Wahrheitsinjektionen und Liebespillen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dem Angeklagten und dem Zeugen vor Gericht verpaßt man vor ihrem Verhör intravenös eine Substanz, die im Gehirn alle neuronalen Impulse unterdrückt, die sich in Lügen und Falschaussagen niederschlagen, sodaß die ihnen entlockten Äußerungen entweder immer wahr oder zumindest nicht falsch sind.
Weshalb scheuen wir davor zurück, in diesen Fällen den Sprecher als echten Wahrheitszeugen anzusehen, auch wenn er nichts als die Wahrheit sagt, die reine Wahrheit?
Wir vertrauen allererst den Äußerungen eines Sprechers, der uns das Wahre mitteilt, obwohl er fähig wäre, die Unwahrheit zu sagen, weil wir unser Vertrauen auf seinen guten Willen setzen, uns nicht hinters Licht zu führen.
Ein Freund, der geistig zurückgeblieben und zu dumm ist, uns zu belügen oder zu verraten, und daher keinen guten Willen bemühen muß, es nicht zu tun, gilt uns nicht als echter Freund. Er ist eher wie ein braves Hündchen, das nur immer neben uns laufen mag.
Äußerungen, die aufgrund der Manipulation des Nervensystems des Sprechers nicht falsch sein können, lassen wir nicht ohne weiteres als wahre Aussagen durchgehen, sie haben bloß den Schein des Wahren, wirken auf uns aber wie Masken einer ontologischen Unaufrichtigkeit.
Wenn wir aufgrund der Evolution des Gehirns in der Weise determiniert wären, daß wir nur Wahres zu sagen fähig wären, lebten wir in einer Art Traum- und Wahnwelt, die den Irrtum a priori ausschlösse.
Aus der Tatsache, daß ein allwissender Roboter sich in der Zuordnung der Namen zu den Gesichtern ihrer Träger nicht irren könnte, schließen wir, daß die Maschine die Gesichter nicht sieht, wie wir ein Gesicht sehen und uns auf den Namen der Person besinnen.
Wenn der Roboter auch stets das Wahre ausspuckte, würden wir ihm nicht die Fähigkeit zubilligen, wahre Aussagen zu machen, weil er selbst in den mitgeteilten Informationen gleichsam nicht enthalten ist, auch wenn er die Formel „Ich sehe, daß es sich bei dieser Person um N. N. handelt“ benutzen würde, die wir ihm zuvor einprogrammiert haben.
Wir stoßen hier, wenn auch blindlings, auf den internen Zusammenhang zwischen dem semantisch-logischen Raum, in dessen Mittelpunkt ein jeder in der ersten Person sagt, was er meint, und der Wahrheitsbedingung des Irrtums und der Negativität, ein Zusammenhang, der einer tieferen Erhellung harrt.
Nur wenn wir Absichten mit unseren Sprechakten verbinden können, sagen wir über den einen, er lüge, über den anderen, er spreche die Wahrheit.
Wer nicht lügen kann, kann nicht die Absicht haben, die Wahrheit zu sagen.
Wenn wir annehmen, daß unsere in der Rede zum Ausdruck kommenden Absichten Funktionen unserer Wünsche, Interessen und unbewußten Antriebe sind, wären wir wiederum in einer Traum- und Wahnwelt eingeschlossen, in der oder von der zu reden eine überschwengliche Variation des Schweigens wäre.
Der Marxismus und die Psychoanalyse sind theoretische Traum- und Wahnwelten dieser Art, obwohl sie uns angeblich versprechen, den ideologischen Schein und Verblendungszusammenhang zu durchbrechen oder von neurotischen Realitätsverzerrungen und Wahnbildern zu heilen.
Wenn der Überbau letztlich von den unbewußten Kräften und Formationen der gesellschaftlichen Basis determiniert ist, sind meine Gedanken nicht meine Gedanken.
Wenn das Unbewußte die eigentliche Sprache darstellt, habe ich nichts mehr zu sagen.
Wir müssen sowohl die Absicht oder den Willen als auch den intentionalen Gehalt in die Struktur einer jeden Äußerung einführen oder die Form der Äußerung als jeweilige Figur des Selbst auffassen.
Ich verstehe, daß du mich etwas fragen willst, wenn du den Ton am Satzende hebst.
Ich verstehe, daß du mir etwas zeigen oder mich auf etwas aufmerksam machen willst, wenn du dich der grammatischen Formen der Demonstrativa und der hinweisenden Wörter wie „hier“, „dort“, „dieser“, „jener“, „neben“ oder „später“ bedienst.
Ich verstehe, daß du mich zu etwas aufforderst oder um etwas bittest, wenn du diese Sprecherabsichten in die Form von Aufforderungssätzen und Imperativen kleidest, die das ausdrücklich machen, worum es dir geht
Ich verstehe, daß du gewillt bist, mich zu unterhalten oder zu amüsieren, wenn du dich für eine Anekdote, eine Schnurre, einen Witz der entsprechenden Erzählweisen und der grammatischen Form des narrativen Imperfekts bedienst.
