Von der Idee der Objektivität
Wir haben leicht reden davon, wie es ist, mit der Haut zu denken, denn als wichtiges Organ der Wahrnehmung von Empfindungen beliefert sie uns ständig mit minutiösen Erlebnis- und Vorstellungsinhalten, die vor allem ihrer relationalen Bezüge wegen für unsere Orientierung im Leben entscheidend sind. Wir meiden Orte, die eine gefährliche Hitze ausstrahlen und gehen zweimal rückwärts, wenn die Intensität der Wärmeempfindung zunimmt. Aus kalter Frostnacht kommend suchen wir die Nähe der warmen Feuersglut und gehen zweimal schneller, wenn die Intensität der Wärmempfindung zunimmt. Neben Nase und Geruchssinn sagt uns die Haut, ob die Luft hier rein genug ist, das heißt erträglich trocken oder feucht und warm, um unsere Zelte aufzuschlagen.
Doch wären wir blind, sagte dir die Haut nichts darüber, um welche Art von Ding es sich handelt, das plötzlich auf deiner Hand kitzelt. Ist es ein Käfer oder ein anderes Insekt, Körner Sands, die darüber rieseln, oder der Flaum der Feder, mit der dich einer neckt? Erst wenn du die Augen aufzuschlagen vermagst, wirst du der Tatsache inne, daß es sich bei dem Ding oder Gegenstand oder Objekt um den Flug von Samen handelt, denn du liegst unter einem Haselgebüsch. Die Sehwahrnehmung oder die Sicht ist es offenkundig, die uns mit dem Gegenstand versorgt, den wir als Quelle der Reizungen all unserer Organe identifizieren, ob es die Haselsamen sind, die uns über die Hand gleiten, oder die gellenden Schreie, die wir vernehmen und die wir den Wildgänsen zuordnen, die wir im Flug über uns ausmachen.
Wenn die durch die Schreie der Wildgänse hervorgerufene Hörempfindung verschwunden ist, sind die Gegenstände, die sie hervorgerufen haben, die Vögel, noch vorhanden. Wenn die durch die Samen hervorgerufene Hautempfindung verschwunden ist, sind die Gegenstände, die sie hervorgerufen haben, die Samen, noch vorhanden. Wenn du dich so weit vom Feuer entfernst, daß die Wärmeempfindung auf deiner Haut immer weniger und dann gar nicht mehr zu spüren ist, ist der Gegenstand, der sie hervorgerufen hat, das Feuer, nicht erloschen.
Würden wir als reine Hautempfindungswesen das Feuer im Dunklen nicht weiter brennen sehen können, auch wenn die Wärmeempfindung der Haut erloschen ist, würden wir denken oder schlußfolgern, daß der Gegenstand, der sie hervorgerufen hat, das Feuer, nicht mehr brennt. Wenn wir aber mit dem Haut- und Gesichtssinn uns Orientierung verschaffen können, wie wir es können, korrigieren wir den durch die Hautempfindung veranlaßten falschen Gedanken, das Feuer sei erloschen, durch den richtigen Gedanken, es brenne noch. Mittels des visuellen Systems und unserer Fähigkeit, es zur Identifizierung von Gegenständen und zur Bewertung ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung zu nutzen, erkennen wir, wie es um die Dinge in Wahrheit bestellt ist.
Wir unterscheiden demnach Denken und Erkennen in der Hinsicht, daß uns bloßes Denken mit allen möglichen Gedanken über Sachverhalte, die wirklich oder möglich oder unmöglich sind, beglückt, während das Erkennen beansprucht, uns über Sachverhalte in Kenntnis zu setzen, die tatsächlich bestehen.
Auf der Basis unserer Nahempfindungen wie Tasten, Riechen und Schmecken haben wir kein Vokabular entwickelt, in dem Substantive oder Dingwörter Maßstäbe setzen. Wir sagen von dem, was uns rauh oder weich anmutet nicht, das sei ein „Rauhmacher“ oder ein „Weichmacher“, und von dem, was uns süß schmeckt, nicht das sei ein „Süßmacher“, aber wir sagen, das eine sei eine Sperrholzplatte und das andere eine Feder und jenes eine Erdbeere.
Doch könntest du einwenden, daß auch unser Gesichtseindruck auf seine Weise limitiert sei und uns nur mit vorübergehenden Wahrheiten bekanntmache. So wird das visuelle Bild des Feuers, je mehr wir uns von ihm entfernen, nach und nach schwächer, bis es am Horizont ganz verschwindet, während wir natürlich davon ausgehen, daß die Ursache unserer bisherigen visuellen Reizung weiterbesteht. Ja, mehr noch, der Stern, den wir jetzt wahrnehmen, könnte aufgrund der ungeheuren Entfernung, den sein Licht in der Zeit zurückgelegt hat, längst erloschen sein, so daß wir aufgrund der gegenwärtigen visuellen Wahrnehmung zu dem falschen Gedanken und der verfehlten Schlußfolgerung verführt werden, das Objekt der Sinnesreizung bestehe weiterhin fort.
