Wahrnehmen und Verstehen
Anmerkungen über den Unterschied von Wahrnehmungsaussagen und Glaubensaussagen
Wahrnehmungen sind die primäre Quelle unserer Weltorientierung. Entgegen landläufiger Annahmen einer radikalen Hermeneutik und eines radikalen Konstruktivismus gehen wir davon aus, daß Wahrnehmen nicht die Struktur des Verstehens oder Interpretierens aufweist, sondern eine unmittelbare, wenn auch auf bestimmte Aspekte eingeschränkte Kontaktnahme mit der Realität darstellt.
Wenn du siehst oder beobachtest, daß eine Person oder ein Mensch über die Straße geht, bist du dir bewußt, daß du diesen Vorgang siehst, und bist dir ebenso bewußt, daß DU diesen Vorgang siehst, desgleichen verbindest du deine Wahrnehmung mit einem zeitlichen Index, nämlich, daß du den Vorgang JETZT wahrnimmst, sowie mit einem räumlichen Index, nämlich daß der Vorgang jetzt DORT stattfindet.
Wenn du jemanden über die Straße gehen siehst, bewertest du diesen visuellen Eindruck mit dem Gütesiegel „wirklich“, „echt“ oder „wahr“, wenn dir klar ist, daß der Grund, weshalb du jetzt jemanden über die Straße gehen siehst, die Tatsache darstellt, daß jetzt jemand über die Straße geht.
Der Grund für dich, an der Korrektheit oder Echtheit oder Wahrheit deiner visuellen Wahrnehmung einer Person, die über die Straße geht, nicht zu zweifeln, besteht darin, daß die Ursache deiner Wahrnehmung die Tatsache darstellt, daß eine Person über die Straße geht.
Vergleichen wir die Wahrnehmungsaussage (WA) mit einer typischen Glaubensaussage (GA) oder Aussage über eine Überzeugung, um ihre Wesensunterschiede anhand ihrer Formunterschiede zu verdeutlichen.
WA: „Ich sehe eine Person die Straße überqueren.“
GA: „Ich glaube, Peter ist gestern um diese Zeit über die Straße gegangen.“
Die Beweiskraft und die Beweislast der Wahrnehmungsaussage ruhen auf der Wahrnehmung selbst, hier dem Vorgang des Sehens, soweit er unter Normalbedingungen (also nicht eingeschränkt durch pathologische, halluzinoge und andere Einflüsse) stattfindet. Wenn sich herausstellen sollte, daß der vorgebliche Sehvorgang unter Einfluß von Drogen oder Medikamenten generiert wurde, sprechen wir ihm nicht nur die Korrektheit der Wahrnehmung ab, sondern die Eigenschaft der visuellen Wahrnehmung sui generis. Er ist dann kein Sehen, sondern eingebildetes Sehen.
Natürlich verkennen wir nicht, daß auch in Wahrnehmungsaussagen Hintergrundannahmen einfließen, die aus interpretativen Leistungen des sprachlichen Weltumganges stammen: Wir sehen eine menschliche Person die Straße überqueren und kein Tier, wir sehen einen Mann und keine Frau, wir sehen einen typisch europäisch im Anzug gekleideten Herren und keinen Inder in orientalischem Gewand. Unsere Behauptung geht dahin, zu exponieren, daß jener strukturelle Rest, der an Wahrnehmungsaussagen verbleibt, nachdem wir alle interpretatorischen Zutaten abgezogen haben, eine tragende und nicht reduzierbare Struktur aufweist, die in unserem Falle etwa so als Ur- oder Keimform einer Wahrnehmungsaussage umschrieben werden kann:
WA1: Dieses Etwas bewegt sich jetzt von hier nach dort.
WA2: Dieses Etwas ist jetzt hier so und so.
In der scheinbar einfachen Aussageform WA1 sind ein stellvertretendes Pronomen und vier indexikalische Ausdrücke enthalten: „etwas“ für irgendeinen Gegenstand, „dieses“ für einen deiktisch erfaßten und von dem gemeinten Gegenstand ausgefüllten Raumausschnitt, „jetzt“ für irgendeinen Zeitpunkt, „hier“ für irgendeinen Standort im Raum und „dort“ für irgendeinen anderen Standort im Raum, wobei die Grundleistung aller Indices ihr kontinuierlicher Bezug auf das Ego Cogito oder raumzeitlich instantiierte Bewußtsein darstellt.
