Vis verborum
Über semantische Mächtigkeit
At idola fori omnium molestissima sunt; quae ex foedere verborum et nominum se insinuarunt in intellectum. Credunt enim homines, rationem suam verbis imperare. Sed fit etiam ut verba vim suam super intellectum retorqueant et reflectant; quod philosophiam et scientias reddidit sophisticas et inactivas. Verba autem plerunque ex captu vulgi induntur, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant. Quum autem intellectus acutior, aut observatio diligentior, eas lineas transferre velit, ut illae sint magis secundum natura, verba obstrepunt.
Doch am widrigsten sind die Idole des Marktes; mittels syntaktischer Verknüpfung von Nomen und Verb im Satz haben sie sich in den Verstand eingeschlichen. Zwar meinen die Leute, kraft der Sprache ihren Geist im Griff zu haben. Doch passiert es wohl, daß die Worte ihre Macht hinterrücks über den Verstand ausüben, ihn biegend und beugend. Das Ergebnis sind Sophisterei und geistige Lähmung in Philosophie und Wissenschaft. Die Sprache aber ist meist auf das geringe Fassungsvermögen der Menge zugeschnitten, und sie unterteilt die Gegenstände nach Linien und Gesichtspunkten, die am ehesten dem Verstand des gemeinen Mannes einleuchten. Wenn aber der schärfere Intellekt und die sorgsamere Beobachtung diese Einteilungen verschieben wollen, auf daß sie der wahren Natur des Gegenstandes mehr entsprechen, sträuben sich die Worte mit lautem Getöse.
Francis Bacon, Novum Organum, Aphorismus LIX
Das Mißtrauen der Philosophen gegenüber den Trugbildern und Fallstricken der sprachlichen Darstellung ist so alt, wie die Vermutung oder Entdeckung, daß unsere Begriffe oder Konzepte ihrem sprachlichen Ausdruck verhaftet bleiben, gleichsam wie Herder sagt an ihm kleben. Eigentlich, so die seltsame und denkwürdige Schlußpointe des platonischen Kratylos, sei es besser wortlos zu denken, wenn man zu den Sachen selbst oder der Wahrheit vordringen will, oder wie Bacon es unter fast blasphemischer Anspielung auf ein Jesuswort ausdrückt: In das neue säkulare Himmelreich der Wissenschaft, das Paradies, das nunmehr um uns seine seltsamen Blüten treibt, gehöre nur, wer rein und unschuldig ist wie ein Kind (infans: das Kleinkind, das der Sprache noch nicht mächtig ist).
Bei Wittgenstein finden wir beides, das Mißtrauen, das sich wie im Bild von der in die Sprachfalle geratenen Fliege bis zu Angst und Panik steigert, und das Vertrauen in die vis verborum und die konzeptuelle Kraft der natürlichen Sprache, wie es seine Ausführungen zu den Sprachspielen vor Augen führen, die ja dem alltäglichen Sprachgebrauch abgelauscht und abgemerkt sind.
Neben den grammatischen Einteilungen wie die in Nomen, Verb, Adverb finden wir die semantischen nach Wortfeldern, Sachgruppen und Bedeutungsschichten, die sich wie die Wortfelder „Hand“, „Handlung“ und „Aufforderung“ überlappen, überlagern oder hierarchisch untergliedern oder einander sinngemäß ablösen (erst ergeht die Sprachhandlung „Reiche mir doch das vor dir liegende Buch“, dann folgt der Griff nach dem Gewünschten).
Wenn wir mit Karl Bühler die Vermutung aufgreifen, der Imperativ oder die Aufforderung sei einer der urtümlichsten Sprechakte, dessen Ursprünge sich vor die Bildung der Flexionssysteme der indogermanischen Ursprache zurückverfolgen lassen, denken wir spontan an sprachliche Ausdrücke wie: „Hierher!“, „Dorthin!“, „Vorwärts!“, „Nicht weiter!“, „Komm!“, „Gib es mir!“, „Da, nimm!“
Wir befinden uns an der Seite dessen, der einen anderen hier und jetzt zu etwas auffordert, im Mittelpunkt der geteilten Wahrnehmungssituation und im Zentrum des deiktischen Zeigefelds der Sprache. Die deiktischen Indikatoren „hier, dort, jetzt, vorher, dann“ und „ich, du, dieses, jenes, dieser, jener, diese, jene“ teilen das primäre Wahrnehmungsfeld gleichsam in Tast- und Sichtschneisen rings um den Körper dessen auf, der hier und jetzt seine Aufforderung an den Sozius oder die Gruppe richtet.
