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Vertrauen oder verzweifeln

07.08.2015

Es ist ein Zeichen von Dummheit, alles und jedes wissen zu wollen.

Wir können nur etwas erkennen, wenn wir etwas als dasselbe erkennen. Wenn demnach Erkennen Wiedererkennen wäre, könnte es eine erste Erkenntnis nicht geben. Wenn aber keine erste, dann gar keine. Also gar keine. – Sagt der erkenntnistheoretische Skeptiker und Pessimist, der Mensch des angeborenen Misstrauens.

Du behauptest, mich gestern im Park gesehen zu haben. Gewiss musst du mich wiedererkannt haben, um behaupten zu können, mich erkannt zu haben.

Wie machst du das, mich wiedererkennen? Hast du ein inneres Bild von mir, eine bestimmte oder mehr oder weniger vage Vorstellung von mir, mit der du das aktuelle visuelle Bild, das Sehbild, abgleichst und bei vollkommener Übereinstimmung stellst du die Behauptung auf, du habest mich wiedererkannt?

Aber ist das innere Bild seiner Form und Struktur nach nicht ganz verschieden von dem jeweils aktuellen Sehbild, und ist nicht darüber hinaus jedes aktuelle Sehbild von jedem weiteren aktuellen wenn auch nur um eine Nuance verschieden? Welches Bild ist dann das richtige, das du brauchst, um zu deiner wahren Aussage zu kommen?

Wenn du meinst, das innere Bild oder das Erinnerungsbild, das dir die Echtheit deiner Begegnung und Erfahrung mit mir zu bezeugen scheint, sei zu betrachten und zu begutachten wie ein äußeres Bild, ein Sehbild, woher weißt du dann, dass es echt ist und nicht gleichsam gefälscht oder verfälscht von den Spuren der Erinnerungstätigkeit, in die sich Gedächtnislücken und seltsame Wünsche nach Verklärung und Idealisierung oder Verhässlichung des Gesehenen mischen können?

Wenn wir annehmen, die Welt bestünde aus dem Zimmer, in dem sich zufällig zusammengewürfelte Personen, unter anderem du und ich, aufhalten. Du glaubst, deinen Freund Peter in diesem Raum zu erkennen. Du erkennst Peter als eine in diesem Zimmer anwesende Person, wenn keine der anderen anwesenden Personen Peter ist und wenn die in Betracht gezogene Person alle Merkmale aufweist, anhand deren wir deinen Freund Peter zu identifizieren imstande sind. Wenn wir die Wahl der Merkmale auf ein einziges wie die DNS einschränken dürfen, das hinreicht, um uns die gewünschte Information zu liefern, müssen wir vorab uns mit einer DNS-Probe Peters versorgt haben, um im gegebenen Moment die Identität der in Betracht gezogenen Person bestimmen zu können. Was aber erkennen wir, wenn wir zufrieden konstatieren, dass die DNS-Probe mit der aktuell von Peter entnommenen Probe übereinstimmt? Dass die Person, die ehemals uns ihre Probe hinterließ, nun vor uns sitzt und auf den Namen Peter hört. Und wenn die Person, die uns die Probe hinterließ, nur vorgab, Peter zu sein, genauso wie die Person, die jetzt vor uns sitzt? Um dies herauszufinden, müssten wir ihre Identität feststellen. Es scheint, wir drehen uns im Kreise …

Gehen wir davon aus, wir besäßen die echte DNS-Probe und könnten damit die Identität Peters bestätigen. Dann können wir sagen, dass ein singuläres Objekt erkennen heißt, seine Identität anhand eines oder einiger wesentlicher Identitätsmerkmale zu bestimmen. Peter weist eben dasselbe Merkmal auf wie die DNS-Probe. Demnach wäre „… ist dasselbe wie …“ oder „X ist dasselbe wie A“ die gesuchte epistemische Relation, in die wir nur die Ausdrücke für die richtigen Relata einsetzen müssen, um zu einer gültigen Aussage über die Identität des Objekts zu gelangen.

