Vorbegriffliches Verstehen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Reflexion ist keine Leistung eines mentalen Spiegels, keine reine Struktur des Bewußtseins, sondern eingebettet in unsere vorbegriffliche Erfahrung: Sie geschieht, ersteht, ereignet sich zwischen Blick und Blick, Geste und Geste, Rede und Antwort.
Die Hand, den Fuß, den Kopf im angemessenen Abstand und Aktionsradius zu dem Ding zu justieren, zu halten und zu bewegen, das wir ergreifen, überspringen, überblicken wollen, dies sind Formen des Wahrnehmens, die wie alles Wahrnehmen ein ursprüngliches Selbstgefühl, ein Gespür für unseren Ort in der Welt, voraussetzen.
Wir gebrauchen und brauchen kein festes Maß, wir brauchen und gebrauchen keine explizite Regel, um spontan den optimalen Abstand zwischen dem Bild und der Quelle des Geräuschs und des Lautes herauszufinden, in dem wir sie am besten oder angemessensten wahrnehmen können, das heißt: mit dem größtmöglichen Reichtum an Details und Nuancen und zugleich dem bestverständlichen Überblick der Seh- und Hörgestalt.
Ich gewinne ein Selbstgefühl und weiß von mir aufgrund des Blicks, der Geste, der Frage, die an mich gerichtet werden.
Selbstwissen, Selbstgefühl, Selbstbewußtsein sind keine rein theoretischen Konzepte.
Scham und Ärger sind extreme Formen des Selbstgefühls, die ein hohes Maß an Reflexivität verraten: Sie sind eine Art Hochspannung, die über den Reflexbogen von Ego und Alter verläuft. Ich bin dir zu nahe getreten, körperlich, weil ich dir zu dicht auf den Leib gerückt bin, oder symbolisch, weil ich dich durch ein unverschämtes Wort, eine aufdringliche Frage in die Enge getrieben habe, und indem ich deine Beschämung und deinen Ärger wahrnehme, erfaßt mich Scham. Wenn umgekehrt du mir zu nahe getreten bist, reflektierst du meine Beschämung und meinen Ärger in Gestalt deiner Scham.
Der Hintergrund der Welt, in der wir uns sprachlich begegnen, ist uns aufgrund eines vorbegrifflichen und vorsprachlichen Verstehens erschlossen.
Du kommst mir lächelnd und leicht beschwingt entgegen: Ich verstehe, daß du heiter gestimmt bist; du sitzt die Augen starr zu Boden geheftet gekrümmt vor mir und dein Atmen ist kaum sichtbar oder vernehmlich: Ich verstehe, daß du niedergeschlagen und traurig bist. Die Stimmung, die uns aus dem Gebaren des anderen anmutet, verstehen wir ohne weiteres – gleichsam aufgrund der Ausstrahlung oder Aura seiner leiblichen Gegenwart.
Das Verschwiegene und Ungesagte ist gleichsam die Hohlform des Gesprächs, die wir mit unseren Reden und Gesten ausfüllen. Sie wird bisweilen deutlich oder tritt zutage, wenn wir beispielsweise mit einer Antwort zögern oder im Gegenteil mehr sagen, als die Frage oder die Situation verlangt.
Wenn ich weiß, daß du aufgrund eines Verlustes Anlaß zur Trauer hast, und ich sehe dich lächelnd und wie leicht beschwingt auf mich zukommen, erkenne ich in deinem Gebaren eine Übertreibung, mit der du deine wahren Gefühle überspielst.
Wir bemerken eine Normativität auf der Ebene der Wahrnehmung, des Gebarens und des Gesprächs, die keine moralischen Intentionen, sondern instinktmäßige Ursprünge verrät.
Unser Auge adaptiert sich unwillkürlich durch Einstellen der Iris auf die Lichtverhältnisse der Umgebung; wir gehen instinktiv einen Schritt zurück, um das Gemälde besser in Augenschein nehmen zu können. Wir ertasten intuitiv die Entfernung unseres Gesprächspartners, seine soziale Rolle, die Bedeutung an Nähe und Intimität, die wir ihm und uns zubilligen oder absprechen. Wir hüten uns, vor dem Fremden, um dessen wahre Absichten wir nicht wissen, wehrlos zu erscheinen oder uns eine Blöße zu geben. Wir lassen intime Nähe gegen den Vertrauten zu, dem wir keine feindlichen Absichten unterstellen.
