Vom Sinn des Ritus
Sentenzen und Aphorismen
Das Sprach-Leben erscheint in den rituellen Gesten und Redewendungen, die Gruß und Abschied begleiten.
Ja, ohne diese Riten und Zeremonien gäbe es keine Ankunft und keinen Abschied. Sie wären weniger als Dazustoßen und Fortschleichen.
Das Sprach-Leben erscheint ebenso in den rituellen Gesten und Redewendungen, mit denen wir jemandem etwas schenken oder etwas zeremoniell überreichen und aushändigen.
Das Ding, das wir darreichen, bliebe nichtssagend und stumm, würden wir ihm nicht mit der angemessenen Geste und Rede Leben einhauchen.
Die ursprüngliche religiöse Geste zeigt sich im Ritus des Opfers oder der Gabe, die Menschen den Göttern darbringen. Hier ist die Rede, die dem Gegenstand des Opfers, Tier oder Blume, Leben einhaucht, das Gebet.
Opfer und Gebet setzen den Abstand zwischen Mensch und Göttern voraus; sie überwinden diesen Abstand und bestätigen ihn zugleich.
Die ursprüngliche staatlich-sittliche Geste ist die Gabe oder Darbietung eines Geschenks an den Herrscher. Sie ist mit zeremoniellen Redewendungen des Herrscherlobs und der Verdemütigung des Spenders verbunden.
Aufgrund der göttlichen und menschlichen Hierarchien erhält das Leben seine eigentümliche gravitas und dignitas.
Das ursprüngliche Geschenk bei der Bewillkommnung ist das dargereichte Mahl. Es wird wie wir gern von Homer erfahren begleitet von zeremoniellen Reden über das Woher und Wohin, Herkunft und Zukunft. Oft kannten sich die Väter und Großväter schon, so wird die Tischrede geprägt von den Überlieferungen der Familien. Je weiter sie in die Vergangenheit reichen, umso enger verflechten sich die Linien, umso dichter umgibt sie der scharfe Odem des Heroenzeitalters, ja in exklusiven Fällen stoßen sie auf die göttliche Abkunft von Gast und Gastgeber.
Das rituelle und zeremonielle Tun und Reden ist das hervorragend menschenwürdige.
In den Reden des Konfuzius findet sich als idiomatisches Sprachzeichen für eine der von ihm gepriesenen Kardinaltugenden, die Pietas der Jungen gegen die Alten, der Kinder gegen die Eltern, der Lebenden gegen die Ahnen, die hierarchisch übereinander gestellten Zeichen für „alt“ und „jung“.
Der Herrscher thront auf erhabenem Sitz. Die ihm huldigen, knien nieder oder verbeugen sich. Dieses archaische Bild ging ein ins Zentrum der christlichen Heils- und Jenseitsvorstellungen, Gott huldigen die Scharen der Engel und Heiligen.
Die Musik ist der alten Kirche eingesegnet, bilden die Engel und Heiligen doch Chöre himmlischen Gesangs.
Die Erfahrung des Heiligen strömt nicht nur aus der Unantastbarkeit des göttlichen Herrschers, sondern ebenso aus dem Wissen um das Furchtbare, ja Schreckliche, das mit ihm verbunden ist. Vor dem Thron des irdischen Herrschers können Haufen von den Feinden abgetrennter Schädel aufgeschichtet sein; in der höllischen Unterwelt des Gnaden-Gottes finden schreckliche Folterungen und Torturen statt.
Die Redewendungen, die eine solche Erfahrung ausdrücken, sind vielfach von Pathosformeln durchsetzt; denn Pathos oder Ergriffenheit bezieht sich auf das über dem Ergriffenen schwebende, thronende, erhabene Heilige.
Kein Heiligtum ohne Blut und Schmerz. Und wenn es nur die Knie sind, die den Beter schmerzen.
Nur das als Opfer dargebrachte Leid oder der geheiligte Schmerz ist sinnvoll.
Das frühe Dichterwort ist wie die auf Schalen dargebrachten Früchte und Blumen Opfergabe.
