Chimären
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Einer der Jahrzehnte dem Prager Versicherungsangestellten und Tuberkulosekranken Franz Kafka hinterhergeschnüffelt und sogar seine fleckigen Unterhosen unter die Lupe genommen hat, weiß über seine Literatur, von der jener behauptete, sie einzig sei sein Leben, nur die üblichen Platitüden wiederzukäuen wie, das Romanfragment Der Prozeß lese sich als Prophetie der totalitären Herrschaft oder die Erzählung Die Verwandlung bilde Zerwürfnisse und Lebensverfehlungen der Mitglieder kleinbürgerlich-patriarchalischer Familien ab.
Die Gesichter Kafkas tragen stets die Schminke und die Maske des Zeitgeistes; vor ein paar Dezennien sah es noch bleich aus, überspannt und verhärmt, Typus Märtyrer der Kunst à la Baudelaire und Van Gogh; jetzt riecht man förmlich das Rasierwasser am gestrafften Hals, sieht den Anhänger der Lebensreform nackt sich vor offenem Fenster verrenken oder pfeifend zu den Huren gehen. Form und Gehalt seiner wie heiße Lava erstarren Sätze kommt man auf diese amusische Manier um keinen Deut näher.
Toleranz ist nur mehr ein Codewort für Furcht und Selbstaufgabe; Buntheit und Vielfalt ein Euphemismus für das grelle Cabaret der Perversion und die Uniformität der Geschmacklosigkeit.
Die heitere Ruhe der Gleichgültigkeit und die höfliche Abweisung des Noli me tangere sind das Kennzeichen des souveränen Geistes.
Die Hysterie des enthemmten Moralismus heuchelt Kompassion und Empörung über Bilder des Schreckens, die sie sich im Paket mit pornographischen Darstellungen aus dem weltweiten Netz heruntergeladen hat.
Karikatur des Mitgefühls in seiner exhibitionistischen Zurschaustellung.
Die mehr oder minder triebhaft-kriminelle Natur des Menschen bedarf des Korsetts der Sitte, der Aufsicht einer weitblickenden Führung und der harten Hand der Züchtigung; gewiß, auch jener, dem die Tradierung und das Eintrichtern sittlicher Formen, die weise Führung und die unbestechliche Gerichtsbarkeit überantwortet wurden, ist ja vom selben Schrot und Korn, wie jener aus krummem Holz geschnitzt; er kann moralisch erblinden, sadistische Neigungen in Strafexzessen austoben, korrupt und bestechlich werden. Keiner ist gänzlich frei von den Anfechtungen des Dämons, jeder kann ohne den Influxus des höheren Lichts zu seinem Stellvertreter und Affen herabsinken. Dies ist der dialektische Knoten, den kein philosophischer Alexander zerschlägt.
Die scheinbar edelmütige Forderung egalitärer Meinungsfreiheit ist insofern ein Zeichen von Dummheit, als sie dem Ochsen zubilligt, was nur Juppiter gebührt.
Der erste Sproß des Goldenen Zeitalters lächelt, gemäß der 4. Ekloge des Vergil, da er sie gleich erkennt, seine Mutter kurz nach der Geburt schon an; die Zöglinge des Eisernen Zeitalters tun dies Wochen später. Den Figuren Kafkas scheint dies Lächeln, das die urtümliche Verwurzelung des Lebens anzeigt, verwehrt zu sein.
Der Nebel des zweideutigen Geredes verdichtet sich endlich unter dem Strahl der Abendsonne zu einem Tropfen bitteren Schweigens.
Kafkas zwitterhafte Wesen und Zwielichtkreaturen – die Frauen, die vom Arkanum der Macht zugleich erhoben und erniedrigt sind, Frauen, deren Umarmungen den Umarmten entgeistern, die Gehilfen des Landvermessers K., Halbwesen, Gespenster des Erhabenen und kindliche Narren des Gewöhnlichen.
Chimären der Schrift, die aus einer Ferne blicken, die keine Interpretation näherbringt.
Blinde Zeichen, denen keine Deutung die Nährlösung gewährt, in der ihnen Augen wüchsen.