Woher wissen wir aber, dass A das richtige Relatum darstellt, mit dem wir eine gültige Aussage über X formulieren können? Nun, um festzustellen, dass A das richtige Relatum ist, müssen wir wiederum wesentliche Merkmale von A bestimmen, das heißt, die epistemische Relation auf A anwenden. Es scheint, wir drehen uns im Kreise …

Wir machen die simple Feststellung, dass jemanden wiederzuerkennen, den man kennt und zu kennen meint, voraussetzt, dass man diese Person erstmals kennengelernt hat. Doch jemanden kennenzulernen oder eine erste Bekanntschaft mit einer Person zu machen, heißt natürlich nicht, sie wiederzuerkennen. Insofern haben die der Bekanntschaft dienende Wahrnehmung, kurz die Wahrnehmung, und das der Identifikation dienende Erkennen und Wiedererkennen nicht viel gemein, ja sie unterscheiden sich der Struktur und Funktion nach in nicht geringem Maße. Die Wahrnehmung macht dir Eigenschaften des Objekts wie Form, Farbe und Größe vertraut, die du ihm als Merkmale zuordnest. Die Einheit solcher Merkmale verknüpfst du wiederum mit der Einheit des Objekts und baust darauf, dieses eben anhand seiner Merkmale wiedererkennen zu können. Siehst du das riesige Tier im Meer auftauchen und bestimmst es anhand seiner Eigenschaft, wie Fische im Meere zu schwimmen, als Fisch, so irrst du zwar insofern, als es sich bei Walen nicht um Fische handelt, aber nicht insofern, als es Meeresbewohner sind.

Wie sind wir zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich bei Walen, obwohl sie etliche Merkmale mit den Fischen teilen, letztlich nicht um Fische, sondern um Säugetiere handelt? Nun, einer hat beobachtet, dass ein Wal ein Junges lebend gebiert und es säugt. Diese Beobachtung führte zu einer Neuordnung der Klassifikation dieser Meeresbewohner: Sie wanderten aus der Menge der Fische hinüber in die Menge der Säugetiere. Diese neue Zuordnung beruht auf einer epistemisch gut fundierten Entscheidung: Das wesentliche Merkmal, ein Säugetier zu sein, überwiegt alle anderen Merkmale, die für die Klassifikation des Tieres in die Menge der Fische sprechen. Die Klassifikation entspricht nicht nur unserem klassischen Bedürfnis nach guter Übersicht, sondern ist darüber hinaus von höherer epistemischer Relevanz und wissenschaftlicher Fruchtbarkeit als die entgegengesetzte Klassifikation.

Was wir an der Wahrnehmung feststellen, dass wir erste Erfahrungen sammeln, ohne uns immer auf andere Erfahrungen zu stützen, ist ein Echo der Tatsache, dass wir uns mit der Umwelt am eingehendsten in den Situationen primären Spracherwerbs vertraut machen. Wenn du also, was sich wie ein Fisch verhält, Fisch nennst, hast du nichts erkannt oder wiedererkannt, sondern die Sprachleistung der Benennung und Klassifikation von Objekten angewandt. Du hast gezeigt, dass du der Sprache Herr bist, nicht mehr und nicht weniger.

Der Mörder hat die Leiche zunächst am Tatort, einem Waldweg, in einem Graben hastig mit Laub der umstehenden Bäume bedeckt. Es gab genügend Anhaltspunkte, den Mann zu verdächtigen, aber keine Beweise, um ihn der Tat eindeutig zu überführen. Nach Jahrzehnten findet man unter den Asservaten ein Blatt, das ein akribischer Kriminalbeamter aus dem Kofferraum des Verdächtigen eingesammelt hat. Heute können wir die DNS von Bäumen analysieren: Wie bei allen Lebewesen ist auch die DNS von Pflanzen ein individueller Fingerabdruck. Es stellte sich nach eingehenden Laboruntersuchungen heraus, dass die DNS dieses Blattes dieselbe ist wie die DNS eines der am Tatort gewachsenen Bäume. Also hat der Mörder die Leiche im Kofferraum seines Autos transportiert. Das war als Beweis hinreichend, um den Täter zu überführen. – Der Nachweis der Täterschaft fußt auf der Identität des genetischen Materials: Das Blatt in den Asservaten hat denselben genetischen Fingerabdruck wie die Blätter eines bestimmten Baumes am Tatort.