Nähe und Ferne sind Funktionen des vorbegrifflichen Felds der Wahrnehmung, sie markieren die Koordinatenachsen des vorbegrifflichen Verstehens.
Wir plaudern und ratschen ohne zu denken, ohne Konzept und Begriff; erst wenn wir auf eine Lücke stoßen und der andere uns Rätsel aufgibt, halten wir gleichsam inne und fragen uns nach der Bedeutung oder Absicht des Gesagten, dem Grund, warum er es uns zugemutet hat.
Wir sehen und bemerken, womit wir hantierend und routiniert umgehen, kaum oder wie unter getrübtem Glas, die Wäsche, die wir einräumen, die Bücher, die wir abstauben, den Weg, den wir gehen. Doch wenn wir ein Loch im Hemd ertasten, schauen wir genauer hin und sinnieren, woher es wohl rührt; wenn uns der Titel eines Buchs ins Auge fällt, halten wir inne und gehen ein wenig den melancholischen oder aufheiternden Gedanken nach, die uns seine Lektüre einst geschenkt hat; erst wenn wir bemerken, daß wir vom eingeschlagenen Weg abgekommen sind, halten wir inne und fahren mit dem Finger des Gedankens dem Wegenetz nach.
Wir gehen unseren alltäglichen Spazierweg nicht mit der inneren Landkarte vor dem inneren Auge, als würden wir uns nicht zurechtfinden und verirren, wenn wir nicht anhand des begrifflichen Schemas Aussagen bilden könnten wie: „Jetzt gehe ich ein Stück geradeaus.“ – „Nun muß ich rechts abbiegen.“ – „Hier ist der Teich, den ich immer umrunde.“ Wir gehen einfach unseren gewohnten Gang.
Sagen wir es so: Wir finden uns in der Welt nicht deshalb zurecht und verstehen uns nicht auf die bedeutsamen Markierungen der Umwelt, weil wir Welt und Umwelt als begriffliche Repräsentationen verinnerlicht haben und unser Tun kontinuierlich anhand dieses begrifflichen Schemas kontrollieren.
Die vorbegriffliche Struktur des ursprünglichen Verstehens weist normative Merkmale und Kriterien auf, die nicht nur nicht moralisch explizierbar und begründbar, sondern darüber hinaus keiner Rationalität formalen Argumentierens zugänglich sind; das heißt natürlich nicht, daß sie irrational oder unmoralisch sein müßten.
Nur moralisch-ideologisch verstockte „Weltphilosophen“ wähnen aus Mangel an Weltweisheit, alles Verstehen müsse und könne auf der Folie argumentierender und diskursiver Rationalität durchsichtig gemacht werden.
Aber wie der Ursprung des Lebens sind auch seine primitiven menschlichen Ausgestaltungen, wie sie uns im alltäglichen Wahrnehmen, Reden und Verstehen begegnen, jenseits von Rationalität und Irrationalität, jenseits des moralisch Gebotenen und Verbotenen. – Doch sie offenbaren ihre eigene Normativität, die wir mit Begriffen wie Nähe und Ferne, Angemessenheit, Natürlichkeit, Gleichgewicht und Ausgewogenheit annähernd erfassen.
Verstehen ohne Begriff, ohne Repräsentationen und mentale Bilder – das impliziert auch, die Frage oder das „philosophische Problem“, inwiefern der eine den anderen versteht, ohne in seinen Kopf hineinblicken zu können, als unsinnig oder als Scheinproblem zurückzuweisen. Denn wir verstehen den physiognomischen Ausdruck, das Lächeln, den Gang, die Geste des anderen unmittelbar. Nur wenn etwas undeutlich oder verschwommen bleibt (Weint sie aus Kummer oder Koketterie?) oder eine Störung auftritt (Sie sagte statt „gern“ seltsamerweise „fern“, war es ein Versprecher oder der unwillkürliche Ausdruck einer Verneinung?), halten wir inne und überlegen, was zu sagen, zu tun angemessen ist. Indes nicht, indem wir uns ein Bild vom Innenleben des anderen machen, sondern einen neuen Anschluß, eine Brücke und einen Übergang der ins Stocken geratenen Kommunikation entwerfen. („Soll ich dir ein Taschentuch geben?“ Sie lächelt. – „Wollen wir einen anderen Spazierweg machen?“ Sie bejaht.)
