Wahrnehmen und Wissen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wer von einer Tulpe sagt, sie sei ein Veilchen, liegt daneben. Wer von einer Fichte, sie sei eine Tanne, ist nahe dran.
Die Farbe Purpur sehen wir unmittelbar, auch wenn wir nicht in der Lage wären, sie korrekt zu benennen. Daß es sich bei dem gesehenen Etwas um eine Tulpe oder eine Fichte handelt, sehen wir nicht unmittelbar.
Eine Farbe zu sehen ist keine Form des Wissens, etwas als Tulpe oder Fichte zu sehen, ist es.
Eine Farbe als Rot oder Grün zu bestimmen ist eine Form sprachlichen Wissens, etwas als Blume, Tier oder Mensch ebenfalls; eine Blume als Tulpe, ein Tier als Katze, einen Menschen als Inuit zu identifizieren eine Form klassifikatorischen Wissens.
Empfindungen, wie die Empfindungen von Wärme, Feuchtigkeit, Rauhheit oder Schwere, sind vorsprachlich und vorbegrifflich. Das Wissen, daß es sich bei der Farbempfindung um die visuelle Empfindung jener Farbe handelt, die wir Rot nennen, tut nichts zur Empfindung hinzu.
Der Laie mag Rot nennen, was der Maler Purpur nennt; hier gibt es keinen Streit.
Doch kann der Maler eine Farbspektrum anlegen, in welchem Rot und Purpur nach dem Charakter und dem symbolischen Wert der Farben in einer Weise unterschieden sind, über die sich der Betrachter seiner Bilder in Kenntnis setzen muß, um sie angemessen betrachten zu können.
Tiere und Menschen können dem süßen und bitteren Geschmack von Früchten nicht nur einen gustatorischen Wert beimessen, sondern ihn auch als grobes Merkmal zur Unterscheidung von genießbar und nahrhaft, ungenießbar und gesundheitsgefährdend benutzen.
Wir haben lange auf den Freund warten müssen, doch die Unterredung mit ihm war nur kurz. – Wenn wir solche Zeitangaben quantifizieren und etwa sagen würden: „Ich habe 30 Minuten auf meinen Freund Hans gewartet, gesprochen habe ich mit ihm 10 Minuten“, käme nicht zum Ausdruck, was wir mit dem Satz „Ich mußte lange auf Hans warten, nur um kurz mit ihm nur zu reden“ meinen.
Zu sagen „Mir war heiß“ ist etwas anderes, als zu sagen „Die Temperatur stieg auf 30 Grad.“ – Manch einem wird auch bei Minusgraden heiß.
Wir können sehen, daß es sich bei der Flüssigkeit im Teich und dem Eis, zu dem er gefriert, um denselben Stoff Wasser handelt; nicht aber, daß der Morgenstern und der Abendstern derselbe Planet Venus sind. Wenn wir dagegen die Flüssigkeit und ein Stück Eis einer chemischen Analyse unterziehen, kommen wir zur analogen Feststellung ihrer stofflichen Identität wie der Astronom bei der Beobachtung des Umlaufs von Morgenstern und Abendstern.
Anzeichen und sprachliche Zeichen sind wahrnehmbare Instanzen von Bedeutungen; der Rauch, sagen wir, bedeutet Feuer, der Ausruf „Aua“ bedeutet Schmerz. – Wir können uns irren oder täuschen lassen, wenn der Rauch nur Nebel war, der Ausruf von einem Schauspieler auf der Bühne oder einem Simulanten hervorgebracht wurde.
Wir erkennen den Wunsch des Freundes, der uns von der anderen Straßenseite aus zuwinkt, auf ihn zu warten oder ihm entgegenzugehen; gestische Zeichen verraten uns die Absicht dessen, der sie vollführt.
Die Absicht ist nicht eine der äußeren Wahrnehmung unzugängliche mentale Entität, deren Dasein wir aufgrund der wahrgenommenen Geste erschließen oder auch nur vermuten, sondern sie zeigt sich als das, was sie ist.
Wir können uns irren, wenn wir uns von unserem Gegenüber in der Bahn, einem alten Mann, der eine große Sonnenbrille trägt, als wolle er seine glotzenden Augen dahinter verbergen, unangenehm fixiert fühlen; doch dann sehen wir, er trägt am Ärmel die gelbe Binde der Blinden.
Die Absicht kann sich in der wahrnehmbaren Geste allerdings auch, gleichsam wie unter einem Schleier, verbergen. – Jemand ruft seinen Freund an, mit dem er sich vor einiger Zeit gestritten hat. Die beiden unterhalten sich kurz – über belanglose Dinge; zugleich verbirgt sich oder zeigt sich unausgesprochen die Absicht des Anrufers, ein versöhnliches Zeichen zu übermitteln.
