Verwitterte Farben
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Weniger Drüse, mehr Analyse.
Wie tief der mystische Sinn der offiziellen Kirche gesunken ist, gewahrt man an der ubiquitären verächtlichen Entfernung des Lettners, der die heilige Handlung der Transsubstantiation vor den neugierigen Blicken der Gaffer geschützt hat.
Je mehr Östrogen, desto weniger Esprit. – Freilich das Umgekehrte gilt für Testosteron nicht.
„Deutsche Physik“ – ein Schlagwort der nationalen Sozialisten, das die Dummheit dieser Leute schamlos ausplaudert. – „Feministische Studien“ – ein Schlagwort der internationalen Sozialisten und Weltverbesserungschickeria, das sowohl von der Dummheit als auch der Realitätsverkennung kleingeistig-aufgeputschter Ideologen zeugt; beides dient dazu, den wissenschaftlichen Unwert solcher Pseudo-Forschungen zu bemänteln.
Das Gesicht, das sie nicht haben, können sie auch nicht verlieren. – Daher ihr Draufgängertum, ihr Zynismus, die Clownerie noch bei allen scheinbar ernsten Weltuntergangsrettungsunternehmen.
Idioten der Sprache, die man zu ihren Hütern auserkor, bezeugen ihre sprachgeschichtliche Unbildung, wenn sie „Greuel“ und „Quentchen“ mit -ä zu schreiben dekretieren.
Der Dichter sieht in der Narzisse den schönen Jüngling Narzissus, der sich selbstgefällig im Wasser spiegelt; er feiert die Eitelkeit einer Zerstreuung, die sich zum Höchstmaß der Selbstvergessenheit steigert, um im tragisch-schönen Untergang zu gipfeln.
Was Zahlen sind, wissen wir nicht, aber wir rechnen mit ihnen; und wenn wir uns verrechnen, stürzt die Brücke ein.
Die Religion der Natur, die Anbetung der Mutter Erde, ist der letzte sentimentale Firnis auf dem Bild, doch es zeigt schon fragwürdige Risse, Zeichen apokalyptischer Verwitterung.
Ein verwittertes Bild von Leonardo, wie sein letztes Abendmahl, läßt sich intuitiv und technisch leichter rekonstruieren als ein Tintoretto oder Raffael.
Wenn wir die Zeit nach dem Muster des Raums zergliedern, sie nach unten brechen oder nach oben erweitern, erreichen wir nie die Abszisse der Gegenwart oder die Ordinate der Ewigkeit.
Wenn wir die Zeit nach dem Muster der euklidischen Geometrie beschreiben, verschwindet der Augenblick in einem ausdehnungslosen Punkt.
Die Wildrose der natürlichen Sprache haben Generation um Generation geschickte und geniale Gärtner zur wundersamen Rosenpracht der hohen Dichtung in der sublimen Mannigfaltigkeit von Formen, Farben und Düften emporgezüchtet.
Manchmal, wenn wir die Geste einer bescheidenen Huldigung wagen, ziehen wir das schüchterne Veilchen der stolzen Rose vor.
Der Garten ist verwildert, die Rosenblätter von Raupen zerfressen; der Gärtner liegt, von Rotgardisten als Verkörperung der alten hierarchischen Ordnung erschlagen, im Gras, eine Maus nistet in seiner Jackentasche.
Daß sich die schwarze Seele in den französisch-afrikanischen Dichtungen der Négritude, der Stimme einer Ella Fitzgerald und der Trompete eines Luis Armstrong offenbart – das verstehen sie vielleicht noch. Aber daß sich in den Dichtungen eines Pindar, Dante oder George, in der Musik eines Josquin Desprez, Wagner oder Bruckner die weiße offenbart, das ist ihnen geradezu unaussprechlich, ein Anathema und ein Greuel des Denkens.
Das Gute ist das Edle; die hohe Dichtung entspringt dem Geist des Adels, so die Hymnen Pindars, die Oden Sapphos und die Lieder der Troubadours.
Goethe hatte immerhin noch die Gebildeten des Hofs zu Weimar als mehr oder weniger andächtige Zelebranten und Ministranten oder Statisten; George mußte sich in der schwülen Atmosphäre des Fin de Siècle eine künstliche Hofgesellschaft erschaffen und erdichten.
Der Ackergaul und das Zirkuspferd, das Arbeitslied und das Ritornell; der Löwenzahn und die Lilie, der Gassenhauer und die Ode. – Die Genealogie der dichterischen Formen aus dem Geist der ästhetischen Zuchtwahl und der kulturellen Pfropfung ist noch ungeschrieben.
Freilich, ohne die Wildform keine hochgezüchtete. Und die Gefahr der Degeneration steigt mit dem Grad der Verachtung der Züchter und Gärtner.
Was ist römisch an den griechischen Odenstrophen des Horaz? – Das Baumeisterliche in der Fügung und Stufung, der Mörtel der Ironie, die Ringkomposition.