Ich verstehe, daß du dich mit einer Notlüge über die Peinlichkeit und Verlegenheit hinwegsetzen willst, in die du geraten bist, weil du wieder einmal zu spät gekommen bist oder dein Versprechen nicht gehalten hast.
Ich verstehe, daß du mit dem überschwenglichen Lob eines nichtsnutzigen oder dummen Scharlatans weder dir noch mir etwas vormachen willst, sondern die rhetorische Form der Ironie mit der Absicht ins Spiel bringst, die Nichtsnutzigkeit des Nichtsnutzes und die Dummheit des hohlen Schwätzers in ein desto grelleres Licht zu heben.
Antike Dichter wie Horaz und Properz spielen gern auf das Treiben von Hexen und Zauberinnen an, die Salben, Tinkturen und mit oft blutrünstiger Braukunst gewonnene Säfte jenen Verliebten feilboten, die die Gunst und erotische Hingabe der begehrten Person sich durch heimliche Verabreichung dieser Aphrodisiaka erzwingen wollten.
Was sollen wir von dem gestammelten Liebesbekenntnis eines Mannes halten, das sich ihm unter dem Einfluß einer solchen Droge entrang?
Und vor allem: Welches moralische Gewicht soll die Verliebte, die den Gegenstand ihres Verlangens mit der Verabreichung einer Liebespille sich gefügig gemacht hat, seinem Liebesbekenntnis geben?
Sie wird es nicht für bare Münze nehmen, denn es war in Abwesenheit guten Willens und redlicher Absicht nur ein dem erotischen Rausch entfahrener flatus vocis, ein Wölkchen, das morgen am nüchternen Tag im grauen Himmel der Verachtung oder Gleichgültigkeit verflogen sein wird.
In veneno veritas – das scheint allerdings für Tristan und Isolde zu gelten. Oder für Richard Wagner, der aus dem Abgrund erotischer Verfallenheit den Duft trunken machender Akkorde steigen ließ, die den Betörten wie den vom Wind leicht abgeschüttelten Tropfen hineinstürzen lassen.
In der Absicht, den Geliebten in die Bedachtsamkeit der Sorge und die Huld des Schenkens und Dankens aufzunehmen, unterscheidet sich das Liebesbekenntnis vom Stammeln und Lallen des Eros.
Hätte die Evolutionspsychologie recht, wäre die Sprache der Liebe nur die Larve des mehr oder weniger sublimierten Triebs und das Bild des Geliebten das Zerrbild im Spiegel eines Verlangens, das mit jedem Seufzer und jedem Keuchen sich tiefer in den Abgrund der Vernichtung wühlt.
Nach Ansicht der Naturalisten sind wir Puppen in der Hand der Evolution, die deren ursächlich zweckfreie Impulse als illusionäres Spiel eigener Zwecke und Absichten verkennen. Am Ende erweisen sich die leidenschaftlich mit mehr oder weniger harmlosen Mitteln verfolgten Absichten und vorgespiegelten Gründe als Masken natürlicher Ursachen.
Doch die Wahrheit deiner Äußerung, daß der Regen aufgehört hat und die Sonne wieder scheint, hat keine Ursache in dem Wetterphänomen, sondern ihren Grund in deiner Wahrnehmung des Sonnenscheins und der Absicht, mich indirekt zu einem Spaziergang aufzufordern.
Die naturalistische Theorie ist ein Wiedergänger des kartesischen Dämons und ihre unmittelbare Folge einer radikalen Wahrheitsskepsis findet einen Einspruch in der Instanz nicht des „Ich denke“, sondern des „Du sprichst mit mir“.
Du sprichst mit mir, also existierst du.
In dem, was du mir sagst, kann ich eine Redeabsicht und einen Anspruch an mich erkennen, mich auf eine gemeinsam bewohnte Welt zu beziehen. Du fragst, ich antworte, du bittest mich darum, mit dir spazierenzugehen, und ich hole meine Jacke.
Unser Gespräch ist in eine gemeinsame Welt der Wahrnehmungen und Bedeutungen eingebettet, wenn sie uns auch nie vollständig epistemisch und sprachlich erschlossen ist. Diese Welt, deren Bewohner wir beide sind, ist dasjenige, worüber wir reden und worum es uns geht.
Meine Antwort auf deine Frage macht einen Unterschied für die Art und Weise, wie wir in der von uns geteilten Welt zueinander stehen, je nachdem, ob sie sinnvoll oder absurd, richtig oder falsch, aufrichtig oder verlogen, erhellend oder irreführend ist.
Ich könnte freilich träumen und dich im Traum sehen und deine Stimme hören. Doch es wäre in der Traumwelt ohne Belang, wenn meine Antwort auf deine Frage sinnvoll oder absurd, richtig oder falsch, aufrichtig oder verlogen, erhellend oder irreführend wäre.
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