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Vom Sinn der Rede

30.04.2024

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Begriffe, mit denen wir vom Maßstab sprechen, seinen Umfang, seinen Wert, seine Mächtigkeit beschreiben und festlegen, sind kategorial verschieden von den Begriffen, mit denen wir über das Gemessene sprechen.

Als Lineal können wir kein weiches Wachs verwenden.

Zeitliche Phasen lassen sich auf räumliche Dimensionen projizieren. – Die im hölzernen Türrahmen eingekratzten Linien, die das Wachstum des Kindes anzeigen. – Die Ziffern der Uhr, über die der Stundenzeiger streicht.

Wir können die Farbskala beliebig fein nuancieren; die Farben in Zahlenwerten für Lichtfrequenzen darstellen, die selber farblos sind.

Er hat allzu lange auf den Freund gewartet; woran messen wir die Länge – an der Uhr oder der Intensität der Erwartung?

Das Adagio schien zu schleppend vorgetragen. – Messen wir unseren Eindruck anhand des Metronoms?

Den zeitlichen Rhythmus von Versen messen wir an der durchschnittlichen Frequenz des menschlichen Herzens; so sagen wir, ein rein daktylischer Hexameter ist schnell, ein aus Spondeen zusammengesetzter langsam, doch können wir von der durchschnittlichen Herzfrequenz nicht sagen, sie sei schnell oder langsam.

Könnten Tiere dichten, der Kolibri sänge keine Epen, der Wal spuckte keine Epigramme aus.

„Statische Gedichte“ ist eigentlich eine contradictio in adiecto.

Ist Zeit die Woge, sind wir ihr ephemerer Schaum.

Das dämmernde Zimmer der Verwaisten oder Liebenden, die flackernde Kerze des bangen oder intimen Gesprächs.

Begriffliche Verwirrung entsteht, wenn wir den kategorialen Unterschied zwischen Rede und Schrift nicht berücksichtigen oder verwischen. – Das lyrische Gedicht bedarf des genauen, rhythmisch nuancierten Vortrags; die Druckseite täuscht über seine Wirklichkeit.

In der direkten, lebendigen Rede sind wir anwesend und spannen den Schirm unserer raumzeitlichen Gegenwart über dem Nullpunkt des Ich-Sagens auf.

Ich zu sagen impliziert zu meinen: „Ich bin jetzt hier.“

Die Angabe räumlicher und zeitlicher Stellen und Bezüge erfolgt in der direkten Rede mittels deiktischer Hinweise, deren Ursprung die Null-Koordinate des sprechenden Ich darstellt.

Die Zeit des Redens ist die Zeit der vergehenden Gegenwart. Die Zeit vergangener oder zukünftiger Ereignisse, über die wir sprechen, ist von der Redezeit prinzipiell verschieden.

Sage ich: „Reich mir doch bitte die Karaffe!“, erwarte ich, daß der Angesprochene tue, worum ich ihn gebeten habe. Lese ich in einer Erzählung: „Er bat den Gastgeber, ihm die Karaffe zu reichen“, erwarte ich gar nichts; jedenfalls bin ich nicht enttäuscht, wenn ich weiterlese: „Der Gastgeber tat aber nicht, wie ihm geheißen, sondern lächelte maliziös, denn der Gast war schon reichlich angetrunken.“

Sage ich: „Morgen gehen wir wie abgemacht in den Park!“, drücke ich eine Absicht aus oder mache eine Zusage. Lese ich in der Erzählung, daß die Freunde verabredeten, am kommenden Tag in den Park zu gehen, bin ich nicht enttäuscht, wenn ich weiterlese und erfahre, daß einer der beiden die Verabredung nicht eingehalten hat.

Wie Architektur keine gefrorene Musik, ist geschriebene Sprache keine Kristallisation der gesprochenen.

Der Brief scheint der gesprochenen Sprache noch nahe; doch kann jemand in einem Brief nicht auf das Bild an der Wand zeigen, sondern muß den Maler und das Motiv eigens nennen. Auch wenn er eine Abbildung beifügt, kann er die selbstgefällige Geste nicht vorführen, mit der er auf die Original-Radierung von Barlach zu zeigen pflegt.

Nur in der direkten Rede können wir Aufforderungen machen wie „Mir ist lieber, du gehst an meiner rechten Seite!“ oder bindende Feststellungen treffen wie: „Die Sitzung ist eröffnet!“

Begrüßungen und Verabschiedungen sind integrale Bestandteile gesprochener Sprache, die durch rituelle Gesten wie Händeschütteln, Umarmung oder Abschiedskuß verstärkt zu werden pflegen.

Lyrische Dichtung ist das blühende Reis, das auf den Stamm der gesprochenen Rede gepfropft worden ist.

Akustisch aufgezeichnete Gespräche weisen Lücken der Verständlichkeit auf, insofern wir der sie erhellenden Sichtbarkeit der Gesten, der Blicke, der Mimik ermangeln.

Die Situation und die wesentlichen Eigenschaften des menschlichen Lebens wie Geschlecht, Alter, ethnisch-kulturelle Herkunft und soziale Position sind gleichsam Verengungen oder Buchten im Fluß der mündlichen Rede, die ihren Verlauf verlangsamen oder beschleunigen.

Aber die Bedeutung der Rede ist keine Funktion der natürlichen und sozialen Eigenschaften des Sprechers, sondern der Worte, die er gebraucht, auch wenn solche Eigenschaften ihnen Kontur und Kolorit verleihen.