Vergleiche, die den Nebel nicht erhellen, sondern auf beunruhigende Weise schimmern machen.
Dem Sterbenden wird durch einen atemlosen Boten die Nachricht überbracht, daß er ein Wechselbalg sei und seine Identität auf einer geschickt verwobenen Fabel beruhe.
Die mythischen Heroen, die erfahren daß ihre Mutter eine Nymphe oder ihr Vater ein Adler war.
Thetis, die Meeresgöttin, die ihrem Sohn Achill den glorreichen Untergang prophezeit.
Josef, der wußte, daß Jesus nicht sein leiblicher Sohn ist; der junge Jesus, der nach der Legende in der Schreinerwerkstatt des Vaters, und als Vater sah er ihn noch an, ein Kreuz gezimmert haben soll.
Hölderlins Chimäre, Frucht der vom heiligen Geist geschwängerten antiken Muse.
Wittgenstein war zuversichtlich, die Bedeutungen alltäglicher Begriffe, die wie Dunstglocken über der Erde schweben, mittels raffinierter Kondensationsprozesse sprachlicher Analyse auf den Boden des normalen Gebrauchs tropfen lassen zu können; aber auch dieser Boden schwankt, auch in ihm können Tropfen spurlos versickern.
Chimären der Hoffnung, Zeitenwende, Umbruch, Advent; aber dann gähnt wieder der graue Abgrund des Alltags.
Die subtile Hermeneutik sprachlicher Kunstwerke, verludert und verlottert zur Vulgärsoziologie und einem voyeurhaften Biographismus.
Die Epoche, an deren Strand uns die Welle des Schicksals gespült hat, als Land der Verheißung ganz in sich aufzunehmen, ist ein Zeichen geistiger Schwäche.
Nicht zu sehen, was da ist, sondern was man sich einredet oder vorsagen ließ; den Schatten, den man selbst auf die Dinge wirft, ihrer Unzugänglichkeit und Vagheit zurechnen.
Alles in Zweifel ziehen statt die Universalität seiner Anwendung.
Es kann keine Kritik der (reinen) Vernunft geben, denn die Annahme der Existenz von Entitäten wie Vernunft, Geist und Bewußtsein ist eine von der Philosophie des Altertums (Platon, Aristoteles) und der Neuzeit (Descartes) aus sprachlichen Schattenspielen projizierte Chimäre; dies gilt entsprechend auch für ihre Negationen Unvernunft, Materie und Unbewußtheit.
Das Denken oder der Geist ist nicht etwas, was (in virtueller Weise, gleichsam in Wartestellung) übrigbleibt, wenn man von gewissen Tätigkeiten absieht, die wir mit psychologischen Begriffen wie sprechen, rechnen, sich erinnern oder erwarten identifizieren und benennen.
Bewußtsein oder das Ich ist nicht etwas, was (in virtueller Weise, gleichsam wie die Kasperlpuppe in der Kiste, die herausspringt, sobald wir sie antasten) übrigbleibt, wenn wir von allen geistigen Zuständen und Tätigkeiten absehen, die wir mit psychologischen Prädikatsadverbien wie wach, aufmerksam, konzentriert oder fahrig, unaufmerksam, zerstreut qualifizieren und näher beschreiben.
Vernunft (Geist, Bewußtsein) ist keine Entität, sondern eine sprachliche Chimäre.
Wir sagen zurecht: „Es war unvernünftig von ihm, bei Nebel und Schneewehen den Vordermann zu überholen.“ Aber wir können damit nicht meinen, daß es ein Mangel an einer geistigen Substanz namens Vernunft war, die ihn so handeln ließ, wie er es nun einmal tat. Denn wäre dem so, könnten wir nicht sagen, und wir können es ja: „Er hätte Vernunft walten lassen (können), wenn (indem) er unter solch widrigen Umständen kein Überholmanöver ausgeführt hätte.“
Chimären wie DIE Vernunft, DER Geist oder DAS Denken, aber auch DAS Bewußtsein und DAS Ich gehören samt ihren Negationen auf den Operationstisch der philosophischen Sprachkritik. – Wir können nicht einmal sagen, daß sie die Operation der Sprachkritik nicht überlebt haben; denn sie haben nur ein chimärisches Scheinleben vorgetäuscht.