Es ruft das im Tempel- und Altarbild erscheinende göttliche Sein an.
Erst spät sinken die Anrufungen des gedichteten Gebets zu Beschreibungen dieses Bildes herab; die Beschreibungen werden schließlich Schnörkel und unverständliche Epitheta.
Das frühe Wort der Dichtung ist rituell und zeremoniell, seine Blüte und seine Frucht sind die Anrufungen oder Evokationen des göttlichen Namens.
In alten Schriftkulturen wie denen der Maya und Juden finden wir die Vorstellung vom Schöpfer als göttlichem Schreiber; die geschaffenen Dinge sind die Zeichen der Ur-Schrift.
Das Flache, Schäbige und Öde des modernen Lebens ist die Kehrseite der Verdrängung und Zerstörung des rituellen Sinns infolge von Vulgarisierung und Egalisierung aller Lebensbereiche.
Was sie als Sieg der Demokratisierung feiern, ist in Wahrheit die geistige Verschmutzung der Quellen des Lebens.
Dies gilt auch für das Verhältnis der Geschlechter: Seine von rituellem und hierarchischem Abstand geprägte dignitas versinkt in den Sümpfen vulgärer Gleichstellung.
Dichterische Zeugnisse des rituellen Umgangs der Geschlechter finden sich im Minnesang und in Goethes Liebeslyrik.
Ohne Magna Mater oder Maria als verborgene Aura verblaßt die Frau zum sexuellen Allerweltsding oder zur geschwätzig-banalen Tippse; der Mann ridikülisiert sich zum radebrechend-sportiven Kerl oder schwadronierenden Intellektuellen. Hedonistisch der spirituellen Hierarchie der Fruchtbarkeit entronnen wird die Frau zur unfruchtbar-burschikosen Viertel-Lebensgenossin des Mannes oder zur gehetzten Betreuerin einer Zufallsgeburt, der Mann infantilisiert zum zeugungsunfähigen, traurigen Penisartisten.
Mit dem Abklingen der rituellen und hierarchischen Spannung zwischen Mann und Frau beginnt der Roman.
Der Sinn der wie Ranken ineinandergeflochtenen Rituale ist die Harmonie der Lebensvollzüge.
Wir können nicht mehr sagen, als daß sich uns das Leben in seinen wesentlichen Zügen und Aspekten offenbart und zeigt. Es genügt, darauf zu weisen, sie zu beschreiben, ohne etwas erklären zu wollen oder zu müssen.
Wie man jemanden darauf hinweist, einen Gruß bei der Ankunft oder beim Abschied nicht zu vergessen, und auf seine Frage: wozu? schlicht zu antworten: So ist es bei uns gang und gäbe.
Was üblich ist, was als Gepflogenheit und Sitte gilt, macht die Würze des Lebens aus; fehlen sie, schmeckt es fade.
Dichtung kommt aus dem Geheimnis, denn womit sie die Stimme erhebt, die Namen der Götter, sind Bruchstücke einer Sprache jenseits des Menschen.
Doch auch die schlichten Dinge sind geheim. Das Feuer, das Wasser, die Erde, die Luft. Die Blume, das Tier. Der Himmel, die Wolke. Der Regen und was er singt. Der Wind und was er klagt. Der Baum und was er haucht.
Sicher strömt wie der Traum aus dem Brunnen das Geheimnis des Todes in den kleinen Becher der Lebenszeit.
Wie wenn zwei sich aus der Ferne zurufen und heftig gestikulieren und sie sind aufs höchste angespannt und erstaunt. Sich näher und nahe gekommen, schmeicheln ihnen die Worte wie kleine Kätzchen um die Knie und beide sehen sich schon müde vor Einverständnis kaum noch an.
Im Geistigen werden die Dinge in der Ferne größer, tiefer, bedeutsamer.
Warum die dichterische Wiederholung? Weil sich das dichterische Wort wie die Welle auseinander- und wieder ineinanderfaltet. Wie die rituelle Begehung um das Bild, das Feuer, die Quelle kreist, ohne ihnen näherzukommen, ohne sie auszudeuten und zu erschöpfen.
