Von Traumschablonen und Mustern in Leben und Gedicht
Betrachten wir nicht reale, echte Träume, wie wir sie psychologischen Fallberichten von Klienten entnehmen oder wie sie uns Freunde und Bekannte und natürlich umgekehrt wir ihnen erzählen, gern mit dekorativen Stoffen drapiert oder mit dramatischen Handlungsmotiven aufgeladen oder zugestopft; betrachten wir einmal Träume nur auf ihrer gleichsam farblosen und grauen Oberfläche, nicht in analytischer Tiefensicht oder Verwobenheit, gewinnen wir durch Verfahren der Vereinfachung und Vergröberung aus der ausgeschmückten Traumerzählung trockene Residuen und blutlose Abstraktionen realer Träume, abstrakte Schemen und gleichsam tote Gespinste, die sich zur Projektion möglicher, virtueller Träume auf das beste eignen.
Wir betrachten diese Traumschablonen oder virtuellen Träume als künstlerischen Baustoff für Malerei und Dichtung, und glauben, ihr Wirken in den Intuitionen am Werk, die große und kleine Dichtung, ja die abstrakte Kunst wie die Kandinskys hervorgebracht haben.
Eine einfache Traumschablone sieht so aus:
Begegnung mit einer Person, der wir wie der Mutter, dem Vater, der Geliebten anhängen oder der unser Vertrauen gehört.
Das Entschwinden der Person – auf wie immer motivierte Weise, Liebesverrat, Zauberei, der Einbruch des Chaos, der Tod.
Dann folgt eine Traumphase insistierender Erfahrungen der Fremdheit der Umgebung, der Straßen, der Stadt, der Menschen, deren Sprache wir nicht mehr verstehen, der Orte, die wir mit bekannten Orten der Heimat verwechseln, wir finden nicht mehr das Haus, in dem wir wohnen, nicht den Bahnhof, um abzureisen, wissen am Schalter nicht, welchen Zielort wir angeben sollen, wollen wir einsteigen, vermissen wir plötzlich den Reisekoffer mit wichtigen Papieren und persönlichen Dokumenten, fahren wir mit dem Zug, wird die Landschaft zunehmend bizarr und unheimlich, wir gewahren uns unbekannte Pflanzen und Tiere, oder Pflanzen und Tiere, die beides zu sein scheinen, Blumen-Tiere oder animalische Pflanzen.
Solche Traumschablonen oder Muster möglicher, virtueller Träume können wir verwenden, um sie in Schablonen und Muster von Plots für Geschichten oder Motive für Gedichte zu überführen: Wir erwachen in einer fremden Stadt; nach Einnahme eines exotischen Getränks verstehen wir die Sprache der Umgebung nicht mehr oder sprechen selbst eine uns bisher unbekannte Sprache; die Geliebte entführt uns in eine Gesellschaft, die sich verschworen hat, unsere Persönlichkeit durch systematische Verwendung irreleitender Kommunikationen oder magischer Rituale aus dem Lot zu bringen; ein sterbender Freund vermag bei seinem Ableben uns seine von Unruhe erfüllte, ungestillte Seele als realen Teil unseres Seelenlebens zu vermachen, von dem wir so lange obsediert und heimgesucht werden, bis es uns gelingt, an des Freundes statt seinen tiefsten Wunsch zu erfüllen, und wenn es der nach dem Tod seines Feindes wäre.
Wir können malerische Sujets in die Umgebung virtueller Träume verpflanzen, sie nehmen dann andere, seltsam erschreckende oder seltsam beglückende Ausdruckswerte an: Ein fahler Kreis wird wie in den abstrakten Bildern Kandinskys in ein unterirdisches oder überirdisches Reich von zuckenden Lichtimpulsen und schlingenden Farb-Lianen versetzt und beginnt in einem unterirdisch anmutenden Blaugrün oder einem überirdisch anmutenden Goldrot zu strahlen.
Wir können dichterische Sujets in die Umgebung virtueller Träume verpflanzen: Das lyrische Ich sieht sich scheinbar in eine bukolische Landschaft versetzt, aber das Land und seine Inhalte sind wie bei den Gedichten von Fernando Pessoa alias Alberto Caeiro in Wahrheit sein eigener Körper und seine Empfindungen, die Gestalt und der Duft der Blume sind die Projektionen des Seh- und Geruchssinns, die Sommerschwüle des Mittags ist eine Projektion des vegetativen Nervengeflechts und der blasse Mond steigt nicht aus dem Dunst des Teiches auf, sondern als eine Erinnerung aus dem Dunst des Seelengrunds.
Traumschablonen sind wie Farbmuster oder Muster von Kleidern in dem Maße unwirklich, aber gegenwärtig, wie Farben von Farbmustern echte Farben darstellen, ohne daß sie schon in Individuen wie der bestimmten Blume oder dieser bestimmten Jacke mit diesen bestimmten Farbnuancen verwirklicht wären. Man könnte sagen, individuelle Träume sind Traummuster, die im Augenblick des Traums auf die individuelle Seele des Träumenden hin maßgeschneidert werden.
