Vom normativen Gehalt der Sprache
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Maß, Zahl, Symmetrie, Gestalt und Struktur sind dem physischen und seelischen Dasein inhärent und wesentliche Merkmale natürlicher und sozialer Ordnungen wie der Ordnungen und Strukturen von pflanzlichen und tierischen Organismen und der menschlichen Sprache und Kultur.
Sprechen lernen heißt im günstigen Falle lernen, sich korrekt und angemessen auszudrücken; und mit einem solchen disziplinierten Wohlverhalten in den größeren normativen Ordnungen der sozialen Welt Zugänge und Nischen des Lebens und Überlebens zu finden.
Wenn wir von jemandem sagen, er sei an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren, kann es kein anderer sein, von dem wir dasselbe sagen.
Viele wurden in dieser Stadt geboren, einige sogar zur selben Zeit; aber nur dieser zu dieser Stunde an diesem Ort.
Geburtsort und Geburtszeit gelten uns als Identitätsmerkmale eines wesentlichen Begriffs der sprachlichen Ontologie, der Person.
Wir verfügen in der Sprache über einen Identitätsmarker, mit dem wir die Identität dessen, der an diesem Ort zu dieser bestimmten Zeit geboren wurde, ausdrücken: den Eigennamen.
Wenn es Peter ist, über den wir sprechen, sagt jemand, der mit Peter eine andere Person meint als jene, die an diesem bestimmten Ort zu dieser bestimmten Zeit geboren wurde, die Unwahrheit, auch wenn er sich korrekt ausdrückt und dasselbe sagt wie jener, der eine wahre Aussage macht.
Die Sprecherintention gehört zum Gesagten, und sie kommt gleichsam in ihrer wahren Gesinnung früher oder später ans Licht, wenn einer beispielsweise von Peter behauptet, was nur auf Hans zutrifft.
Wir können Eigennamen wie Peter nur sinnvoll und korrekt verwenden, wenn wir ihren Trägern wesentliche Eigenschaften wie jene, an diesem bestimmten Ort zu dieser bestimmten Zeit geboren worden zu sein, zuordnen können.
Die Augenfarbe und manches dieser Art wie Kurzsichtigkeit und Fahrigkeit scheinen nicht zu diesen wesentlichen Attributen zu gehören, denn an Peters Augenfarbe erinnert sich vielleicht gerade nicht, wer durchaus Zutreffendes über Peter zu sagen hat.
Wenn Peter sagt, er wisse aufgrund seiner Geburtsurkunde, wann und wo er geboren wurde, muß seine Aussage, soll sie korrekt und stichhaltig sein, zwei Kriterien erfüllen:
1. das grammatisch-semantische Kriterium der Reflexivität, welches folgende Analyse seiner Aussage impliziert: „Ich weiß, daß ich, Peter, an diesem Ort zu dieser Zeit geboren wurde.“ Natürlich könnte Peter sich aufgrund eines Fehlers in der Urkunde irren oder unter Vorlage einer gefälschten Urkunde lügen, doch bliebe in beiden Fällen die grammatisch-semantische Struktur der Reflexivität der Aussage unangetastet.
2. das logische Kriterium der Identität der epistemischen Aussage über ein echtes Wissen in der ersten Person mit der Aussage in der dritten Person: Denn für Peters Aussage in der ersten Person „Ich weiß, daß …“ können wir in solchen Fällen salva veritate die Aussage in der dritten Person einsetzen „Peter weiß, daß …“; und statt „Peter weiß, daß …“ wiederum sagen „Hans oder Hanna weiß, daß …“, wenn Hans oder Hanna das ihnen vorgelegte Dokument für authentisch halten.
Dagegen gilt trivialerweise für Aussagen wie Peters Aussage „Ich glaube (hoffe, befürchte), daß ich Hans im Park treffen werde“ wohl das Kriterium der grammatisch-semantischen Reflexivität, nicht jedoch das epistemische Kriterium der Austauschbarkeit von erster und dritter Person, denn was Peter glaubt, hofft oder befürchtet, glaubt, hofft oder befürchtet Petra noch lange nicht.