In der scheinbar ebenso einfachen Aussageform WA2 sind ein stellvertretendes Pronomen, drei indexikalische Ausdrücke und ein stellvertretender Prädikatsausdruck enthalten: „etwas“ für irgendeinen Gegenstand, „dieses“ für einen deiktisch erfaßten und von dem gemeinten Gegenstand ausgefüllten Raumausschnitt, „jetzt“ für irgendeinen Zeitpunkt, „hier“ für irgendeinen Standort im Raum und „so und so“ für eine Eigenschaft oder Relation, die dem gemeinten Gegenstand wahrheitsgemäß oder fälschlicherweise zugesprochen wird.
Die deiktischen Bezüge und die indexikalischen Ausdrücke tragen gleichsam die Beweislast und die Beweiskraft der Wahrnehmungsaussage, weil sie die Präsenz und Vergegenwärtigung des Ausgesagten im Fokus eines individuellen Bewußtseins in der Weise vermitteln, daß ihre Präsentation die kausale Funktion innehat, das Präsentierte als Wahrnehmungsinhalt für das betroffene Bewußtsein zu sichern.
Die Kraft der Wahrnehmungsaussage rührt demnach von der Präsenz und kausalen Wirkmacht der Gegenstände oder Ereignisse, von denen sie spricht.
Natürlich können mehrere Leute gesehen haben, wie Peter über die Straße ging. Doch dieser Umstand erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit der möglichen Tatsache, daß Peter die Straße überquert hat, erreicht aber nicht die Evidenz des jeweiligen individuellen Seherlebens, die wir jedem Einzelnen und nur jedem Einzelnen der Beteiligten zuzusprechen gewillt sind, wenn er auf Nachfragen und skeptische Einwürfe hin darauf beharrt, gesehen zu haben, was er nun einmal gesehen hat.
Wenn sich herausstellen sollte, daß Peter zu dem Zeitpunkt, an dem Manfred behauptet, ihn über die Straße gehen zu sehen, im Krankenhaus liegt, wissen wir, was wir von Manfreds Glaubwürdigkeit zu halten haben. Doch wenn wir uns anderenfalls von Manfreds Glaubwürdigkeit zu überzeugen hinlänglich Gelegenheit hatten und er der einzige Augenzeuge des Vorgangs ist, sollten wir vorerst auf Manfreds Augenzeugenschaft und die Evidenz seines Seherlebnisses vertrauen.
Entweder hatte Manfred ein echtes Seherlebnis und sah, wie jemand über die Straße ging, oder nicht, in letzterem Falle hat er nur scheinbar etwas gesehen, in Wahrheit aber nichts gesehen. Mit dem starken Begriff von Evidenz beziehen wir uns auf genau diesen Sehvorgang, der uns die rohen Daten bietet, noch bevor wir sie mit Interpretamenten anreichern. So identifiziert Manfred denjenigen, den er gesehen hat, als seinen Freund Peter, doch darin könnte er irren – leichter jedenfalls als in Hinsicht auf die primäre Evidenz, überhaupt jemanden sich bewegt haben zu sehen.
Wir merken hier nur an passant an, daß die Wahrnehmungsevidenz ein ähnlich wichtiger Orientierungspol für unsere Erfahrung darstellt wie die logische Evidenz für unser Denken und unser Erkennen – und vielleicht beruhen beide Formen der Evidenz auf denselben Mustern der Identifikation: Denn ähnlich, wie wir eine kontinuierliche Identitätslinie durch die Abschnitte der Raumzeit ziehen, von denen wir sagen, derselbe Gegenstand, Peter, habe sie durchmessen, behaupten wir auch, daß wir DASSELBE, was wir über ein definiertes Ganzes von Einheiten sagen können, ebenso über willkürlich aus ihm herausgehobene Teile seiner Einheiten sagen können.
Wenn alle Schneeflocken Kristalle sind, und du mir einen Schneeball zuwirfst, gehen wir davon aus, daß alle in diesem Schneeball enthaltenen Schneeteile ebenfalls Kristalle sind. Wir berufen uns demnach auf die implizite Annahme, daß alle Mikrostrukturen der von uns wahrgenommenen Gegenstände ähnlich wie ihre Makrostrukturen aufgebaut sind – doch ist dies nicht in allen Fällen gewiß. Ebenso wenig wie die Annahme, das Durchmessen von Raumzeit-Abschnitten durch einen Gegenstandes müsse stets kontinuierlich sein – denn die Möglichkeit diskontinuierlicher Verläufe unterhalb der Schwelle unserer Wahrnehmung können wir nicht ein für alle Mal ausschließen.
Im Gegensatz zur Wahrnehmungsaussage ruhen die Beweiskraft und die Beweislast der Glaubensaussage nicht in der Präsenz der Objekte oder Ereignisse, von denen sie spricht – denn deren Gegenwart und wahrnehmungsgemäße Präsentation sind wie im Falle unseres Beispiels von Peters gestrigem Überqueren der Straße verschwunden. Die Glaubensaussage hat hier den problematischen Rang und Gehalt einer Erinnerung, sie muß demnach durch unabhängige Quellen und Zeugenaussagen Dritter validiert werden, um ihre Korrektheit zu sichern, was deshalb problematisch bleibt, weil auch diese Quellen und Zeugenaussagen hinsichtlich ihres Echtheitswertes angezweifelt werden können.
