuden gar verzage ?
ôwê waz spriche ich tumber man     durch mînen bœsen zorn ?
swer dirre wünne volget,     hât jene dort verlorn,
iemer mêre ouwê.

Owê wie uns mit süezen     dingen ist vergeben!
ich sihe die bittern gallen     in dem honege sweben:
diu werlt ist ûzen schœne,     wîz grüene unde rôt,
und innân swarzer varwe,     vinster sam der tôt.
swen si nû habe verleitet,     der schouwe sînen trôst:
er wirt mit swacher buoze     grôzer sünde erlôst.
dar an gedenkent, ritter:     ez ist iuwer dinc,
ir traget die liehten helme     und manegen herten rinc,
dar zuo die vesten schilte     und diu gewîhten swert.
wolte got, wan wære ich     der segenunge wert!
sô wolde ich nôtic armman     verdienen rîchen solt.
joch meine ich niht die huoben     noch der hêrren golt:
ich wolte sælden krône     êweclîchen tragen:
die mohte ein soldenære     mit sîme sper bejagen.
möht ich die lieben reise     gevarn über sê,
sô wolte ich denne singen “wol”     und niemêr mêre “ouwê”,
niemer mêre ouwê.

 

O weh

O weh, wie sind entschwunden     mir all die Jahre mein!
Hab ich geträumt das Leben     oder warʼs kein Schein?
Was ich wähnte, es wäre,     warʼs denn eigentlich?
Ich habe wohl geschlafen,     so warʼs nicht wissentlich.
Nun bin ich aufgewacht,     doch ist mir unbekannt,
was vordem mir vertraut     wie meine rechte Hand.
Leute und Land, wo als Kind ich     wurde großgezogen,
fremd sind sie mir alle,     als hätt mich Trug belogen.
Und meine Spielgenossen     sind müde nun und alt.
Gepflügt ist schon der Acker,     gerodet ist der Wald.
Flösse das Wasser gar anders,     als es weiland floß,
wähnte mein Unglück wahrhaft     größer ich als groß.
Manch einer grüßt verdrossen,     der mir einst nahestand.
Die Welt ist nur von Mißgunst     gefüllt bis an den Rand.
Sinn ich auf früher Tage     leichtes Glücklichsein,
ich finde keine Spuren,     als fiel ins Meer ein Stein.
Weh und nochmals weh.

O weh, wie junge Leute     schäbig sich aufführen,
einst mochten sie die Freude     hohen Sinnes spüren.
Die kennen nichts als Jammern,     o weh, was leben sie so?
Schau ich der Welt ins Antlitz,     da ist niemand mehr froh.
Tanzen, Lachen, Singen,     in Sorgen sichʼs verlor.
Nie hat ein Christ gesehen    dergleichen Klagechor.
Schaut nur, was der Frauen     Haargebinde macht!
Die stolzen Ritter tragen     bäuerliche Tracht.
Wir haben harsche Briefe     von Rom geschickt bekommen,
wir dürfen demnach trauern,     Freude ward uns benommen.
Das macht mir sehr zu schaffen     (wir lebten einst gar wohl),
daß ich nun statt zu lachen     nur noch weinen soll.
Die Vogelschar im Walde     macht traurig unsre Klage,
wen darf es da verwundern,     wenn freudlos ich verzage?
Weh, was rede ich Tor denn,     verleitet von bösem Zorn?
Wer weltlich Glück anstrebt,     hat himmlisches verlorn.
Weh und nochmals weh.

O weh, die süßen Sachen     gereichen uns nicht zum Spaß!
Ich sehe die Bitterstoffe     schweben im Honigglas.
Schön ist die Welt von außen     weiß und grün und rot,
doch innen von schwarzer Farbe     finster wie der Tod.
Wen immer sie irreführte,     er kann sein Heil nun erblicken:
Nur eine kleine Buße     wird ihn Todsünden entrücken.
Gedenket daran, ihr Ritter:     Das ist jetzt euer Ding,
ihr tragt die lichten Helme,     der Ketten harten Ring,
dazu die festen Schilde     und das geweihte Schwert.
Wollte Gott, daß ich noch wäre     solcher Segnungen wert.
Dann würde ich elender Mann     verdienen mir reichen Sold.
Ich meine nicht Landlose,     nicht der Großen Gold:
Der Seligkeiten Krone     würd immerdar ich tragen:
Die konnte einst Longinus     mit seinem Speer erjagen.
Könnt ich die Sehnsuchtsreise     nur fahren mit über See,
dann säng „wie schön!“ ich gerne     und nimmermehr „o weh“,
nimmermehr „o weh“.

 

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