Wir können sagen: Der Zweck der Rede ist die Steuerung des Willens und Verhaltens, die Beeinflussung des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens des Angesprochenen; ihr Mittel die Art und Weise der Sprachverwendung.

Wir denken an einen der Ursprünge lyrischer Dichtung im magischen Zauberspruch; der altgermanische Vers verwendet zur Intensivierung seiner Beeinflussungsmacht die Assonanz und die stabreimende Alliteration.

Die vollkommene Form des lyrischen Gedichts will bezaubern und entrücken, wenn es wie Goethes Wanderers Nachtlied ineins mit der Stille der Natur die Stillung der Seele beschwört: Warte nur/balde/ruhest du auch. – Es ist zu bemerken, daß in diesen vollendeten Versen die rhythmischen Einheiten, die Kola, mit den Verseinheiten kongruieren.

Urformen der Rede sind die Aufforderung (Befehl, Bitte) und die Frage. Die deskriptive Aussage und die Mitteilung sind konsequente Zuwächse an diesen Urformen. – „Vorsicht, dort ist der Weg abschüssig!“ – „Aber das ist doch nur eine harmlose Mulde!“ – „Gehen wir hinüber zu dem Fichtenwäldchen!“ – „Aber das sind keine Fichten, sondern Tannen!“

Die Rede dient der Bahnung des Wegs durch das Dickicht und die Fährnisse des Lebens.

Erst wenn wir unterwegs eine Rast einlegen, kommt die expressive Funktion der Rede rein zur Geltung. – „Puh, war das ein steiler Anstieg!“ – „Wie gut, im Schatten zu verweilen!“

Nach schwerem Aufstieg gemächlich auf der Hochebene wandeln – und alsbald läßt die geistige Spannung nach und die Rede ergeht sich in sentimentalem oder zänkischem Gewäsch.

Ohne Fühlung der immer lauernden Gefahr, ohne Bewußtsein der wesentlichen Not, des unaufhebbaren Mangels oder wie der Psalmist sagt, die Furcht des Herrn verdampft die geistige Spannung, verlottert, verludert und verlallt die menschliche Rede.

K., der Protagonist in Kafkas Schloß, ist auf beschämende Weise fasziniert, angezogen und abgestoßen von der Spannung und Gefahr, die ihm aus dem Dunstkreis und dem Nimbus eines gewissen dekadenten Herren und Schloß-Bürokraten namens Klamm wie Stromstöße anfallen; von ihnen wird er wachgehalten, erregt, gehetzt und dazu verleitet, die immer sich entziehende Quelle der Macht und der Gnade doch noch zu erreichen.

Substanz der Rede: vergehende Zeit.

Sklaven der Zeit atmen und wandeln wir, reden und denken wir.

Folgt in der Rede Wort auf Wort, folgert das Denken aus der gegebenen Voraussetzung und einer irgend angenommenen Regel.

Rede und Gedanke sind in die zeitliche Struktur der Aufmerksamkeit, des wachen Sinnes, der Vergegenwärtigung, Erinnerung und Ahnung eingesenkt.

Der Gedanke, der sich nur vom Gängelband der Worte leiten läßt, ist ohnmächtig, chimärisch und blind, der Gedanke, der nicht von der Fülle und dem Reichtum der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zehrt, ist matt, farblos und leer.

In Büchners Drama Dantons Tod spricht die Geliebte des Protagonisten, über dem das Fallbeil schon blinkt, das große Wort, das tödlich-schöne, das sie mit ihm auf immer vereint: „Es lebe der König!“

Wir sprechen, wie Heidegger sagt, vorlaufend in den Tod – wenn denn unser Wort Gewicht haben soll.

Der entzündete Blinddarm des Kulturbetriebs, die wabernde Adipositas des Geredes in Foren, Talkshows und Seminaren.

Wir könnten uns zum Behaghelschen Gesetz der wachsenden Glieder der Rede auch ein umgekehrtes denken, ein Gesetz der Verknappung, Verdichtung und Verwesentlichung der Rede – zum tragischen Ende hin, wenn der aufgesparte Atem sich für das kaum noch Sagbare verhaucht. – Aber nein, es gilt vielmehr, das Nichtsagbare, um das wir wissen, unangetastet zu lassen und zu schweigen.

So wäre der Sinn der Rede, alles zu sagen, was klar und deutlich zu sagen ist, um am Ende über das Wesentliche zu schweigen.

Wir kennen aber neben der alltäglichen Rede den rituellen Gebrauch der Sprache in heiligen Zeremonien und Gottesdiensten. Hier ist das Wort dichterisch erhöht und rhythmisch gesteigert, ja es streift alsbald die in das Gemurmel ihrer Litaneien Versunkenen der Flügel des hymnischen Gesangs.

Im mystischen Ritus der Eucharistie tritt das Wort, gereinigt von den farbigen Schatten des kreatürlichen Lebens, als reines schöpferisches Licht entgegen, um in Brot und Wein verwandelt in den dunklen Kreislauf des verweslichen Leibes einzugehen; das inkarnierte Wort des Heils aber soll nicht heidnisch kräftigen, sondern das Gedächtnis an eine paradiesisch-surreale Existenz wecken, in der die Blume des Worts noch Lebenskraft aus reinen Quellen gesaugt hat.

Das Gedächtnis, dies vom Krebs des Zeitgeistes zerfressenste Organ.

Die so geschichtsblind sind, daß sie überall aufgehen wollen, im Fortschritt zum Abgrund, in Europa ohne Nationen, in der Menschheit ohne Individualkulturen, können vom Volk nicht reden, weil in ihnen die gesichtslose Masse schon emporgequollen ist.

 

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