„Dasselbe wie … derselbe wie“ scheint demnach die grundlegende epistemische Relation zu sein.

Wir haben eine Leiche, eine Mordwaffe mit DNS-Spuren und einen Verdächtigen mit einem hinreichenden Motiv, können aber nicht ausschließen, dass sich außer dem Verdächtigen, dem wir es nachweisen können, nicht noch andere Personen zur selben Zeit am Tatort aufgehalten haben. Dann können wir mangels zusätzlicher Informationen dem Verdächtigen den Mord nicht eindeutig zusprechen, auch wenn die Tatwaffe seine und nur seine DNS-Spuren aufweist (er könnte die Waffe von einem anderen erworben haben, und dieser war der wirkliche Täter).

Wir wissen nicht a priori, welche und wie viele Merkmale ausreichen, um einen Gegenstand eindeutig zu identifizieren oder ihn einer bestimmten wohldefinierten Menge von Gegenständen zuordnen zu können. Der neue Fund eines Papyrusfragments im ägyptischen Sand weist in Wortwahl und Grammatik, im Stil der Metaphorik, in der Verwendung von mythischen und historischen Namen, in der Anspielung auf mythische Motive und in Prosodie und Metrik alle Merkmale auf, die es uns nahelegen, das Bruchstück dem Opus der Sappho zuzuordnen. Denn wir verfügen über eine ausreichend große Sammlung sapphischer Lyrik, die wir als echt oder authentisch ansehen und die uns erlaubt, eine Liste von Merkmalen der genannten Art zusammenzustellen, anhand deren wir bestimmte Leseproben in die Menge der als sapphisch klassifizierten Objekte einordnen können. Doch bleiben wir vorsichtig! Es könnte sich bei dem Fundstück um eine geschickte oder geniale Nachahmung handeln – das gilt auch und gerade dann, wenn das Fragment den Namen der vermeintlichen Autorin oder eine Anspielung auf ihre Person enthielte.

Geistige Objekte haben demnach anders als bestimmte physische keinen individuellen Fingerabdruck, anhand dessen sich ihre Identität und Herkunft eindeutig bestimmen ließen.

Du glaubst, mich gestern im Park gesehen zu haben. Es könnte nicht ich gewesen sein, so wärst du einer Verwechslung erlegen. Es könnte nicht gestern, sondern vorgestern gewesen sein, dein Zeitgedächtnis hätte dir einen Streich gespielt. Auch wenn ich dir deine Annahme, mich gestern im Park gesehen zu haben, bestätigte durch meine Versicherung, ich sei tatsächlich gestern im Park spazierengegangen, können wir deine Annahme nicht ohne weiteres als wahre Aussage stehen und gelten lassen. Denn auch ich könnte mich irren und wäre nicht gestern, sondern vorgestern im Park gewesen. Kämen wir der Wahrheit näher, wenn wir einen unabhängigen Zeugen, einen Wahrheitszeugen, hinzuzögen, der deine Annahme und meine Bestätigung deiner Annahme seinerseits bestätigte, weil er vorgibt, mich gestern im Park gesehen zu haben? Damit wären wir gleichsam nur um die Ecke gelaufen, denn auch unser Zeuge könnte sich ja irren.

Wenn du ein Foto geschossen hättest, wie ich auf der Parkbank sitze und eine Zeitung lese, und der Ort wäre eindeutig identifizierbar durch ein sichtbares Monument, das nur in diesem Park aufgestellt ist, und das Datum wäre durch das Titelbild der Tageszeitung eindeutig auszumachen, auch dann könnte ich dir entkommen mit dem störrischen Hinweis darauf, es könne sich bei dem Abgebildeten auch um jenen Doppelgänger handeln, der hier im Viertel schon mehrfach aufgetaucht sei.

