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Von der Kunst des Gesprächs

02.06.2015

Der frühe Schüler sagt über alles, was sich fortbewegt, ob nun ein Mensch, ein Pferd, eine Katze oder ein Auto gemeint sein mögen: „Es bewegt sich.“ Der mittlere Schüler lässt schon größere Mühe walten und schreibt vielleicht: „Da kam ein Junge gerannt.“ Der reife Schüler gefällt sich in Nuancen und notiert: „Der Bettler schlürfte daher, die Schindmähre trottete ihres Wegs, die Katze schmiegte sich elegant um den Pfosten, der Rennwagen durchschnitt die Linie des Horizonts.“

Sicher könnte man sagen, dass eine gewisse geistige Reife in der Feinheit und Mikroskopie der Beobachtung und in der Differenziertheit und Mikrologie der Beschreibung gründe und dass die Genauigkeit der Wahrnehmung sich in der Nuanciertheit des Vokabulars spiegele oder der Reichtum des mannigfaltigen Wortschatzes den Blick für das Detail und die Köstlichkeit des feinen Unterschieds eröffne, die wir der Betrachtung abgewinnen.

Wir bemerken aber, dass die Differenzierungen der Wahrnehmung und der Beschreibung nicht unter allen Umständen und in allen Situationen einen Selbstwert darstellen. Wahrnehmungen und deskriptive Äußerungen gewinnen ihren funktionalen Sinn zumeist im Gefüge der Verständigung oder des Gesprächs – auch des imaginären Gesprächs von Autor und Leser. Manchmal genügt ja der Hinweis: „Schau mal, die Katze!“, wenn wir spazieren gehen und ich deine Aufmerksamkeit auf das Tier lenken will, dessen geschmeidige und elegante Bewegungen zu beobachten uns Vergnügen bereitet. Manchmal genügt der Hinweis des Autors auf den Abgang seines Helden: „So ging er dahin“, wenn er mit solch dürftigen Worten die Trostlosigkeit seiner dürftigen Fortexistenz evozieren will.

Wenn dich dein Freund, der aus dem Fenster schaut, mit der trivialen Bemerkung über die Schulter anredet: „Die Sonne scheint!“, kannst du vermuten, dass er meint: „Jetzt haben wir genug geplaudert, lass uns die Zeit nutzen und uns bei dem schönen Wetter die Beine vertreten!“ Du kannst demnach seine triviale Bemerkung über die Wetterlage eintauschen gegen die Aufforderung: „Auf, lass uns ein wenig spazieren gehen!“

Würde dein Freund pedantisch Wert auf die Genauigkeit seiner Wahrnehmung und die Präzision seiner Beobachtung legen, hätte er bemerken können: „Das Thermometer zeigt genau 26,3 Grad Celsius.“ Indes wärest du aufgrund dieser Bemerkung nicht auf die Idee gekommen, dass er dich damit auffordern will, nach draußen zu gehen. Sollte er diese Gesprächsabsicht gehabt haben, hätte er sie mit seiner pedantischen Äußerung verfehlt.

Wir bemerken, dass die Kunst des Gesprächs sich nicht in erster Linie im direkten, nuancierten und detailverliebten Mitteilen des Gemeinten und seinem haargenauen Verständnis bewährt, sondern oftmals in der indirekten Mitteilung des Gemeinten (so knapp sie immer sein mag) und im geschickten oder intuitiven Erraten des eigentlich Gemeinten.

Wenn du allerdings deinen Freund zu dir bestellt hast, damit er dir ein wenig die Zeit vertreibe, weil du krank darniederliegst, und er kommt dir unversehens mit der Bemerkung ins Gehege: „Schau mal, die Sonne scheint!“, könntest du dies als Affront auffassen, falls du darin die Aufforderung heraushören solltest, sich zu einem Spaziergang aufzumachen, obwohl du ans Bett gefesselt bist. Da du aber der Zuneigung deines Freundes gewiss bist, wirst du ihm diese Äußerung nicht krumm nehmen, sondern so verstehen, als habe er gemeint: „Ja, das Wetter ist wohl schön, und es wäre unter andern Umständen verlockend, gemeinsam im Park spazieren zu gehen. Nun du aber krank bist, will ich gern noch ein Weilchen bleiben und dir die Zeit mit angeregtem Geplauder vertreiben!“

Wenn der Arzt dich zu einer Visite aufgesucht hat und zu deinem Freund, der zu Besuch weilt und gerade am Fenster steht, sagt: „Die Sonne scheint!“, wirst weder du noch dein Freund diese Bemerkung als Aufforderung verstehen, einen Spaziergang zu machen, sondern vielleicht als Aufforderung, die Jalousie herunterzulassen, damit dich die Sonne nicht blende, da du gerade noch über Kopfschmerzen geklagt hast.