Die Absicht des Anrufers, ein versöhnliches Zeichen zu übermitteln, kann dem Angerufenen hinter der Belanglosigkeit des Gesprächs verborgen bleiben; doch nach einiger Zeit erfährt er, daß sein Freund verstorben ist, in jener Klinik, aus der er ihn angerufen hat. Im Lichte dieses Umstandes wird ihm seine Absicht offenkundig erscheinen.
Wir können keine Absichten hegen und kundtun, ohne eine gemeinsame Welt vorauszusetzen, in der andere Menschen Absichten hegen und kundtun.
Wir können nichts sagen, ohne eine gemeinsame Welt geteilter Sprache vorauszusetzen.
Als Robinson der Insel Welt könnten wir wohl Schmerz empfinden, doch nicht den Satz bilden „Ich habe Schmerzen“, wenn es niemanden gäbe, der ihn verstehen könnte.
Zu sehen, daß die Ampel für die Fußgänger auf Rot steht, impliziert die Annahme, daß die Ampel für die Autofahrer nicht auf Rot steht.
Die aufgrund der Farbempfindung erzeugte Annahme, daß die Fußgänger halten müssen, impliziert die Annahme, daß die Autofahrer nicht halten müssen. Die erste Annahme und die negierte zweite Annahme bilden ein logisch kohärentes Netzwerk.
Je höher wir die Ansprüche an die Standards unseres Wissens schrauben, umso weniger werden wir wissen, ja schließlich in radikale Skepsis fallen und wähnen, rein gar nichts wissen zu können.
So ließ Descartes seinen radikalen Zweifel selbst die Annahmen über das Dasein anderer und des eigenen Körpers zernagen, nur im das reine Cogito als unbezweifelbaren Kern des Wissens zurückerhalten zu können. Doch die Möglichkeit des Irrtums in der Wahrnehmung dadurch auszuschalten, daß man die Wahrnehmung selbst ausschaltet, scheint ein zu hoher Preis für ein Maß an Gewißheit zu sein, das wir im Normalfalle weder erreichen noch zu erreichen wünschen.
Wir wissen ja, daß die Ampel von Grün auf Rot gesprungen ist, weil wir es mit eigenen Augen gesehen haben; die Möglichkeit des Irrtums in der visuellen Wahrnehmung, wie sie der Grenz- und Ausnahmefall des Rot-Grün-Blinden darstellt, kann uns dies Wissen nicht erschüttern.
Was unsere sensorischen Empfindungen uns anzunehmen gebieten oder nahelegen, ist keine Interpretation dessen, was wir sehen oder hören und was andere anders interpretieren könnten. – Es sei denn, einer sagt, das höre ich als gis, während der andere sagt, das höre ich als as (die sogenannte enharmonische Verwechslung) – doch hier entscheidet der musikalische Kontext.
Wir sehen im Ente-Hasen-Bild entweder das eine oder das andere; wir sehen kein diffuses Etwas und deuten es sodann als das eine oder andere. Und wenn wir plötzlich statt der Ente den Hasen sehen, haben wir nicht willkürlich die Interpretation geändert, sondern spontan den Aspekt gewechselt.
Primäres Wissen erwerben wir im primären Spracherwerb, wenn das Kleinkind die Mutter „Mama“ ruft und den Hund „Wauwau“; denn das sich über es beugende Lächeln dieses Gesichts entlockt dem Kind eben den einen Ausruf, das Tier mit dem wedelnden Schwanz den anderen.
Wir lernen das entsprechende Ding rot zu nennen, und sodann der Implikation inne zu werden, daß es nicht zugleich grün sein kann.
Wir lernen, alles was diesem Grün ähnelt, grün zu nennen, was diesem Hund ähnelt, Hund, und was diesem Menschen ähnelt, Mensch zu nennen.
DDie philosophische Rede von der Erscheinung eines Dings ist irreführend; wir wissen, dies Etwas rot und als Tulpe zu benennen, nicht die Erscheinung, hinter der sich etwas anderes, etwas Unbekanntes, ein gänzlich der Wahrnehmung Entzogenes, ein Ding an sich, verbergen könnte.
Der Optiker weiß nicht aufgrund seiner Ausbildung und seines fachlichen Wissens, was Sehen ist.
Bach, der über ein außerordentliches Gehör verfügte, wußte nicht besser, was Hören heißt, als irgend ein kleiner Thomanerchorknabe.
