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Vom Sinn der Namensgebung

24.10.2019

Eine philosophische Notiz zum Tier-Mensch-Unterschied

Der Mensch ist das einzige unter allen Lebewesen, das sich Namen gibt und mit Namen ruft.

Martin ist kein Junge, weil er Martin getauft wurde und so gerufen wird, und Martina kein Mädchen, weil alle, Familie, Tanten, Freundinnen, es sich zur Gewohnheit gemacht haben, sie so und nicht anders zu rufen.

Der Junge wurde Martin getauft, weil er kein Mädchen, sondern ein männliches Exemplar der Gattung ist, das heißt, einen Körper mit Testikeln und Penis hat, die ihn befähigen, in einem sexuellen Zeugungsakt die zyklisch aus den Ovarien durch den Eileiter gewanderte Eizelle einer Frau mit seinem Samen zu befruchten; weil er ein Gehirn mit testosterongesteuerten neuronalen Schaltungen und entsprechende Charakter- und Intelligenzmerkmale wie Neugierde, Abenteuerlust, Kühnheit, Tapferkeit und Aggressionsbereitschaft sowie ein hervorragendes visuelles Orientierungs- und begriffliches Abstraktionsvermögen aufweist.

Das Mädchen wurde Martina getauft, weil sie kein Junge, sondern ein weibliches Exemplar der Gattung ist, das heißt, einen Körper mit aktivierbaren Milchdrüsen und einer Gebärmutter hat, die sie befähigen, eine von einer männlichen Samenzelle befruchtete Eizelle in sich reifen zu lassen, ein Kind zu gebären und zu säugen; weil sie ein Gehirn mit östrogengesteuerten neuronalen Schaltungen und entsprechende Charakter- und Intelligenzmerkmale wie Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit, Geduld und Leidensfähigkeit sowie ein hervorragendes Vermögen zu Empathie und sozialer Verantwortung aufweist.

Die beiden, Junge und Mädchen, sind, vor allem nach Eintritt der Pubertät, denkbar verschieden, in der Art sich zu bewegen, sich zu geben, zu handeln, in der Art zu fühlen, zu reden, zu denken; sie einigt aber dies: einen Namen zu haben und damit als Personen in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen zu sein.

Das humane Identifikationskriterium ist demnach nicht wie beim Unterschied der Geschlechter ein natürliches, sondern ein kultürliches, nämlich das Merkmal, einen Namen zu tragen, beim Namen genannt zu werden und wiederum anderen Namen zu geben und sie beim Namen zu rufen.

Dennoch ist die Art und Weise der Benennung an die Natur des Namensträgers gebunden, weshalb wir den Jungen Martin, das Mädchen Martina nennen. Aber die Tatsache, daß wir überhaupt als Menschen aufgrund der Namensgebung in einem kulturellen Raum persönlicher Biographien von Namensträgern existieren, macht den Unterschied zur anonymen Welt der Tiere aus.

Freilich, Kinder mögen ihrer Lieblingspuppe den Namen Martina geben und Hundebesitzer ihren Liebling Fips rufen; doch die Puppe hört nicht wirklich auf ihren Namen (und das weiß das Kind, wenn es an ihrer statt antwortet), und der Hund kommt wohl gelaufen, wenn sein Herrchen ihn mit Namen ruft, aber Fips weiß weder, daß er Fips noch daß sein Herrchen Martin heißt. Für den Hund ist sein Name ein Synonym für einen Komplex von Reizen, und ihre Stillung besteht meist in einem Leckerli oder einem liebevollen Kosen; doch für Menschen hat der persönliche Name, weder der eigene noch der anderer, keine ursprüngliche Reizbedeutung.