Wir sehen, in welchem Maße das Verständnis von Gesprächsäußerungen abhängig ist vom Äußerungskontext, zum dem wir sowohl die äußeren Umstände der Gesprächssituation als auch die Erwartungen der Gesprächsteilnehmer rechnen. Damit gewinnen wir einen Gradmesser für die Verständlichkeit von Gesprächsäußerungen, insofern Äußerungen, die weder den Kontext noch die Erwartungen der Teilnehmer abbilden oder berücksichtigen, als unverständlich aus dem Gesprächszusammenhang herausfallen.

Die wechselseitigen Erwartungen der Gesprächsteilnehmer sind ihrerseits eine Funktion der sozialen Rollen, die sie einnehmen oder die sie sich wechselseitig zuschreiben. Der Arzt kann dich kraft seiner Rolle auffordern, nicht so viel zu reden, weil dies deiner Migräne nicht zuträglich ist. Dieselbe Aufforderung aus dem Munde deines Freundes, mit der er deine Klagen über deinen Liebeskummer unterbricht, würdest du als unsanft und schnöde empfinden.

Wir bemerken, dass die Kunst des Gesprächs sich in manchen Fällen an der situativen Vorgabe oder der Wahl des Gesprächsthemas zu bewähren hat. Das Arztgespräch, die Prüfungssituation und das Vorstellungsgespräch liefern eindeutige thematische Vorgaben, während die Kaffeehausplauderei mit Kollegen oder die Stammtischrunde sich thematisch freier ergehen und entfalten dürfen. Doch manchmal mögen wir im Gespräch mit dem Arzt, dem Prüfer oder dem Personalchef ein gemeinsames Interesse entdecken, und plötzlich führt uns das Thema klassische Musik oder japanische Tuschmalerei zu ergötzlichen Digressionen, bis derjenige, welcher kraft seiner Rolle und Befugnis den Ton angibt und das Gespräch im eigentlichen Sinne führt, uns wieder zum Ernst des Gesprächsanlasses zurückleitet.

Zur Kunst des Gesprächs gehören auch gewisse Strategien, die uns helfen, Fallstricke zu vermeiden, unser Gesicht zu wahren oder die Unterhaltung nicht nur mit Geschick weiterzuführen, sondern auch mit Geschick zu beenden, wenn uns der Sinn danach steht oder der Gesprächsteilnehmer uns langweilt oder lästig fällt.

Kommen Fragen oder Themen auf, denen wir uns nicht gewachsen fühlen oder die uns peinlich sind, können wir spielerisch oder listig die Aufmerksamkeit des Teilnehmers ablenken und auf uns genehmere Gebiete hinführen. Kommen Fragen oder Themen auf, denen unser Gegenüber nicht gewachsen ist oder die ihm peinlich sind, ist es geraten, dieselbe Strategie anzuwenden.

Ein Gespräch zu beenden, ohne Verlegenheit oder Missstimmung zu erwecken, wenn einem das Thema zuwider oder das Gegenüber lästig zu werden drohen, gehört zur hohen Kunst der Gesprächsführung. Hier findet eine gewisse Weisheit Eingang, wenn es gelingt, das Motiv zur Verabschiedung dem Gegenüber gleichsam in den Schoß zu legen. Das Geringste ist, ihn sanft an die dringende Erledigung zu erinnern, die er heute noch zu absolvieren beiläufig erwähnt hat. Das Höchste aber, sich selbst den Anschein von Ignoranz und Unwürdigkeit zu geben, was es dem anderen leicht macht, sich von jemandem möglichst bald zu verabschieden, der die filigranen Verästelungen einer solch schönen Seele wahrzunehmen und zu würdigen nicht imstande ist.

Wider allen Anschein ist das freieste und zugleich gebundenste Gespräch das Gespräch unter Freunden und Liebenden. Denn diese bringen die höchsten Erwartungen und feinsten Empfindlichkeiten mit, die es uns untersagen, den hemmungslosen Dampfplauderer zu geben oder mit unseren intimsten Erlebnissen Rad zu schlagen. Andererseits erhoffen wir uns nicht zu Unrecht vom intimen Austausch mit denen, die wir lieben, das Gemüt des anderen durch die ungebundenen und spielerischen Ausschweifungen unserer Phantasie zu Reaktionen zu beflügeln, die für uns leicht den Wert von zärtlichen Berührungen oder Küssen annehmen können. Auf diesem hohen Strom das Boot des Gesprächs, das von untergründigen Strudeln und wollüstigen Böen zugleich beschwingt und bedroht wird, sicher in den Hafen eines glücklichen Abschieds zu lenken, gehört vielleicht zur hohen oder höchsten Kunst des Gesprächs.

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