Wir bemerken, daß die Idee der Objektivität, nämlich, daß die Welt aus Gegenständen und Strukturen besteht, die wir zwar rezipieren und repräsentieren, aber nicht mittels der Organe unserer Rezeption und Repräsentation erzeugen, nicht auf die Funktionssysteme der Wahrnehmung reduziert werden kann. Wir müssen, um unseren Urteilen Objektivität und damit den Anspruch auf Wahrheit zu vermitteln, neben der Existenz von empirischen Gegenständen wie Samen, Feuern und Erdbeeren, die wir jetzt wahrnehmen, die Existenz von theoretischen Gegenständen wie erloschenen Sternen oder unsichtbaren Feuern postulieren, die wir jetzt nicht wahrnehmen. So postulieren wir auf der Basis unseres physikalischen Wissens die Existenz von schwarzen Löchern, zu deren Definition gehört, daß sie prinzipiell nicht wahrnehmbar sind, weil sie kein Licht aussenden, das die Grundlage unserer Informationen über die kosmischen Gegenstände darstellt.
Die Idee der Objektivität nötigt uns aber nicht nur in den Naturwissenschaften das Postulat der Existenz theoretischer Gegenstände auf, sondern ist auch in die Basis unserer kommunikativen Lebensvollzüge eingelassen. Sicher kannst du an der Objektivität des Urteils zweifeln, daß ich dich gestern im Park gesehen habe, weil du dir sicher bist, den gestrigen Tag zu Hause verbracht zu haben. Aber an der Objektivität des Urteils, daß ich dich gestern im Park gesehen habe und du zur gleichen Zeit im Bett gelegen hast, mußt du zweifeln.
Wir bemerken, daß wir zur Grundlegung unserer alltäglichen Verständigung die Existenz eines theoretischen Gegenstandes postulieren müssen, den wir die personale Identität zu nennen pflegen. Die personale Identität ist nicht dasselbe wie die körperlichen Zustände, aufgrund deren wir sie identifizieren, wie die Tatsache, daß du dich jetzt in diesem Raum aufhältst und ich dich auf Grundlage der Sinnesreizungen, die deine körperliche Gegenwart aussendet, identifizieren kann.
Insbesondere ist die personale Identität nicht dasselbe wie die Hirnzustände, die dein Verhalten steuern. Du hast damals diesen Kreditvertrag mit deiner Hausbank unterzeichnet und bist bis auf den heutigen Tag rechtlich verpflichtet, die Raten nebst Zinsen zu begleichen. Der Hirnzustand, der den Akt der Unterzeichnung des Kreditvertrages gesteuert und begleitet hat, gehört der Vergangenheit an. Die soziale Tatsache, die aus ihm folgte, die Rückzahlungsverpflichtung, dauert an, weil sie an die Existenz und Dauer deiner personalen Identität geknüpft ist.
Jemand kann der sozialen Verpflichtung nicht mit dem Hinweis entkommen, daß seine empirische Existenz aufgrund der Modifikationen seiner körperlichen Zustände nicht mehr dieselbe ist wie zu dem Zeitpunkt, als er sie eingegangen ist. Jemand wird aus der sozialen Verpflichtung nur entlassen, wenn wir das Postulat der theoretischen Existenz seiner personalen Identität teilweise oder ganz aufgeben, zum Beispiel, weil die Person für schwer dement erklärt und entmündigt worden ist.
Personale Identität ist demnach kein empirischer Zustand, und der philosophisch dilettierende Neurowissenschaftler, der erklärt, er habe mittels bildgebender Verfahren keine Hirnareale ausmache können, die er als kausale Faktoren für die Existenz personaler Identität in Anschlag bringen könne, redet genauso großsprecherisch an der Sache vorbei, wenn er schlußfolgert, demnach gebe es keine personale Identität, wie der Neurowissenschaftler, der treuherzig behauptet, er habe ihre Existenz auf der Grundlage der Entdeckung eines solchen Hirnareals bewiesen.
Personale Identität begründet die Objektivität der sozialen Welt dadurch, daß wir sie postulieren und behaupten, daß wie sie postulieren und zuschreiben. In jedem Sprechakt ist dieses Postulat und diese Zuschreibung impliziert, oder vielmehr: Dieses Postulat und diese Zuschreibung sind die notwendige Voraussetzung für alles vernünftige und also auch unvernünftige Sprechen.
Der Akt der Unterzeichnung des Kreditvertrags hat, sagen wir, eine soziale Bedeutung, die sich in in seinen rechtlichen Folgen zeigt. Natürlich ändern sich die Rechtssysteme und die sozialen Bräuche. Eine große Verpflichtung kann durch ein Opfer an die Götter, einen Schwur oder Eid, ein Gebet bekräftigt und besiegelt werden. Aber die soziale Bedeutung ändert sich nicht, es sei denn, wir geben das Postulat der Existenz von personaler Identität auf – aber das können wir nur um den Preis der Inkonsistenz und Selbstvernichtung, denn die Aufgabe des Quells sozialer Bedeutung ist selbst ein Bedeutung setzender Akt.
Hier berühren wir den Unterschied zwischen dem Postulat theoretischer Gegenstände in der Physik und Naturwissenschaft im allgemeinen und dem Postulat der personalen Identität als Basis der sozialen Verständigung. Eine Physik ohne die Annahme von letzten atomaren Bausteinen ist denkbar, nicht aber eine Sozialwissenschaft ohne die Annahme der personalen Identität als eines letzten Bausteins sozialer Tatsachen.
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