Du könntest einwenden, dein Glaube, Peter sei gestern zu der und der Stunde über die Straße gelaufen, fuße auf der vielfach wiederholten und gesicherten Beobachtung, daß Peter seit Jahren um die Mittagszeit die Straße zu überqueren pflegt, um im gegenüberliegenden Restaurant sein Mittagessen einzunehmen. Natürlich ist evident, daß der Schluß von vergangenen Ereignissen auf das Auftreten derselben Ereignisse jetzt oder in Zukunft kein logischer Schluß ist, sondern eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens solcher Ereignisse, die von ihrer Wahrheit noch ziemlich weit entfernt ist.
Aber das ist hier nicht der Punkt. Vielmehr gewinnen wir anhand des Umstands, daß wir Überzeugungen logisch gültig oder ungültig mit anderen Überzeugen verknüpfen und stets verknüpfen können, einen tieferen Einblick in den Formunterschied von Wahrnehmungsaussagen und Glaubensaussagen: Denn Wahrnehmungsaussagen können wir nicht ohne weiteres mit anderen Wahrnehmungsaussagen auf die Weise verknüpfen, daß wir neue Aussagen mit einem mehr oder weniger plausiblen Geltungsanspruch gewinnen. Wenn du jetzt siehst, wie Peter die Straße überquert, und danach siehst, wie ein Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig einen Passanten anfährt, hast du zwei vollständig in sich abgeschlossene Wahrnehmungen gemacht, die durch kein inneres Band und keine Form des logischen oder symbolischen Verstehens verbunden sind.
Wenn du allerdings siehst, wie der Fahrradfahrer den Passanten in dem Moment anrempelt, als Peter den Bürgersteig betritt, könntest du die beiden Wahrnehmungsaussagen durch eine kausale Funktion verknüpfen, etwa so:
„Weil der Fahrradfahrer durch das plötzliche Betreten des Bürgersteigs durch Peter abgelenkt war, hat er den Passanten angefahren.“
Hier haben wir zwar eine Verknüpfung zweier Wahrnehmungsaussagen, aber die Funktion der Verknüpfung, die kausale Annahme, ist selbst kein Wahrnehmungsinhalt, sondern eine Hypothese. Die Hypothese kann wahr oder falsch sein, die Wahrnehmungen, auf der sie beruht, sind indes entweder echte Wahrnehmungen oder gar keine, niemals aber Hypothesen über das, was einer sieht, sondern Bezeugungen dessen, was er sieht.
Wenn du Peter die Straße überqueren siehst, siehst du nicht ein Objekt mit der Eigenschaft, sich zu bewegen, sondern gleichsam die Tatsache, daß Peter die Straße überquert. Daß unser Wahrnehmen faktischen oder intentionalen Charakter hat, verbindet strukturell Wahrnehmungsaussagen und Glaubensaussagen: Sie sind immer Aussagen über genau den intentionalen Inhalt, den sie nennen. Demnach müssen wir auch allen Wahrnehmungsaussagen einen intentionalen Charakter und Gehalt zusprechen, der sie als Aussagen analysierbar macht, die nicht einen Gegenstand, sondern einen als bestehend angenommenen Sachverhalt meinen. Die Faktizität und den intentionalen Charakter von Wahrnehmungsaussagen analysieren wir dadurch, daß wir ihre grammatische Form von einem Wahrnehmungssatz in einen abgängigen Aussagesatz umwandeln:
A1: Ich sehe eine gelbe Rose.
A2: Ich meine zu sehen, daß dort eine Rose steht und daß diese Rose gelb ist.
B1: Ich sehe Peter über die Straße gehen.
B2: Ich meine zu sehen, daß jemand über die Straße geht und daß dieser Jemand Peter ist.
Daraus ersehen wir, daß auch Wahrnehmungssätze wie alle Sätze Aussage über intentionale Gehalte darstellen sowie eine propositionale Struktur aufweisen und sich insofern nicht von Glaubensaussagen unterscheiden. Worin liegt nun aber der wesentliche Unterschied der beiden Aussagetypen?