Die Schreckbilder der Chimäre und der Medusa, das unterirdische Beben und Grollen der Titanen und Giganten, das Schattenreich des Acheron sind die spiegelbildliche Kehrseite der schönen plastischen Gestalten von Heroen und Göttern, des Gesangs der Quellen, Nymphen und Musen, des rosigen Schimmers im Gipfelschnee des Olymps. – Das eine bricht regelmäßig ins andere ein, im trunkenen Tanz und Johlen der Mänaden, ja, es strömt wie Blut und Milch ineinander, vermischt und überlappt sich wie das Röcheln der Sterbenden und der Gesang der Nachtigall in den Chorliedern der Tragödie.
Dreht man den Teppich der Dichtung um, gewahrt man anstelle der filigranen Muster und von ihnen umrankten Traumgestalten ein Gewirr scheinbar blind laufender Fäden und ein Chaos löchriger Netze.
Nur ein dummer Zeitgeistgelehrter tut irritiert ob des Anfangs der Ars poetica des Horaz, als könnte die hingetuschte Zeichnung einer paradoxen Mißgestalt als Einspruch gegen die klassischen Maße und Gewichte der Lehre des Meisters gelten; sie ist kein Einspruch, sondern ihr artistisch mit leichter Hand entworfenes symmetrisches Kehr- und Kippbild.
Die Chimäre gehört zur klassischen Ordnung wie der hinkende, rußige Hephaistos zur glänzenden Anmut seiner Gattin, wie der Pestpfeil des Apollon und der Liebespfeil des Eros, wie Achill, der einsam in seinem Zelt zarte Lieder singt und löwenhaft im Feld die Gegner zerreißt, wie der Adler zu Prometheus und die Sphinx zu Ödipus.
Es war die gipsern-frigide Tünche eines anämischen Schulmeister-Humanismus über der Wahrheit des Mythos, die Nietzsches Hammer abgeschlagen hat; den zarten Rissen und verräterisch pulsierenden Härchen auf der Haut der Dichtung einer Sappho, eines Vergil oder Horaz nachzutasten und dem rätselhaften Delta der Venen, das ihr weiches Inkarnat durchschimmern läßt, nachzuspähen, fehlte dem atemlosen Empörer die Geduld.
Das Haus der Sprache schwebt kopfüber in der Luft.
Einer nennt einen Grund, ein anderer einen Gegengrund, beide stehen hart, entschlossen, mit offenem Visier gegenüber; erst ist es ein Spiel, dann geht es in Streit und Gewalttaten über, die man nur zu befrieden vermöchte, nicht indem man einen Grund als alleinseligmachende Wahrheit deklariert, sondern indem man beide Gründe ausblendet.
Daß wir unsere Sache auf nichts gestellt haben ist eine schwindelerregende Einsicht.
Der Grund, auf dem wir stehen, ist nicht sicherer und fester als im indischen Mythos die Schildkröte, auf der die Erde ruht, und der Elefant, auf der die Schildkröte ruht. – Die Hoffnung, einen sicheren Grund zu finden, ein fundamentum inconcussum, kann keine Mythologie, keine Theologie und kein rationales Denken einlösen. – In dieser seltsamen Lage eines Ganges auf dem Hochseil, das selbst aus nichts als Träumen gesponnen ist, nicht zu verzagen und in den Abgrund zu stürzen, sondern uns in Heiterkeit und Gelassenheit zu üben, kann man als Quintessenz so unterschiedlicher Denkwege wie derjenigen Heideggers und Wittgensteins betrachten.
Je höher wir steigen, umso weiter geht der Blick ins Land, doch umso undeutlicher wird, was wir aus der Nähe betrachtet haben. – Im gleichen Maß, wie sich unser Wissen in einem Bereich erweitert, gewahren wir unbetretene, ja unbetretbare Bereiche des Nichtwissens.
Wir haben die Erde umsegelt; aber der Horizont unseres Wissens wandert stetig mit uns weiter.
Wir haben keinen Begriff von der Zahl, dennoch rechnen wir; wir haben keinen Begriff vom Augenblick und sprechen gleichwohl sinnigerweise vom Kairos oder vom Wunsch, zum Augenblick zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“
Mozart konnte nicht darüber befinden, Mozart zu sein.
Als müßte der Gedanke in einem Sprung das Unendliche durchmessen, um wie Achill die Schildkröte das Endliche einzuholen.
Als wäre im System der Sprache jeder Satz die Auswahl aus einer unendlichen Reihe ähnlicher Sätze.
Wir bedenken nicht, daß die Antwort, die wir von der Natur oder der Geschichte oder dem Leben erhalten, nicht wie das Echo eines Rufes ist, das unsere Frage nur nachäfft und reflektiert, sondern wie die Spur des Wanderers im Schnee, die uns verrät, aus welcher Richtung er kam und in welche Richtung er ging.