Der menschliche Körper ist ein Primärobjekt sprachlicher Einteilungen; all seine Glieder und Organe sind von Kopf bis Fuß von der vis verborum erfaßt, von den Haaren über die Teile des Gesichts bis zu den Gliedmaßen; wir belassen es nicht bei Auge und Ohr, sondern unterscheiden Wimpern und Lider, Ohrläppchen und Ohrmuschel, belassen es nicht bei Hand und Fuß, sondern unterscheiden Finger und Zehen, Nägel, Wurzel und Kuppe.
Schlagen wir in einem medizinischen Handbuch nach, finden wir unter dem Lemma „Finger“ die Angabe Digitus, der drei Knochen aufweist: Phalanx proximalis, media und distalis, nur der Daumen hat zwei Phalangen und nimmt eine Oppositionsstellung gegenüber den anderen Fingern ein.
Die äußerst subtile und verästelte sprachliche Klassifikation der Organe des menschlichen Körpers gehört, vergleichbar mit dem botanischen und zoologischen Klassifikationssystem eines Linné, zu den Höchstleistungen der sprachlichen Darstellung in Physiologie, Chirurgie und Neurologie.
Aber auch der Chirurg fordert bei der Vorbereitung des operativen Eingriffs die Assistentin auf, ihm die Schutzhandschuhe über die Hände zu streifen; der Wissenschaftler, der Mediziner oder der Physiologe, muß, bevor er über die intrinsische Muskulatur des Digitus spricht, als Kind gelernt haben, die Wörter Hand, Finger und Fingerspitze richtig zu verwenden.
Die biologische Tatsache der Struktur der menschlichen Hand mit der opponenten Stellung des Daumens und ihrer zentralnervösen Steuerungskomplexität ist gemeinsam mit der genetischen Anlage zur Ausprägung der Sprachfähigkeit in den entsprechenden Hirnarealen und den Organen der Lautproduktion wie Gaumen, Zunge und Kehlkopf und dem aufrechten Gang ein entscheidendes Kennzeichen der menschlichen Spezies.
Die Semantik des Wortes Hand und seine Ableitungen und Weiterungen wie in den Begriffen Handlung, Handwerk, Handel und Verhandlung bezeugen es.
Mit der Hand tasten und fühlen wir, im Greifen und Zurüsten, im Formen und Umbilden, im Gebrauch und Umgang mit den alltäglich notwendigen Dingen und der erfolgreichen Durchführung der zum Lebenserhalt erforderlichen Handlungen erweist sich die Hand neben der Zunge als Werkzeug und Organ des menschlichen Geistes.
Wir können die Hand beim Grüßen und gestikulierenden Reden als Instrument der emotionalen und deiktischen Kundgabe, in der Gebärdensprache als Träger symbolischer Zeichen benutzen.
Auch die Semantik der vom Wort Hand abgeleiteten verbalen und adverbialen Ausdrücke gibt uns einen guten Einblick in die menschliche Lebenslage: Wir handeln klug, geschickt, angemessen und richtig oder töricht, täppisch, unangemessen und verkehrt; was nicht gut in der Hand liegt, ist unhandlich; eine handlungsarme Erzählung dünkt uns langweilig.
Vor allem müssen wir unsere Handlungen bei der Kooperation mit anderen, vom Handwerk bis zur Arbeit in Labor und Büro, sinnvoll, ökonomisch und zweckdienlich aufeinander abstimmen; dazu verwenden wir Steuerungsinstrumente wie Blicke, Sprechakte der Anweisung, Bitte oder Frage, desgleichen Kalender und Dokumente.
Die Geschlechtsteile sind uns die natürlichen Merkmale für die Klassifikation der Geschlechter; ihre seltenen Fehlbildungen und Dysfunktionalitäten sind uns kein hinreichender Grund, die fundamentale semantische Einteilung nach der sexuellen Bipolarität von Mann und Frau infrage zu stellen.