Wir seltsam, daß Muster und Schablonen das Eigentümliche des Lebens ausmachen: „Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden“ – damit ist alles gesagt. Die näheren Umstände von Ort und Zeit, Name und Geschlecht, schön und häßlich, krank und gesund sind wie Schattierungen der Grundzeichnung oder wie die hübschen Miniaturbäume und Minitiere und Zwergenfußgänger, die wir als Kinder auf den Stadtentwürfen der Architekten und Städtebauer bewundert haben.
Es ist wohl das Individuum, dem wir die Eigenschaften so und so alt und groß und klug zu sein, zusprechen; aber die Substanz seines Lebens macht es aus, so alt, so groß, so klug zu sein.
Individuen verkörpern die gleichen Muster, aber nicht dieselben: Sokrates hat mit Hans-guck-in-die Luft die Eigenschaft gemeinsam, Mensch zu sein, nicht aber ein heroisches Dasein zu führen, das vor dem Tod nicht zurückschreckt. Alle Verliebten teilen mit Romeo und Julia das gleiche Muster von mehr oder weniger ausgeprägten und intensiven Gefühlen, aber nur jene und noch ein paar wenige andere Paare adelt der heroische Opfertod. Alle individuellen Blumen entstammen einem gleichsam mustergültigen Blatt, das Goethe der Urpflanze zuschrieb; aber es gibt unzählige Varianten, das Urblatt zur Entfaltung zu bringen. Wir haben mehr oder weniger das gleiche DNA-Muster, und jetzt schau dich an, und dann deinen Freund, deine Freundin oder deinen Nachbarn.
Platon hatte demnach recht, zu behaupten, die Substanz und der dauernde Gehalt von Leben und Dasein seien die allgemeinen Muster, Ideen oder Formen; und Aristoteles wiederum hatte recht, zu behaupten, wirklich seien nur die Individuen, die jeweils aktualiter diese Formen in unterschiedlicher Auswahl und in variantenreicher Ausprägung verwirklichen und repräsentieren.
Was die Schablonen für den Traum und die Muster für das Leben sind die Formen und Gestalttypen wie Lied, Klage, Ode, Elegie, Ballade oder Sonett im Leben der Gedichte.
Kein Lied ohne Sanglichkeit und leicht gewiegten Rhythmus, ohne Reim oder Refrain, kein Lied ohne Blume und Stern, unheimlichen Schatten und traulichen Duft, ohne Sehnsucht und Erinnerung; und ebenso kein Sonett ohne das Rezitativ einer gehobenen Stimme, ohne Leidenschaft des Gedankens und Nachsinnens, ohne den schlanken Körper der fein aus Quartetten und Terzetten gezimmerten Barke, die die hohe Woge oder Stromschnelle der Gedankenfuge und Reflexion des Ich, ausgesetzt auf dem reißenden Fluß des Schicksals, bewältigen muß.
Lied und Sonett sind Muster oder Schablonen der dichterischen Aussage, ohne die sie ihren Daseinsgrund verlören. Woher sie stammen, wer ihnen diese eigentümliche Form und Musterung und Maserung mitgab? Fragen wir nach dem Urblatt Goethes, fragen wir nach dem Ursprung des Lebenscodes! Wir stehen am Rande des Unerforschlichen, Unauslotbaren, des offenkundigen Geheimnisses.
Erklärungen der Art, wie wir sie der Schule entnehmen, wie daß das Komplexe, der Organismus, der Traum, das Gedicht, sich aus einfachen Elementen zusammensetze und kombiniere, führen uns an der Nase herum, denn betrachten wir den scheinbar einfachsten Kinderabzählreim:
Eins zwei drei vier fünf sechs sieben,
eine alte Frau kocht Rüben,
eine alte Frau kocht Speck,
und du bist weg.
Wir finden hier in nuce ein Grundmuster lyrischer Aussage: die liedhafte Form in einer vierzeiligen Strophe, die durch zweimaligen unreinen Kreuzreim verfugt ist; drei Zeilen sind durch vierfachen Trochäus rhythmisch geprägt, die ausklingende Zeile dagegen hebt sich davon durch zwei Jamben ab. Eine rhythmisch-motivische Eigenart des Lieds finden wir in der variierten Wiederholung der zweiten Zeile, was uns an die beschwörenden Formeln und Invokationen der alten Volkslieder erinnert. Und ist nicht das Bild der alten Frau, das da aus Kindermund erweckt wird, eine folkloristische Reminiszenz an die unheimliche Kräuterfrau, die mythische Hexe?
Wie viele Elemente des Liedes sind in diese wenigen schlichten Kinderliedzeilen zusammengeschnurrt? Wir können also schon bei den kleinen und schlichten Liedweisen nicht von minderer Komplexität des Musters reden. Gemahnt uns dieser Befund nicht an das Rätsel der scheinbar einfachen einzelligen Organismen, der Mikroben oder kleinsten Wassertiere wie der Geißeltierchen, deren harmonisches Zusammenwirken winziger Bauteile und Organellen die Rede von der allmählichen Evolution vom Einfachen zum Komplexen als leere Formel entlarvt?