Wir bedenken nicht, daß unser Gesprächspartner von unserer Frage oder Darlegung geleitet, manchmal einen von uns nicht einmal geahnten Aussichtspunkt erreicht, von dem er weiter sehen kann als wir selbst.
Freilich, wenn wir unser Gegenüber nur lange genug pressen, gibt es uns die Antwort, nach der unsere Angst und unsere Eitelkeit verlangen.
Scheinfragen sind entweder redundant wie die Frage des Prüfers an den Prüfling, deren Antwort er kennt, oder blind, wie die hartnäckigen Warum-Fragen des Kindes; die echte Frage muß hier eine Mitte finden, darf weder überflüssig noch orientierungslos sein.
Pascal ohne Gott.
Was stünde im Mémorial eines Pascal, dem sich die Transzendenz in einer Welt ohne die Kenntnis der jüdischen Bibel oder einer Welt ohne Paulus und Jansenius geoffenbart hätte? – Was ließe sie in diesem Falle abgrenzen gegen den Gott der Philosophen und Gelehrten?
Das Unendliche offenbarte sich Blaise Pascal in einer endlichen Zeit (von 22.30 Uhr bis 0.30 Uhr am 23./24. November 1654) unter dem Zeichen des Feuers. Wer wüßte die Natur dieses Feuers zu benennen?
Das Feuer-Zeichen Pascals ist von der ontologisch außerordentlichen und epistemisch eigentümlichen Art, daß ohne das Zeichen das, was es zum Ausdruck bringt, nicht zum Ausdruck gebracht werden könnte.
Wir können den Ausruf „Aua!“ durch die Aussage „Das tut mir weh“ nicht ersetzen, sondern nur übersetzen.
Wir können das Mémorial Pascals in alle möglichen Sprachen übersetzen, nicht aber das mit „Feuer“ Gemeinte mittels beliebiger anderer Symbole wiedergeben.
Das Feuer Pascals ist wie die Rose Dantes, die Blume des dichterischen Worts, die keinen Duft verströmt, ein Feuer, das weder verzehrt noch erlischt; wie der Schatten des Denkers, der all seine Gedanken begleitet.
Das Empfundene enthält, wie die Falte des Blatts den Tautropfen, den Empfindenden, den Tropfen des Ich.
Den Tropfen weht der Wind im Nu vom Blatt, den Tropfen des Ich der Sturm des Schicksals; doch im Unterschied zum natürlichen Tropfen, könnte man mit Pascal sagen, spiegelt sich, wenn auch nur für einen Augenblick, im endlichen Tropfen des Ich die Unendlichkeit des Alls.
Die Grundfiguren des Daseins in Raum und Zeit erschließt uns die Intuition, nicht die Vernunft: die Vernunft zergliedert sie, indem sie ihre analytischen und synthetischen Methoden gleichsam wie ein Netz in den Fluß eintaucht; doch die lebendigen Gestalten, die es an Land zieht, hat sie weder konstruieren noch auch nur vorausahnen können.
Lektüre als drogenartige Form der Zerstreuung; moralische Dauerempörung, krakeelend-fuchtelndes soziales Engagement und rhetorisch-heiser belehrender politischer Aktionismus als medial verstärkte und kommunikativ gratifizierte Formen der Zerstreuung; Geschlechter-Blinde-Kuh-Spiele, erotische Akrobatik und sexuelles Athletentum als besonders degoutante, aber voyeuristisch vor dem Spiegel der faszinierten Öffentlichkeit vollzogene und sich als umstürzend-wagemutig aufspielende circensische Formen von Zerstreuung; ja noch devote und servile Unterwerfung unter anerkannte kirchliche oder häretisch-geheime Kulte als im Gewand der Frömmigkeit verkleidete eitle Formen der Zerstreuung.
Was finden wir in der unersättlichen Gier nach Zerstreuung? Die Unfähigkeit zur Einsamkeit und der allzu verständliche Widerwille des aufgeblähten, aber hohlen Ego, sich selbst zu genügen; die Angst vor dem Tod und der wahren Gewißheit der Bedeutungslosigkeit des ephemeren Daseins; den Schrecken vor den Abgründen der Banalität und des Irrsinns, die als plaudernde Nachbarn in unserer warmen Küche sitzen. – Keine Gnade gewährt uns das Feuer, das die Trugbilder verzehrt; und jene Musik, die das helltönende Narrenglöckchen in unseren Köpfen zu übertäuben vermag, die Musik Bachs, Mozarts, Schuberts oder Bruckners, kann nur für Augenblicke der Selbstvergessenheit die Unruhe aufgrund der Gewißheit der endgültigen Auslöschung mildern.
Der trübe Firnis über den Bildern der Erinnerung läßt nur verwitterte Farben durchscheinen; wir wagen es nicht, ihn mit dem scharfen Griffel der Analyse abzukratzen, aus der begründeten Furcht, mit dem kümmerlichen Rest der Farbschicht das ganze Bild auszutilgen.
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