Phoneme müssen distinkt sein, damit sie Unterschiede der Bedeutung auszudrücken vermögen wie „kalt“ und „bald“ oder „moon“ und „soon“, „salus“ und „malus“. Das phonematische Material der vom Sprechapparat ethnisch und individuell höchst mannigfaltig hervorgebrachten Geräusche und Klänge mögen wir konventionell nennen (doch auch sie gehorchen Gesetzen phonematischer Natur), indes die Tatsache seiner semantisch relevanten phonologischen Differenzierung ist keine Konvention. Wie bedeutungstragende Phoneme die Lautmasse formen und gestalten, strukturieren und diskriminieren, kann man als konventionell ansehen, die normativ gehaltvolle Tatsache, daß sie es tun, in welcher Weise auch immer, ob beispielsweise durch Tonhöhendifferenzierung oder ausdrucksstarke Vokalisierung und Diphthongisierung, ist ein Strukturgesetz der Sprache.
Daß wir mit dem Namen Peter eine Person dieses Namens bezeichnen und meinen, aber nicht zugleich das Eigentum dieser Person an beweglichen und nichtbeweglichen Gütern oder ihre Kinder und Haustiere mitbezeichnen, ist keine konventionelle Angelegenheit, auch wenn es schwierig ist, sich über den Gehalt des Begriffs einer Person ins Klare zu setzen; denn die Frage, ob wir Peters Augenfarbe, seine derzeitige Körpertemperatur oder seinen Hormonstatus ebenso unter diesen Begriff subsumieren wie uns wesentlicher erscheinende Eigenschaften wie seine Intelligenz, seine musikalische Begabung und sein freundliches Wesen, können wir beiseitelassen, solange wir an dem fundamentalen semantischen und ontologischen Kern des Begriffs festhalten.
Mit der semantischen Funktion des Benennens und Prädizierens gelangen wir in den normativ gehaltvollen Bezirk der Sprache, denn die Aussage „Peter wohnt in Paris“ ist falsch und bedarf des Tadels und der Richtigstellung, wenn er in Berlin wohnt, und die Aussage „Peter ist mit Anna befreundet“ ist wahr und wird ohne viel Aufhebens als bare Münze eingesteckt, wenn Anna seine Freundin ist.
Den Ausruf „Peters Miene verfinstert sich!“ können wir als Warnung auffassen, Peter nicht weiter mit inquisitorischen Fragen zu behelligen; dabei ist zugleich der wortgleiche Ausdruck „Peters Miene verfinstert sich“ der semantische Kern oder Satzradikal seiner mittels Stimmführung oder das Ausrufezeichen modifizierten performativen Bedeutung, eben des Satzmodus der Warnung. Wenn allerdings Peter in der relevanten Situation eine heitere Miene zur Schau stellt, scheitert der Satzmodus an der Verfehlung des deskriptiven Aussagekerns. Wir korrigieren den Sprecher, indem wir ihn auffordern: „Schau mal genau hin!“
Der deskriptive Aussagekern mit seinen semantischen Funktionen der Benennung und Prädikation ist der Stein des Anstoßes für jede rein nominalistische oder konventionalistische Sprachauffassung, von der ewigen Vertagung des Satzsinns durch die postmoderne „Theorie“ zu schweigen.
Nur Personen können sprechen, das heißt, im Falle des Falles für das, was sie sagen, verantwortlich zeichnen, zu ihrem Wort stehen oder sich hinter ihren Worten verbergen, ihre Aussagen verdeutlichen oder verschleiern, sie logisch gültig oder ungültig ableiten und empirisch mit plausiblen oder weithergeholten Hinweisen begründen oder sie in den bodenlosen Sand des Irrationalen setzen, aber sie auch im Lichte sinnfälliger Kritik korrigieren, modifizieren oder zurückziehen. In diesem philosophisch prägnanten Sinne können wir Tieren die Fähigkeit zur Sprache nicht zubilligen.
Wir verfügen über die Fähigkeit, Worte über Worte zu machen, das Geschriebene im Lichte besserer Einfälle und treffender Vergleiche zu ergänzen und das Gesagte angesichts der offenkundig gewordenen Tatsachen zu revidieren oder zurückzunehmen, ja uns stilloser, aber Eindruck schinden sollender Wortungetüme zu schämen oder uns für eine Lüge zu entschuldigen. Dieses aus dem Normbereich der Sprache erwachsende Ethos gibt uns einen Vorbegriff dessen, was wir die Freiwilligkeit (und demgemäß auch die sich beispielweise im sprachlichen Lapsus zeigende Unfreiwilligkeit) einer Handlung nennen.