Es scheint, dass wir keinen sichern Grund epistemischer Gewissheit fassen können und uns damit abfinden müssen, unser Leben nur scheinbar auf fester Erde, in Wahrheit in einem fluiden und schwankenden Element zu verbringen. Dieses fluide, mehr oder weniger schwankende Element ist das feingliedrige Netz unserer Überzeugungen und Annahmen, die sich auf das beziehen, was uns wahrscheinlich und glaubwürdig dünkt.

Und dennoch haben wir eine schmale epistemische Basis, auf die wir uns vorläufig stützen, der wir wenn auch nicht bedenkenlos vertrauen können: Dies sind gewisse fundamentale Begriffe oder Grundbegriffe, die wir nicht ohne das Risiko systematischer Fehldeutungen füreinander einsetzen können. „Sehen“ ist ein solcher Grundbegriff, wir haben ihn bereits beim Hinweis auf die Wahrnehmung als Basis unserer Bekanntschaft mit der Welt gestreift.

Wir dürfen der Versuchung nicht erliegen, die elementare Zeugenschaft durch die visuelle Wahrnehmung deshalb in Misskredit zu bringen oder sie zur Illusion zu erklären, weil Sehen gewissen Täuschungen ausgesetzt ist. Wir sagen ja auch nicht, weil wir uns in einer unbekannten Gegend verlaufen haben, das beweise eben den Sinn unserer Fortbewegung, nämlich herumzuirren und sich zu verlaufen.

Der Skeptiker greift bekanntermaßen hier an und möchte das Misstrauen in die Leistungskraft unserer Rezeptoren, das uns Wahrnehmungstäuschungen einzuflößen vermögen, generalisieren: Sehen sei ein Träumen mit geöffneten Augen wie Träumen ein Sehen mit geschlossenen Augen. Wenn wir uns unterhalten, erzählten wir uns einen Traum, und die Unterhaltung sei selbst ein Teil dieses Traums.

In Wirklichkeit messen wir Träumen in unserem Leben natürlich einen anderen Stellenwert zu als unseren Wahrnehmungen. Das zeigt sich daran, wie anders wir von dem einen und anderen berichten und erzählen. Du tust deinen Traum von einer Bluttat als typischen Albtraum ab, aber gewiss nicht die Bluttat, die du am hellichten Tage mit eigenen Augen in der Nachbarschaft mit ansehen musstest. Wir reden hierbei von emotionaler Erschütterung durch das Erlebte, wogegen der Traum nicht im gleichen Sinn im Gefühlsraum nachhallt.

Wir können den Skeptiker mit seiner Ansicht vom Leben als Traum nicht bündig durch noch so fein gesponnene Argumente abschlagen. Aber wir brauchen es auch nicht, solange wir auf guten Strecken unseren Augen trauen und dem vertrauen, was die Eltern oder Großeltern, der Kommilitone oder Kollege, der Freund oder Kamerad uns auf Treu und Glauben versichern.

Das Netz unserer Überzeugungen knüpft meist das Wahrscheinliche an das Wahrscheinliche und das Glaubwürdige an das Glaubwürdige. Es findet aber seine Verankerung oft im Unwahrscheinlichen, das unseren Lebensweg kreuzt. Es war eher unwahrscheinlich, dass dich eine Volksschullehrerin gleichsam bei der Hand nahm und deinem Griechischlehrer auf dem Gymnasium gleichsam ausgehändigt hat: Denn mit diesem war sie verehelicht. Weil du von deinem üblichen Spazierweg einmal abgewichen bist und das Café einladend fandest, das mein Stammlokal ist, sind wir uns begegnet. In Susette Gontard fand Hölderlin in Fleisch und Blut, was ihm als Idol der dichterisch beschworenen Liebe in wolkige Ferne entrückt schien: Nun blitzte es zwischen den Wolken seiner lyrischen Anrufungen als wirklicher Stern auf.