Die Regulierung und Kultivierung der in der menschlichen Sexualität angelegten natürlichen Neigungen in Institutionen wie der Ehe, der Familie und der auf Freundschaft gegründeten Liebe liefern uns reichste semantische Felder tragender Unterscheidungen, Einteilungen und Klassifikationen. Neben der Semantik von Liebe und Erotik, Fürsorge und Vertrauen finden wir eines der wichtigsten Klassifikations- und semantischen Ordnungssysteme in der Struktur der Verwandtschaftsbeziehungen; denn die soziale Position und der Lebenssinn des Menschen orientieren sich an Umständen wie Vaterschaft und Mutterschaft, an der Zahl der Geschwister, an der Beziehung von Blutsverwandten und verschwägerten Familienmitgliedern, an der Erbschaft von materiellen und kulturellen Gütern einschließlich der Muttersprache, also der Pflege von Traditionen oder ihrem Verfall, an den persönlichen und intimen Erinnerungen, deren vorzüglicher Stoff die Erlebnisse im häuslichen Umfeld darstellen.
Die vis verborum der Ahnen versorgt uns noch heute mit dem Wörterbuch für die Sprache der Liebe und der Sorge, des Vertrauens und der Lebensfreude, deren Schatten und Entartungen gleich daneben eingetragen sind, unter Stichworten wie Feindseligkeit, Vernachlässigung, Mißtrauen und Angst.
Neben der Rhetorik der Hand finden wir die Redekunst der Augen; denn Blicke können sprechen, Leidenschaft und Verlangen, Verlegenheit und Scham ausdrücken, Zuneigung und Haß, sie können strafen und drohen, locken und besänftigen.
Im Ausgang von der Mitte unseres leiblichen Daseins gelangen wir über das Nahfeld und den nächsten Um- und Wirkungskreis des Gehens, Stehens und Liegens, des Wachseins, Schlafens und Träumens, des Handelns und Genießens zu immer universelleren semantischen Gliederungen wie Jugend, Reife und Alter, Schicksal und Verantwortung, Leben und Tod.
Wir müssen die Temperatur nicht messen, um zu fühlen, daß wir frieren oder fiebern, nicht das Metermaß anlegen, wenn wir von Nähe und Ferne sprechen, nicht den Hormonstatus chemisch analysieren, wenn wir sagen, wir seien fröhlich, traurig oder gleichmütig.
Der Mediziner kann anhand der Hormonausschüttung oder des Hirnscans Ursachen für den Umstand ausfindig machen, daß der Patient von hartnäckiger Trauer und Schwermut geplagt wird; aber er kann seine Untersuchung allererst ansetzen, wenn ihm der Patient seine Situation geschildet hat, mit dem altvertrauten psychologischen Vokabular, in dem wir die klassischen Einteilungen der Gefühle und Stimmungen finden.
Wir können die Einteilungen und semantischen Ordnungssysteme unseres psychologischen Wörterbuchs nicht durch ein nichtintentionales und rein objektivierendes Vokabular ersetzen. Wenn ich dir erfreut über dein Kommen sage: „Hier findet gerade das Feuern von XYZ-Neuronen statt“, wirst du nie und nimmer verstehen, daß ich meiner Freude Ausdruck gegeben habe; denn du könntest ja mit einer rein wissenschaftlich objektiven Semantik nicht einmal die elementare Zuordnung von mein und dein, ich und du vornehmen, wüßtest also angesichts meiner kryptischen Aussage nicht, ob von mir oder dir die Rede ist.
Unser Vertrauen in die vis verborum, die Kraft der Sprache, das Antlitz und die Konturen der Dinge zu beleuchten, wenn auch bisweilen flackernd und diffus, meist aber im hellen Licht unseres Lebenstages, wird nicht gemindert, wenn sie uns mit Mythen und Märchen, Sagen und Legenden, lyrischen und epischen Dichtungen in das Reich der Fiktion verlockt.
Der mit der vis verborum zerfallene skeptische Philosoph und düstere Anbeter des reinen Lichtes der wissenschaftlichen Aufklärung, der fürchtet, im leider von den dämonischen Jüngern der semantischen Transparenz und Eindeutigkeit noch nicht gerodeten finsteren Wald der Sprache von Wort-Gespenstern und Begriffs-Ungeheuern heimgesucht zu werden, gleicht dem vom Fieber geschüttelten Kind, das nachts im Klappern der Fensterläden die Wut der Windsbraut aus dem kürzlich gehörten Märchen gewahrt, die es holen und in ihre dunkle Höhle verschleppen will.
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