Was es mit der Vernunft auf sich hat, erschließt sich uns, wenn wir den gewöhnlichen Gebrauch von adverbiellen Bestimmungen wie „dumm“, „geistesabwesend“, „unbedacht“, „planlos“, „verblendet“ oder „von Sinnen“ beschreiben.
Vernünftiges Handeln ist nicht an die Präsenz und Strahlkraft des Bewußtseins und Selbstbewußtseins gebunden. – Denn wir sagen, einer handelte vernünftig, als er spontan, ohne noch zu überlegen, vor dem abbiegenden Fahrradfahrer gebremst hat; aber auch jener, der, ohne sich seiner subtilen Ausweichmanöver bewußt zu sein, sich seinen Weg durch die andrängende Masse der Passanten in der Einkaufspassage bahnt.
Von der dem Liebeswahn anheimgefallenen Dido könnte man nur sagen, sie handelte unvernünftig, wenn sie sich das Leben nahm, um sich von ihm zu befreien, insofern wir die Maxime der Selbsterhaltung als allgemeingültiges Vernunftprinzip unterstellen; aber das können wir angesichts der heroischen Selbstopfer von Eltern für ihre Kinder oder von Patrioten und Freiheitskämpfern für ihre Ideale mitnichten tun.
Wir führen das chimärisch aufgeblasene Begriffswort auf die bescheidene Anmutung des prädikativen Adverbs zurück; bescheiden, weil es ein unselbständiges Anhängsel des Tätigkeitswortes ist.
„Er ist nicht bei Sinnen“ meint: Wir können nicht voraussehen, zu welchen unschönen, gewaltsamen, scheußlichen Handlungen er sich noch hinreißen läßt.
Es ist unvernünftig, ein Unternehmen zu beginnen, das aller Voraussicht nach unsere Kräfte übersteigt. – Dagegen ist es unsinnig (widerspricht dem Sinn des Begriffs), von einem Versprechen zu reden, wenn jener, der es abgibt, nicht willens oder nicht in der Lage ist, es zu erfüllen.
„Sinn“ ist im Schachspiel des Redens der König, „ Vernunft“ nur ein gewöhnlicher Bauer, wenn er auch in seltenen Fällen die Grenze des Gewöhnlichen überschreiten und sich in eine Dame, einen Turm, einen Springer verwandeln kann.
Die Grammatik von Verben wie sehen, hören oder schmecken verleitet uns dazu, die Grammatik von Verben wie denken, glauben, meinen oder vernünftig urteilen analog zu konstruieren. – Aber denken, meinen, urteilen beziehen sich anders als sehen, hören und fühlen nicht auf einen Gegenstand, sondern auf einen Sachverhalt. – Ich sehe den Zweig, der sich im Wind bewegt. – Aber: Ich glaube (meine, denke), daß sich der Zweig im Wind bewegt.
Die Annahme, das Sich-im Wind-Bewegen sei eine Art Entität, ist das Tor zur platonischen Welt chimärischer Ideen.
Epikur schon nahm an, der Gipfel des Olymp sei verwaist und die entflohenen Götter hausten in uns gänzlich unzugänglichen Intermundien. – Doch was für uns gänzlich unzugänglich ist, davon können wir nicht einmal sinnvoll reden.
In den Satiren des Horaz sind die Götter nur noch metaphorische Zierpuppen.
Wahrnehmungsprädikate wie sehen, hören, schmecken beziehen sich auf Ausschnitte der Realität; psychologische Prädikate wie glauben, meinen, denken auf Modelle der Realität, mögliche Sachverhalte.
Der Gebrauch von Wahrnehmungsprädikaten setzt eine natürliche Skala von graduellen Unterschieden im Wahrnehmungseindruck voraus, sehen den Unterschied von Nähe und Ferne, Vordergrund und Hintergrund; hören den Unterschied von Tonhöhen und Lautstärken; schmecken den Unterschied von süß, sauer und bitter.