Wahrnehmungsaussagen sind im Unterschied zu Glaubensaussagen kausal selbstbezüglich: Die Bedingung der Echtheit meiner Wahrnehmung, daß jetzt Peter dort entlanggeht, ist hinreichend erfüllt einzig durch die Tatsache, daß jetzt Peter dort entlanggeht, während mein Glaube, Peter sei gestern dort entlanggegangen, auf keine unmittelbar zugängliche Tatsache dieser Art zurückgreifen kann – die Glaubensannahme muß mittels des mühsamen Geschäfts der gleichsam quellenkritischen Überprüfung und Gewichtung durch das Heranziehen und Überprüfen anderer Tatsachen wie Zeugenschaften und unabhängige Dokumente validiert werden.
Ein wesentlicher Unterschied des mundus sensibilis und des mundus intelligibilis, von Wahrnehmen und Verstehen, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß unsere sensiblen Eindrücke gleichsam ontologisch abgeschlossen, determiniert und wohlbestimmt sind, sondern auch aus der konversen Tatsache, daß unsere intelligiblen Eindrücke epistemologisch stets unabgeschlossen, unterdeterminiert und unspezifisch sind: Wenn du einen Akkord in einer Sinfonie von Beethoven hörst, vernimmst du zugleich die Intensität, Dichte, Klangfarbe und all die anderen Nuancen des Klangereignisses, die unserem Gehör zugänglich sind; doch die deskriptive Aussage „Ich meine einen Klang zu hören, der tief, dumpf und dunkel ist“ trifft auf tausend andere Klangereignisse derselben Sinfonie zu, kann demnach den spezifischen Charakter des Gehörten nicht wiedergegeben.
Wir leben in einer Welt, zu der wir mittels unserer sensorischen Fenster jene Ausblicke nehmen können, die uns auf die Frage nach dem, was sie denn wohl im Innersten zusammenhalte, oder nach dem Wesen der Dinge zur Aussage veranlassen: Jetzt passiert das, und jetzt passiert jenes. Warum jetzt das und dann jenes geschieht, können wir im Letzten nicht ergründen und nicht verstehen, das sensorisch Offenkundige und Transparente bleibt auf weite Strecken oder im Hintergrund rational verborgen und opak. Wir sehen, wie der Mond vor die Sonnenscheibe rückt und eine teilweise Sonnenverfinsterung herbeiführt. Wir kennen immerhin die sogenannte Gesetze, nach denen sich die kosmischen Körper bewegen – aber dies sind nichts weiter als mehr oder weniger handhabbare mathematische Formeln, deren Anspruch auf ein logisches oder symbolisches Verstehen in weite Ferne gerückt ist, jedenfalls nicht den Grad an Nähe zuläßt, der gegeben ist, wenn wir die Bitte des Tischnachbarn verstehen, ihm doch das Salzfaß zu reichen.
Dennoch finden wir eine Verzahnung oder Überkreuzung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, von Wahrnehmen und Verstehen, die sich aus der Transformation von Wahrnehmungsaussagen in Glaubensaussagen ergibt: Wenn du heute siehst, wie Peter jetzt dort über die Straße geht, hast du wahrscheinlich morgen die Überzeugung, die sich in der Glaubensaussage ausspricht, daß Peter gestern dort über die Straße gegangen ist. Die beiden Aussagen haben ihren ontologischen und epistemologischen Status durch diese kleine, aber entscheidende Transformation vollständig ausgetauscht, was sich daraus ersehen läßt, daß wir die eine nirgends salva veritate für die andere einsetzen können.
Konstruktivisten begehen den Irrtum anzunehmen, Wahrnehmen sei eine Form symbolischen Verstehens, der Art etwa, wie wir topographische Karten lesen und uns Filme oder Fotographien anschauen. Indes sind Karten (bis auf Reste analoger Legenden und Zeichen) konventionelle Darstellungen der Realität, während Wahrnehmungen überhaupt keine Darstellungen sind, weder konventionelle noch analoge. Beim Gebrauch einer Wanderkarte kann ich meinen Standpunkt beliebig ändern und verschieben, die Wahrnehmung fixiert mich fraglos und umstandslos auf den Standpunkt desjenigen, der sie jetzt und hier hat. Ähnliches gilt für den bei Neurowissenschaftlern und Konstruktivisten beliebten Vergleich der Wahrnehmung mit analogen oder digitalen Medien: Ich kann jederzeit die Fotographie weglegen oder den Film unterbrechen, ich kann zwar die Augen schließen, aber sobald ich sie öffne, geht wieder Peter den Rest seines Weges über die Straße. Außerdem dürfen wir weder den Unterschied der Synästhesie unserer leiblich verkoppelten Sensorik unterschlagen noch die Tatsache, daß keine Abbildung, ob Film, Fotographie oder Gemälde, geschweige denn eine noch so detailreiche verbale Beschreibung jene Vollständigkeit und Bestimmtheit des spezifischen Wahrnehmungseindrucks erreichen kann, die Leibniz als Charakterstikum des mundus sensibilis herausgehoben hat.