Demnach macht nicht die Physiologie oder ein darwinistisch-evolutionäres Kriterium den Unterschied von Tier und Mensch aus, nicht der Unterschied von Hirngewicht und Dichte und Komplexität der neuronalen Vernetzung, weder Intelligenz und Gedächtnis noch unterschiedliche Formen der Motorik, der Motivation oder Antriebssteuerung; die Darwinisten und die neurowissenschaftlich orientierten Philosophen sind auf der falschen Spur. Vielmehr sind es kulturelle Formen der Bezeichnung, Markierung und Zuweisung wie die Namensgebung, die das einzelne menschliche Individuum einer Familie, einer Sippe, einer sozialen Gruppe oder der geschichtlichen Sprachgemeinschaft zuordnen.

Die namentliche Zuordnung erhellt auch aus der Tatsache, daß nur Menschen im eigentlichen Sinne WOHNEN, während wir von Tieren sagen, daß sie nisten, hausen oder da und dort ihr Revier haben. Wir würden nicht einmal metaphorisch etwa von Vögeln, Bären oder Bienen sagen, daß sie da und dort wohnen; vielmehr sagen wir, sie hätten da und dort ihr Nest, ihren Bau, ihren Stock.

Wir können ein Hochhaus mit einem wimmelnden Bienenstock oder einem Ameisenhaufen vergleichen; aber nicht einen Bienenstock oder einen Ameisenhaufen mit einem Hochhaus, denn die dort befindlichen Klingelschilder und Briefkästen mit ihren jeweiligen Namen sind das für menschliches Wohnen Charakteristische, sie machen den Unterschied aus.

Die Geschichte beginnt mit dem Wohnen der Menschen; die Wohnung und Behausung sind der Mikrokosmos des sozialen Makrokosmos; der Name ist für die menschliche Existenz, was die Wohnung für die soziale oder die Haut für die leibliche Existenz bedeutet.

Es ist auch nicht das Sprachvermögen strictu sensu oder die Fähigkeit zur logischen und epistemischen Unterscheidung von wahr und falsch, woran wir den Tier-Mensch-Unterschied in Anschlag bringen: Wir können uns durchaus denken (oder entdecken), daß höhere Primaten zwischen eßbaren und unverdaulichen Früchten nicht nur unterscheiden, sondern auf diesen Unterschied auch, ob gestisch-mimisch oder in einfacher Lautgestalt, hinweisen; ja, daß sie irrtümlich eine ungenießbare Frucht mit einer bekömmlichen verwechseln und diesen Irrtum durch eine Geste oder Interjektion mit der Bedeutung der Negation des irrtümlichen Hinweises feststellen könnten: Sie würden demnach das Wahre und Falsche an der Form der Behauptung in wie rudimentärer Weise auch immer vergegenwärtigen.

Auch wenn wir nicht von der Wahrscheinlichkeit einer solchen Annahme ausgehen: Sie führte uns dennoch nicht in die Richtung, in der wir den Unterschied von Tier und Mensch bezeichnen und verständlich machen können.

Denn mittels der Namensgebung wollen wir vorderhand keine logisch-epistemischen Zusammenhänge bilden; mit dem Namen bewegen wir uns zunächst nicht im logisch-diskursiven und explanatorischen Raum der Wahrheit, sondern in der rein deskriptiven Dimension des Sinns.

Es ist nicht unwahr, den Jungen Martina und das Mädchen Martin zu nennen, sondern unangemessen, unsinnig oder sinnwidrig. Der Mißbrauch, der mit dem einen oder anderen Spitznamen getrieben wird, mag unschön, unfein, verächtlich sein, aber er ist nicht falsch und widerspricht keinem irgend dabei geltend zu machenden Wahrheitsanspruch.

Einer ist kein Linné in der Bestimmung von Pflanzen und verwechselt Tannen mit Fichten; benennt er die Fichte als Tanne, hat er sich geirrt, und mit ein wenig Geduld kann man seine Wahrnehmung für den Unterschied der Wuchs- und Nadelformen der beiden Gewächse schärfen.