Die sprachliche Kommunikation und ihre Funktionen, die wir in Sprechakten wie der Gefühlsäußerung, der Mitteilung, der Aufforderung, der Frage oder der Warnung identifizieren, beruht auf einem vorsprachlichen Bedeutungsfeld, das wir mittels vorbegrifflichen Verstehens durchqueren. Wäre dies anders, hätte unser Reden gleichsam keinen Mutterboden, auf dem es Fuß fassen könnte, und schwebte unbezüglich in der Luft des Irrealen, ein schillerndes Spinnenweb, immerfort aufs neue gesponnen aus der unversieglichen Drüse der Begriffskunst, dem gewiß bestimmt ist, einmal von der eisernen Faust eines unverständlichen Schicksals weggewischt zu werden.
Es ist richtig zu sagen, daß unser Ichgefühl oder Selbstbewußtsein keine Folge und Ableitung des Erwerbs der sprachlichen Fertigkeit darstellt, die Pronomen „ich“ und „du“, „wir“ und „ihr“ korrekt verwenden zu können. Vielmehr geht der sprachlichen Kunstfertigkeit die simple Offenbarkeit des Ichgefühls voraus, die sich spontan im leiblichen Umgang wie im gegenseitigen und gegensinnigen Austausch der reziproken und reflexiven Wahrnehmung von Blicken, Gesten und Mienen bezeugt und verdichtet.
Wenn wir mit Händen und Füßen und allen Sinnen gleichsam in das begrifflos-vorrationale Reich des Verstehens hineinragen, sind wir auch unbesorgt ob der Tatsache, daß wir das meiste oder wichtigste, was wir verstehen, nicht begründen, rationaler Erwägung zuführen und mittels Gründen rechtfertigen können. Du kommst und winkst mir von weitem, du lächelst und reichst mir die Hand – das ist alles und es ist genug.
Wenn ich das Selbstverständliche erlebt habe und um das natürliche Gebaren weiß, kann ich mich im nachhinein fragen, warum du nicht auf mich zugekommen bist, du nicht gelächelt und mir nicht die Hand gegeben hast. Was mag dich verstört haben, welchen Fauxpas habe ich begangen, welche Absicht steckt hinter deinem ungewöhnlichen Benehmen?
Natürlichkeit gehört wie Angemessenheit zu den nichtmoralischen Merkmalen der Normativität des alltäglich-basalen Verstehens; ähnlich wie wir von natürlicher Anmut oder natürlicher Scheu sprechen. Natürlichkeit ist gewiß nicht die Natur der Naturwissenschaften, denn diese ist ein theoretischer, mathematisch-physikalisch fundierter Begriff, den wir weder verstehen noch intuitiv nachvollziehen können.
Das Reich der Gründe ist in sich geschlossen, die auf Gründe gezogenen Aussagen hängen an einer Leine, die in der Ferne sich wieder mit sich selbst verknotet. Nur die Annahme eines vorbegrifflichen Verstehens, das seinerseits nicht wiederum eine argumentative Grundlage für unsere begründeten Aussagen bildet, öffnet in diesem geschlossenen Raum die Fenster und läßt frische Luft ein, welche die an der Leine der Gründe hängende Wäsche unseres rationalen Redens aufwirbelt und flattern macht.
Es zeugt von einer kleingeistigen moralischen Befangenheit, alles Verstehen in der ätzenden Seifenlauge des rationalen Arguments und der diskursiven Rechtfertigung reinwaschen zu wollen. Wo bliebe unser nichtrationales, vorsprachliches Verstehen von Licht und Luft, Wetterphänomenen und Landschaft, von plastischen und malerischen Kunstwerken, von Architektur, Tanz und Musik? Aber es sind eben die Amusischen, die Kathederdenker und medial gehätschelten Intellektuellen, die uns die feineren sensorischen Öffnungen für das schwebende Element des ästhetischen Ungefähr und des ätherischen Ich-weiß-nicht-was mit dem groben Kitt ihrer hausbackenen Humanität oder dem neutralisierend-sedierenden Gel ihres vernünftelnde Jargons verstopfen wollen.