Gemäß dem Klassifikationssystem eines Linné Tulpen, Veilchen, Fichten und Tannen zu bestimmen und einzuordnen ist etwas anderes, als wahrzunehmen, daß dies eine Tulpe, ein Veilchen, eine Fichte und eine Tanne ist.
Es mutet seltsam an, den Sehvorgängen, die wir Schauen, Spähen, Lugen, Gaffen, Glotzen oder Anhimmeln nennen, ein neuronales Korrelat zuweisen zu wollen, falls dies überhaupt möglich wäre; und wäre es möglich, verhülfe es uns nicht zu einem Verständnis oder einem besseren Verständnis der genannten Arten des Sehens.
Die Bedeutung dessen, was wir unter „Sehen“ und „Hören“ verstehen, wird durch die wissenschaftlich-exakte Erforschung der Augen und des visuellen Cortex sowie der Ohren und des auditiven Cortex weder begründet und gerechtfertigt noch grundsätzlich modifiziert.
Es ist eine philosophische Sackgasse und eine Einbahnstraße des Denkens, alle Arten und Aspekte des Wissens unter einen einheitlichen Begriff fassen zu wollen.
Wir unterscheiden: lesen, schreiben, rechnen, Schach oder Geige spielen und Fahrrad fahren können; hier liegen Kenntnisse und Fertigkeiten vor, die sich auf das verbale oder motorische Gedächtnis, die Anwendung eines Kalküls oder von Spielregeln gründen. – Eine topographische Karte oder einen architektonischen Aufriß lesen können heißt um das Verfahren der maßstäblichen Projektion wissen; vom Blatt Geige spielen können die Regeln der Umsetzung der Noten- und Ausdruckszeichen in präzise Grifftechniken beherrschen.
Zu wissen, daß es sich bei diesem Baum um eine Fichte und keine Tanne handelt, impliziert das Primärwissen, daß wir bestimmte Dinge Bäume nennen, ein Wissen, das wir als Resultat des Spracherwerbs mittels Deixis (Hinweis oder Ostension) im sprachlichen Gedächtnis mit uns tragen; die Spezifikationen der Benennung mittels des Erwerbs botanischen Wissens beruhen auf dieser primären Quelle.
Nur wer rechnen (schreiben, lesen) kann, kann sich verrechnen (verschreiben, verlesen).
Wir müssen, um jene wahrnehmbare Flüssigkeit Wasser zu nennen, nicht wissen, daß Wasser H2O ist. Der Chemiker allerdings wird den Begriff eindeutig mittels der Formel bestimmen.
Wir schließen nicht von der bloßen Wahrnehmung der roten Ampel, daß Halt geboten sei; sondern aus dem mit der Wahrnehmung der roten Ampel verknüpften Wissen um ihre Bedeutung als Warnsignal. – Wer trotz der roten Ampel die Straße überquert, tut es ja, obwohl seine Wahrnehmung der roten Farbe ungetrübt und sein Wissen um ihre Bedeutung nicht ausgelöscht ist.
Einer glaubt, plötzlich in der Menge der Passanten seinen alten Freund zu erkennen; doch weiß er, daß er längst verstorben ist. – Er traut, sagen wir, seinen Augen nicht. Im Fall des Falles führen wir unser Wissen als Augenzeugen wider unsere visuellen Täuschungen ins Feld.
Aton oder Sol invictus ist nicht mehr unsere Sonne, die Luna des Endymion nicht mehr unser Mond. Die Verwendung des Namens der Sonne scheint nicht an den spezifischen Begriff gebunden zu sein, den das zeitgeschichtliche Wissen als ihr Kriterium ansieht – sonst müßten wir den Dichter Hölderlin schon deshalb als verrückt bezeichnen, weil er mit dem Namen den Mythos des Apollon mehr als das christlich entzauberte und wissenschaftlich untersuchte Zentralgestirn verbunden hat.
Die Wahrnehmung komplexer Vorgänge, die wir unter dem Begriff des bewaffneten Konflikts zwischen Ethnien, Nationen und Staaten subsumieren, berechtigt uns, von einem Krieg zu sprechen. – Wenn allerdings nur die modernen militärischen Techniken und die Drohung mit oder der Einsatz von chemischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen uns als Kriterium für die Verwendung des Begriffes Krieg zu gelten hätten, wüßten wir nicht zu sagen, um was es sich bei dem bellum civile zwischen Antonius und Octavian oder dem gallischen Krieg eines Cäsar gehandelt hat.
Die Sonne Homers könnte plötzlich demjenigen scheinen, dem ein Wandlungszauber das moderne Weltbild und das zeitgenössische Wissen unverhofft eingeschmolzen hätte.
Comments are closed.