Doch einer, der den Unterschied der Bedeutung des Hundenamens Fips und des Mädchennamens Martina nicht begreift, ist für ein wesentliches Humanum bedeutungsblind. Das Mädchen mit seinem Namen zu rufen kommt dem Sprechakt nicht gleich, den Hund Fips bei seinem Namen zu rufen, beispielsweise in der Erwartung, er komme ohne weiteres auf das rufende Herrchen zugesprungen und mache Männchen.

Namen von Personen sind die entscheidenden Merkmale, deren korrekte Verwendung den Wert vor allem historischer, aber auch aller anderen Formen von Dokumenten wie Verträgen, Gutachten, Zeugnissen oder Ausweisen bezeichnet. Erst bei der zeugnisartigen Verwendung, nicht schon bei den Weisen der Namensgebung selbst treffen wir demnach auf die Relevanz zugrundeliegender Wahrheitsansprüche und Korrektheitsbedingungen. Denn ein auf den falschen Namen ausgestelltes Dokument kann für den Betreffenden fatale Folgen haben, wenn es den Stempel des Finanzamtes oder der Justizbehörde trägt.

Doch die explanatorische Funktion, die wir wissenschaftlich determinierten Annahmen oder Hypothesen zuweisen, ist auf die Verwendung von Eigennamen nicht angewiesen; im Gegenteil, auch wenn das Hochdruckgebiet in der Wettervorhersage „Martina“ heißt und das Tiefdruckgebiet „Martin“, sind diese Namen rein metaphorisch und tragen zur Erklärung der Wetterereignisse nicht das geringste bei. Anders, wenn wir erfahren, daß Caesar den Rubikon überschritt und Octavian der Sieger der Schlacht bei Aktium war: Hier zeigt sich die Singularität des Eigennamens an dem Umstand, daß die Beschreibung des historischen Geschehens unter Verwendung anderer Namen nicht nur wahrheitswidrig, sondern sinnlos würde.

Wir schreiben eine E-Mail und weisen unter Verwendung der ersten Person des Personalpronomens „ich“ darauf hin, daß wir das im Betreff angegebene Angebot gerne annehmen; der mit der Unterschrift, also dem eigenen Namen, abgeschlossene Brief erhält damit vertragswirksame Kraft.

Nur für die Verwendung des eigenen Namens gilt, daß sie ein Supplement für den Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular und umgekehrt der Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular eine Leerstelle für die Verwendung des eigenen Namens darstellt.

Die Fähigkeit, den eigenen Namen mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular gleichsinnig zu verwenden, kann uns als ein Kriterium dessen gelten, was wir Bewußtsein oder Selbstwissen nennen.

Nur wer einen Namen hat, kann für das einstehen und zur Rechenschaft gezogen werden, was er gesagt und getan hat.

Homer hat diesen ursprünglichen Sachverhalt mit göttlicher Ironie getroffen, wenn er den listigen Helden Odysseus auf die Frage des von ihm geblendeten Polyphem, wie er heiße, auf daß seine Brüder an dem Namensträger Rache zu nehmen vermöchten, antworten läßt: „Niemand.“

Das Tier weiß nichts von seinen Ahnen, denn ihr Leben, ihre Gestalt, ihr Antlitz sind im Nebel des Namenlosen versunken.

Die Affen sitzen nicht in lauschiger Runde um das Feuer, von seinem Prasseln und der Glut der Traube berauscht, um sich die Geschichte ihrer Ahnen zu erzählen, deren mythische Macht von der feierlichen Litanei ihrer erhabenen Namen beschworen und in der eigentümlichen Bildung ihrer eigenen Namen vergegenwärtigt würde.

Wir aber verdanken die helleren Vibrationen und feineren Rhythmen der Seele, ihr Schweben über stygischen Wassern und ihren Flammengesang, ihre Gethsemanenacht und ihren Auferstehungstag, all den großen Namen, die aus der Tiefe der Vergangenheit mit dem Glockengeläut der heroischen Tat und den leisen oder jubelnden Weisen der Menschheitsdichtung widerhallen.

 

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