Warum die Trinität? Weil das Eine, um sich zu begreifen, an sein jenseitiges Ufer aufbricht und ewig zu sich zurückkehrt.
Wie das Zwischen von Du und Ich, die Atmosphäre, die das Gesagte und das Nichtgesagte umhüllt.
Die Triade Plotins, die Trias des Gebets, die dreifach gefalteten Hymnen Hölderlins.
In der Ferne verzweigen sich die Rufe, die Blicke, die Gesten.
Fern gehen die Blitze, den Schoß der Erde zu öffnen.
In der Nähe droht Klumpenbildung, Verzwitterung, Phrasenverschlierung.
Der Ritus vermißt die Entfernung von Blume und Licht, Wort und Duft, Höhle und Sonne.
Die üblichen kausalen und intentionalen Erklärungen des Ritus als Formen der Handlung scheitern an eben jenem, was ihre rituelle Pointe ausmacht, der Wiederholung und dem Zwielicht des Echten und Fiktiven, des Realen und Geträumten, in das sie sich vor dem scharfen analytischen Blick hüllen.
Hätte das rituelle Opfer und Gebet den kausalen und intentionalen Sinn, die kosmische Verlorenheit und Daseinskontingenz zu kompensieren, warum sich dann nicht einfach betrinken und die Decke über den Kopf ziehen, statt eine Handlung zu vollziehen, die arg viel Aufwand und Zeit erfordert und die skrupulöse Beobachtung altüberlieferter Regeln?
Die schäbige Dummheit, dummdreiste Vulgarität der Psychoanalyse, als wäre der Sinn des Ritus als Form der Zwangsneurose zu erklären.
Die heiligen Gerätschaften, Kelch, Lichtträger, Gewandung in den symbolischen Farben des Jahreskreises, die Zeremonien des Opfers und der Wandlung – von der Formkunst der Dichtung und Musik öffnet sich wie zwischen Falten und Schatten ein Lichtstreif.
Ohne den liturgischen Ritus der alten Kirche keine Vollendung musikalischen Ausdrucks von Jubel und Schmerz, Trauer und Freude, Aufbruch und Wiederkehr sich polyphon verzweigender und ineinanderrankender Stimmen bei Desprez, di Lassu, Palestrina, Ockeghem, Schütz.
Der Sinn des Ritus liegt jenseits von Vernunft und Unvernunft, von Gut und Böse.
Wie lesen in der Schrift des Blatts, in den Glyphen der Blitze, in den Wasserzeichen von Wolken und Regenschauer, in den Runen der Flammen?
Aber die Tiere, die Raupe, der Falter, das Pferd, die Echse, sie lesen ja schon.
Der Sinn des Ritus ist der Sinn für das Wunder.
Welches Wunder? Das Dasein der Dinge, der Urphänomene.
Wer sich grußlos verabschiedet, gilt für unhöflich. Es könnten aber auch Enttäuschung und Verzweiflung aus ihm sprechen.
So mag aus dem schönen Abschiedsgruß nicht nur Höflichkeit sprechen, sondern Dankbarkeit und die Geste der Großzügigkeit, die Verlassenen mögen heiter weiterleben.
Der Sinn des Ritus bestürzt das Denken durch einen Abgrund, über den hinaus es nicht trägt; es kann sich, darf sich aufgeben und diesseits des Geredes von Problemen und Zweifeln dem zur Hingabe Fähigen einen Atemraum öffnen, der von der strengen, aber belebenden Atmosphäre der Grundlosigkeit des Daseins erfüllt ist.
Dem Ritus geneigte Völker: die antiken wie Griechen und Römer, die Juden, die Asiaten.
Ohne den rituellen Umgang im gehüteten Garten, ohne Kunst des Schön-Schreibens, Kunst des Blumensteckens, ohne Teezeremonie nicht die Blüten, der Schnee und das hohe Blau zwischen den Zeilen der japanischen Poesie.
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