Anders der Gebrauch psychologischer Prädikate: Wir glauben etwas oder nicht, wissen etwas oder nicht, erwarten etwas oder nicht, hoffen auf etwas oder nicht.
Wir können sagen: Es ist unvernünftig, zu glauben, zu erwarten, zu hoffen oder zu befürchten, daß der Verstorbene morgen wieder auf der Schwelle stehen wird.
Vernünftig oder unvernünftig nennen wir demnach die plausible, sinnvolle und begründete oder die unplausible, sinnlose und unbegründete Anwendung von psychologischen Prädikaten wie glauben, erwarten, hoffen und befürchten.
Vernünftig und unvernünftig sind adverbielle Bestimmungen von psychologischen Prädikaten zweiter Stufe.
Das religiöse Weltbild des frommen Christen läßt ihn glauben, erwarten und hoffen, dem Verstorbenen im Jenseits wiederzubegegnen. – Der Ungläubige kann diese Annahme nicht als unvernünftig verwerfen oder diskreditieren, auch wenn sie im Rahmen seines Weltbildes keinen Platz findet.
Vernunft ist also kein universaler Begriff, der unabhängig von allen Weltmodellen anwendbar sein könnte.
Eine Vernunft, die gleichsam jenseits aller sprachlich strukturierten Lebenswelten auf dem Richterstuhl transzendentaler Autonomie thront, ist eine Chimäre.
Einer geht hin, verschenkt all sein Hab und Gut, lebt irgendwo als Einsiedler von Gottes Odem, Milch und Käse, und sein Name ist verschollen. Die Großherzigen bewundern seine Lebenswende, die Engherzigen nehmen sie ihm übel, die Vernünftler reden von Verschwendung und Mißbrauch der eigenen Kräfte und Talente.
„Er ist endlich zur Vernunft gekommen!“, ruft aus, wer den verbummelten Lebensgang des Freundes mit Bedauern beobachtet hat und sich daran erfreut, daß er die Anstellung als Versicherungskaufmann angenommen hat. – „Er vergeht sich an seinem Talent!“ ruft ein anderer aus, der sich an den poetischen Blüten und Köstlichkeiten delektiert hatte, die am Rand des verschlungenen Lebenspfades seines Freundes ins Kraut geschossen waren.
Embleme der Unvernunft und der Narretei hat der komische Schriftsteller Franz Kafka in den Zwillingsfiguren der Gehilfen im Schloß-Roman aufgerichtet; auf zwielichtig-zwinkernde Weise erhellen und erheitern sie die Düsternis des Verhängnisses, den metaphysischen Nebel, den der Protagonist trotz all seiner dialektischen Landvermesser-Finessen nicht zu durchdringen vermag.
Die Rasierklinge der Ratio kann den Nebel und das Dunkel der menschlichen Existenz nicht zerschneiden.
Es ist keine Einladung, dem Irrationalismus zu huldigen, wenn man bemerkt, daß die tieferen, geheimeren Quellen, aus denen menschliche Sehnsucht schöpft, und sollte sie ihren Durst daran auch nie gänzlich stillen können, weder von der Vernunft gefunden und freigelegt noch von ihrem trockenen, nüchternen Geist je gespeist werden können.
Mißtrauisch gegen die Einflüsterungen schlangenhafter Zungen, die uns von der endlich vernünftig eingerichteten Gesellschaft zu prophezeien vorgeben, neigen wir unser Ohr den Sibyllen und Propheten, die von einem imaginären Arkadien, einer aurea aetas der reinen Dichtung künden.
Hat die enthemmte, zügellose Vernunft erst ihren großen Plan zur Erneuerung der Welt vom Zentralkomitee der Diskurspolizisten und der Avantgarde der Erwachten verabschieden lassen, dann wehe den Beglückten!
Vernunft ist per se nicht schöpferisch; daher sind unschöpferische Kleingeister ihre oft fanatischen Apologeten.
Die Eule der Minerva hockt im Laub der Dämmerung und beäugt die schalen Überbleibsel des Fests oder die riesigen Haufen abgenagter Knochen und bleicher Schädel der Großen Zeit.
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