Sicher können wir in unserer kartesischen Welt singuläre Objekte über ihre Raum-Zeit-Koordinaten eindeutig identifizieren, und heute übernimmt dies ein kleines Navigationsgerät. Doch wie wenig hilft uns dies bei unserer alltäglichen Orientierung, wenn wir uns fragen: War diese Geste freundlich gemeint? War dieses Lächeln eine Einladung oder eine ironische Distanzierung?

Nun, wir können Ambivalenzen auflösen, indem wir Äußerungen in einen Kontext anderer Äußerungen einordnen, die uns weniger zweideutig erscheinen. Wenn derjenige freundlich lächelt, der dir gerade die Türe aufhält, unterstellen wir ihm erst einmal gute Absichten. Das freundliche Grinsen desjenigen, der uns an der Wohnungstür einen Ladenhüter aufschwatzen will, schätzen wir anders ein.

Wir behelfen uns mit dem Modell von Spielzeugfiguren, deren einzelne Teile Kinder zusammenstecken, bis die ganze Gestalt den richtigen Eindruck macht.

Das meiste, was für unser Leben hohe Relevanz und Bedeutsamkeit hat, kann unseren raffinierten epistemischen Maßstäben nicht genügen. Wir nähren uns von Erfahrungen, deren Hintergrund im Dunkeln liegt und deren Ränder einen Hof des Unbestimmten und Ungewissen ausstrahlen. Wir bleiben darauf angewiesen, unsere Erfahrungspakete auf das schwankende Boot des Hörensagens, des Ungefähren und Unwahrscheinlichen zu hieven.

Sicherlich sollen und müssen wir in den wichtigen Situationen nicht blind vertrauen – auch wenn wir die präzisen Prüfverfahren der Physiker und Chemiker nicht auf die Gewichtung der Glaubwürdigkeit unserer Gewährsmänner, Zeugen oder Funktionsträger unserer Umwelt anwenden. Wir vertrauen dem Apotheker unserer Hausapotheke, weil wir ihn seit Jahren kennen und seine Empfehlungen uns nützlich waren oder zumindest nicht schädlich, auch wenn wir fachlich nicht in der Lage sind, jede Punkt für Punkt zu verifizieren. Dass er ein finanzielles Interesse daran hat, uns als Kunden zu behalten, schränkt unser Vertrauen nicht ein – im Gegenteil, da ihm fehlerhafte Beratung und schlampiger Service finanzielle Einbußen in Form ausbleibender Klientel einzuhandeln drohen, festigt sein Interesse unsere Vertrauensbasis.

Cum grano salis und auf lange Sicht gilt diese Annahme einer kausalen Verzahnung von Eigeninteresse und Stärkung des Kundenvertrauens durch stetig verbesserte Produkte und Dienstleistungen für den Bäcker und Metzger von nebenan, für den Supermarkt ums Eck und für den Hersteller und Händler unserer Lieblingsmarken bei Kleidern, Parfums und Autos – kurz: für den Markt, insofern seine Mechanismen von Angebot und Nachfrage von relativ autonomer Preisgestaltung getragen und nicht durch Monopole und staatliche Eingriffe stranguliert und korrumpiert werden.

Wir zeihen einen uns glaubwürdig erscheinenden Zeugen – wir glauben ihm, was er jetzt sagt, weil vieles von dem, was er früher sagte, sich als richtig herausgestellt hat – nicht nachweisbarer Irrtümer, denn diese müssen wir stoisch hinnehmen, sondern der Unwahrheit und Lüge, wenn zutage tritt, dass unsere wohlmeinende Unterstellung eben aufgrund seiner aktuellen Äußerung zusammenbricht, mit der er uns diesmal hinters Licht geführt hat. Lügen, Unwahrheiten und Halbwahrheiten sind das Gift, das unser Vertrauen auflöst, unser Misstrauen weckt.