Was wir verstehen, aber nicht auf die lange Leine begründeter Aussagen ziehen können, ist das Ereignis oder die Zeit: Geburt, Wachstum, Reife, Verfall und Tod; wir verstehen die Veränderungen des Gesichts im Zuge des Alterns, die lesbaren Chiffren der Falten, das verblassende Lächeln, die Bitternis des Munds – aber das Alter ist kein Argument für niemand und nichts, weder für Weisheit noch Torheit, wie der Tod kein Argument gegen die Geburt ist.
Mit der Zeit empfinden, fühlen, sehen wir anders – manchmal läßt sie, was wir früher empfunden, gefühlt und gesehen haben, in einem anderen Licht erscheinen – und uns selbst; aber es wird dadurch nicht widerlegt, bisweilen aber in das stillere Leuchten eines anderen durchsichtigeren Elements entrückt.
Wir reden am schönsten, klarsten und überzeugendsten daher, wenn wir uns um Gründe und Argumente nicht scheren; sobald der besorgte Liebhaber die Geliebte fragt, aus welchem Grund sie heute so fröhlich ist oder weshalb sie sich schon wieder verspätet habe, scheint das Feuer erloschen.
Tiefer als Worte treffen Blicke; heller als Worte leuchten Tränen.
Auf dem gleichsam noch nicht eingefriedeten Feld des Verstehens finden wir Spuren, Zeichen, Wegmarken, die ähnlich wie Wolken, Gräser und Früchte in Hinsicht auf das Wetter und die Jahreszeit auf die Bedeutsamkeit der uns begegnenden Ereignisse und unsere Stimmung zu lesen sind; aber wir treffen auf der Ebene des Verstehens nicht auf Fragen und Antworten – gehören diese doch auf ein anderes Spielfeld, das der Hinweise und Gründe, die wir notgedrungen zu Figuren von Begründungen und Beweisen anordnen können.
Die offene Ebene des Verstehens liegt nackt und bloß vor uns, und was wir bemerken, ist wie der Schatten, der mit dem steigenden und sinkenden Licht wandert – es ist unser eigener Schatten als Bild der vergehenden Zeit, das sich von Morgen zum Abend vollendet. – Wir können das Wandern des Schattens oder unser Dasein nur beschreiben, aber nicht auf letzte Gründe und Ursachen zurückführen.
Gewiß, die Physik sagt uns, was Licht ist und Schatten, die Astronomie, warum das Licht diesen Schatten wirft und wieso er auf diese Weise wandert; doch die Wissenschaft kann nicht verständlich machen, daß es unser Schatten und das Bild des wandernden Schattens ein Bild unseres Lebens ist. – Das kann nur die Kunst, die Dichtung.
Wie aber kann die Wortkunst oder Dichtung das nichtrationale und vorbegriffliche Verstehen zur Sprache bringen? Nun, sie konzentriert und bündelt es im reinen Ausdruck, jener poetischen Funktion, die das Begriffliche am Wortsinn gleichsam in die Dämmerung und Vagheit des sinnlichen Eindrucks harmonierender und dissonierender Töne und Klangfarben, aufblitzender und wieder verlöschender Bilder zurücktaucht und im fluiden Element des Ich-weiß-nicht-was auflöst, in dem die Umrisse des Gemeinten faszinierend zugleich und unheimlich verschwimmen.
Was fasziniert uns am Stilleben? Das Unheimliche eben der Nature morte, ihrer Stille und unverstellten Ausdruckskraft in der knospenden und welkenden Hingabe an Blüte und Verfall, in der ihr lächelndes oder verdunkeltes Gesicht wortlos zu uns spricht; das Leben der stummen Dinge als Bild unserer eigentlichen Herkunft und wahren Bestimmung.
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