Wir unterscheiden den deskriptiven Gehalt einer Aussage von der kommunikativen Funktion ihrer Verlautbarung, den ein Satz auf Basis des Modus der Äußerung wie des Modus der Behauptung, Frage, Aufforderung oder des Versprechens annimmt. So wird der deskriptive Gehalt im Satz „Peter wohnt in Berlin“ zu einer Behauptung, wenn sie die Aussage, er wohne in Paris, richtigstellt.
Die Welt, in der wir leben, gliedert sich in die nicht abzählbare Menge der Namen und Begriffe, die wir ständig mittels erweiterter Taxonomien und Klassifikationen vervielfältigen, und deren unübersehbar mannigfache Schnittmengen, die uns aufgrund neuer Erfahrungen einfallen, die sich uns ad oculos aufdrängen oder die wir im freien Spiel der Einbildungskraft in dichterischer Sprache zum Ausdruck unserer Gestimmtheiten, Lebensgefühle und Intuitionen verwenden.
In der Aussage „Peter ist der Erbe erster Ordnung des väterlichen Vermögens“ verknüpfen wir die semantische Funktion der Benennung sowohl mit der Taxonomie des kulturell relevanten Verwandtschaftssystems als auch mit der Klassifikation des unsere Kultur prägenden Erbrechts.
Jede Norm impliziert die Möglichkeit ihrer Übertretung, jede Ordnung die Gefahr ihrer Unterminierung und Zerstörung; dies gilt für die soziale Ordnung, aber auch für die Sprache.
Indes dementiert der Verbrecher nicht den Sinn der Strafordnung, sondern bestätigt sie vielmehr.
Die Logophrenesie und das wütend delirierende Gezeter des Psychotikers wirken bisweilen wie eine infantile, also blinde und ohnmächtige Rache an der väterlichen Ordnung des Namens.
Wenn das, was man geistreich Wahrheitsspiel genannt hat, zum strukturellen Kern der Sprache gehört, kann sie augenscheinlich nicht auf ihre durchaus mächtige und fruchtbare kommunikative Funktion beschränkt werden; insonderheit nicht vollständig durch die Biologie der Anpassung und die Soziologie der Beeinflussung erklärt werden.
Wir loben jenen, der sich bündig und körnig, treffend und prägnant ausdrückt, wir fühlen uns vom Licht einer glücklichen Metapher erhellt, tadeln aber einen, dem die Worte wie Unkraut das schüchterne Veilchen der Wahrheit verdunkeln oder ersticken, kurz, die bündige und treffende Benennung und die lichtvolle Begriffsbestimmung finden unser Lob, ihr Gegenteil unseren Tadel; daß Lob und Tadel eine pädagogische Rolle in unseren Sprachspielen innehaben, zeugt von ihrem normativen Kern.
Den Freund mit seinem korrekten Namen zu nennen und zu rufen, erachten wir (obwohl die semantische Funktion der Benennung aus einem großen geistigen Sprung, einer Emergenz, hervorgegangen ist) nicht für lobens-, ja nicht einmal für erwähnenswert.
Jemand vergleicht den Freund Peter nach dem Motto „Nomen est omen“ wegen seiner Hartschädeligkeit und Sturheit mit der Widerständigkeit und Unverrückbarkeit eines Felsens; ein anderer nennt ihn gar einen Felsen in der von den Zeitläuften aufgewühlten Brandung der Freundschaft. Mögen wir den einen als geistreich loben, den anderen als exaltiert tadeln
Wir pflegen allerdings nicht uns in Lob und Bewunderung zu ergehen, sondern runzeln die Stirn ob einer Obsession durch den unaussprechlichen Namen Gottes, die sich in der religiösen Überhöhung und Verehrung unendlicher Zahlen wie der Kreiszahl Pi kundtut.
Wir tadeln jenen nicht, der die Namen seiner Anverwandten, Freunde und Kollegen durch das System eines Zahlencodes beispielsweise für Farben ersetzt, sondern raten in einem solchen Falle zu einer psychiatrischen Behandlung; ebensowenig monieren wir den Umstand, daß Peters Vater den Namen seines Sohnes nicht mehr weiß, ja seinen eigenen vergessen hat, sondern erachten dies als sicheres Zeichen einer geistigen Zerrüttung.
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