Wir unterscheiden zwischen dem Vertrauensbruch im Nahbereich, in dem intime und freundschaftliche Bande zerreißen, von dem Vertrauensmissbrauch, wie er aus dem Munde und aus der Feder von Amtswaltern und Vertretern von Institutionen des Staates, der Parteien und Interessensverbände gang und gäbe ist. Wir tun gut daran, mit mentalem Vorbehalt und einem gesunden Misstrauen all ihren Verlautbarungen gegenüber uns zur Ruhe skeptischer Betrachtung anzuhalten. Natürlich und in besonderem Ausmaß gilt unser Vorbehalt den Politikern, Parteichargen und Abgeordneten aller Couleurs sowie den Presseschreibern und Hehlern und Zulieferern der öffentlichen Meinung, die um Lohn und Prestige willen die Wahrheit biegen und brechen. Es ist ihres Amts zu lügen oder die Wahrheit zu schmieren und unsere Pflicht, ihnen zu misstrauen.

Der Begriff „freie Presse“ ist ein Contradictio in adiecto.

Wir müssen uns nicht auf Fachleute und ihr Fachwissen beziehen, um unsere Ansichten über die Begriffe, die unsere Lebensinteressen ausmachen, zu rechtfertigen oder in Zweifel zu ziehen. Wir müssen nicht das Freundschaftskapitel der Nikomachischen Ethik des Aristoteles durchgeackert haben, um beurteilen zu können, ob dieser sich als Freund erwiesen hat und jener nicht. Wir kennen ja den Begriff „Freund“ und seine Verwendung aus dem Kindergarten und nicht aus dem philosophischen Seminar. Der Begriff hat sich in vielen Lebenslagen bewährt, und daher können wir seiner regelhaften Verwendung vertrauen. Der Skeptiker, der wie gewohnt auch diesen Begriff uns durch Dämonisierung abluchsen will, setzt uns mit dem Einwurf zu, hinter der Maske der Freundschaft rege sich nichts als blanker Eigennutz. Dies ist seine Methode, die uns geläufigen Grundbegriffe, mit denen wir uns im Alltag orientieren, dadurch zu diskreditieren, dass er den einen mit einem anderen kreuzt oder tauscht. Das und das, sucht er dann mit der feixenden Miene des Entlarvers und Feinschmeckers des Unbewussten zu suggerieren, ist eigentlich das und das. Hüten wir uns also davor, unser Vertrauen in die Möglichkeit, am Leitfaden der Grundbegriffe im Leben voranzukommen, durch den Aufweis ihrer „eigentlichen“ Bedeutung erschüttern zu lassen.

Ein besonders gefährlicher und bösartiger Einredner und Diskrediteur unseres sprachlich fundierten Lebenswissens ist der jüngst in Mode gekommene und sich als philosophischer Aufklärer gerierende Neurowissenschaftler und MRT-Visionär, der uns glauben machen will, dass die Art unserer Verwendung lebenstragender Grundbegriffe wie der Begriffe für das Seelenleben ihre eigentliche Bedeutung cachiere: nämlich die neuronalen Vorgänge in unserem Organismus. Wer von Liebe redet, fasele und idealisiere, wenn er sich nicht auf die Ausschüttung gewisser Hormone und Neurotransmitter in unserem Körper bezieht. Aber die Sprache der Liebe und unserer Gefühle lässt sich nicht abbilden auf die Sprache der Physik und Chemie, weil sie Gedanken ausdrückt, deren semantischer Gehalt darin zum Ausdruck kommt, dass sie wahr oder falsch sein können. Du wähntest, diese Frau würde dich lieben, aber wie sich herausstellte, hat sie ihre Gefühle nur vorgetäuscht, denn sie hatte es auf deinen Geldbeutel oder dein Prestige abgesehen oder darauf, sich mit dir weniger zu langweilen. Die neuronalen Vorgänge in unserem Kopf sind, was immer sie sind, aber sie sind nicht wahr oder falsch.

Wenn du also glaubst, dir bei solchen Fachleuten über die eigentliche Bedeutung deiner Gefühle und deines Seelenlebens Aufschluss verschaffen zu können, gerätst du in die Irre und wirst um Gehalt und Wert deines Lebens betrogen. Ja, eine ausschließliche Lebensorientierung an der Wissenschaft untergräbt das Vertrauen in dich selbst und mündet in Verwirrung und Verzweiflung.

Erkennen wir in den großen Dichtern wie Horaz oder Goethe unsere wahren Lebemeister und Leitsterne: Sie haben ihr Werk aus der Fülle solcher Erfahrungen geschöpft, die sich in der Sprache des innigen und ausgreifenden, des ernsten und heiteren, des gelösten und tragischen Lebensvollzugs artikulieren.

Unsere Überlegungen sollen nicht Selbstzweck sein, der Wunsch nach reiner Theorie oder der verzückten Vision in mystischen Grotten oder auf Offenbarungsbergen dünkt uns Lebensverrat oder ein Zeichen von Lebensfremdheit, unsere Überlegungen sollen uns gleichsam um den Hügel oder das Hemmnis, das sich vor uns aufgeworfen hat, durch geschickte Umwege herum- und zu neuen Horizonten hinleiten, ohne dass wir durch skeptische Grübeleien und epistemische Beunruhigungen Lebenskraft und Lebenszeit vergeuden.

Wir konnten deine Behauptung, mich gestern im Park gesehen zu haben, nicht mit letzter Gewissheit rechtfertigen. Nun, so wenden wir uns also von dieser kleinen epistemischen Beunruhigung ab und wichtigeren Dingen zu. Soll der Apostel des epistemischen Misstrauens an diesem leeren Punkte verharren, bis er schwarz wird. Ob du nun Recht hattest oder ich, ob wir beide Unrecht hatten, das hat für unsere tieferen Lebensinteressen keine Relevanz.

Anders, wenn du behauptetest, mich gestern im Park in inniger Umarmung mit einer jungen Schönen gesehen zu haben. Und ich stritte die Tatsache nicht ab. Hier wären tiefere Lebensinteressen im Spiel, hatten wir beide doch unsere Zweisamkeit bislang als exklusiven Bund definiert, weniger durch Worte, als durch Gesten und Zeichen. Nun, wollen wir es so machen, wie im Falle der Wale und Fische? Wie wir dort durch Erweiterung der konzeptuellen Basis die Beobachtung, dass es Meeresbewohner gibt, die keine Fische, sondern Säugetiere sind, eine neue Klassifikation einführten, die uns klar und fruchtbar erschien, könnten wir auch hier die konzeptuelle Basis des Liebesbegriffs erweitern und auch im Falle einer nichtexklusiven Beziehung von Liebe gleichsam minderer Stufe sprechen, mit der wir ein verträgliches Auskommen fänden?

Es will uns bedünken, dass unsere elementaren Lebensbegriffe vor solch einer klassifikatorischen Willkür peinlich zurückschrecken. Wir bekennen uns nicht zu den Egalitaristen, denen Krethi und Plethi als Gäste ihres Umgangs, intim oder nicht intim, willkommen sind, sondern zu den Elitisten, die sich ihre Gäste auszusuchen und ihre intime Nähe vor Zudringlichkeiten zu bewahren streben und denen der Ausschluss der Alternative die Kostbarkeit des Erwählten steigert, ja allererst begründet. Es hülfe deiner existentiellen Beunruhigung daher wohl nicht auf, wenn du das Wort „Liebe“ auf eine radikal neue Weise deklinieren lernen sollst. Die Vertrauensbasis, auf der wir beide nahe beieinander standen, bliebe erschüttert.

Das generelle Misstrauen, das der Skeptiker zur Schau stellt, ist eine besonders unlautere Form der Eitelkeit.

Allerdings können wir uns, da wir sterblich sind, nicht grenzenlos vertrauen. Im Tode, der äußersten Grenze, erfahren wir die letzte Abwendung, die auch unsere erste Zuwendung in Frage stellt, erfahren wir eine absolute Abwesenheit und Fremdheit, die unsere Anwesenheit und Intimität überholt.

Der Tote lässt uns ohne Antwort zurück. Es bleibt uns nur, sie für ihn, an seiner Statt, in seinem besten Sinne zu geben.

Wir vertrauen auf den Widerhall unserer Antwort. Und das Lächeln dessen, der uns die Frage gestellt hat, steht uns dafür ein, dass er nicht bloß das Echo unserer Stimme sei.

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