Verstehen und Erklären
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Was wir verstehen, können wir meist nicht erklären, und können wir es erklären, wird unser Verständnis deshalb nicht notwendig vertieft.
Wir hören einen Mißklang in einer Melodie und den Wohlklang eines Goetheschen Verses, wir sehen die farbliche Harmonie in einem Gemälde von Vermeer oder Franz Marc, ohne uns explanatorische Rechenschaft über unseren ästhetischen Eindruck geben zu müssen oder zu können.
Wir wissen, was einer meint, der uns nach der Zeit fragt, ohne über eine physikalische Theorie der Zeit zu verfügen.
Ein farbenblinder Physiker kann eloquent über die Brechung des Lichts und das dabei auftretende Farbspektrum dozieren, aber nicht über das, was Goethe die sittliche Wirkung der Farben nannte.
Der Astronom erklärt die Entstehung von Sternen und Galaxien, nicht aber der Welt, in der wir leben.
Die Physiologie des Gehörs und der neuronalen Verarbeitung der akustischen Wahrnehmung erklärt nicht den Sinn des einfachen Sprechakts der Aussage, Frage oder Aufforderung.
Wir verstehen, warum das Kind weint, wenn es sich am glühenden Herd die Finger verbrannt hat, und ebenso, warum die Frau den Mann anschreit, der sie betrogen hat. Doch handelt es sich um zwei unvergleichliche Zusammenhänge, einen kausalen und einen psychologischen. Die Frau könnte auch, anders als das Kind, in einem grollenden oder dumpfen Schweigen erstarren.
Wir erklären die Verfinsterung des Mondes durch seine Stellung zu Erde und Sonne, also unter erklärender Zuhilfenahme eines astronomischen Modells; wenn sich aufgrund deiner abfälligen Äußerung das Gesicht deiner Freundin verfinstert, verstehst du dies unmittelbar, ohne Zuhilfenahme von wissenschaftlichen Hypothesen.
Phänomene, die wir als sinnvoll betrachten, können wir nicht mittels Anwendung von Hypothesen oder Theorien erklären.
Wenn der neurowissenschaftlich fehlgeleitete Philosoph das von uns als schön erachtete aufgeschlagene Rad des Pfaus mit dem evolutionären Vorteil der Attraktivität des Hahns für die Verbreitung seiner Gene erklärt und daraus eine allgemeine Hypothese über den Sinn und Wert künstlerischer Schönheit glaubt ableiten zu können, verwechselt er ästhetische Schönheit, die nichts Objektives oder Gegenständliches meint, mit sinnlichen Reizen und grellen Effekten und beweist damit sein Banausentum in Sachen Kunst.
Erklärt man Kunst als Form sinnlicher Überwältigung, wäre Pornographie ihr letzter Schrei.
Verstehen ist das Lebenselement des zu sich selbst erwachten Bewußtseins oder Selbstseins, das sich in einem Medium wie dem gestischen und mimischen Ausdruck oder der Sprache mehr oder weniger deutlich zu erkennen gibt und transparent wird.
Einer mag sich unter der Maske eines Jargons verstecken, ja unter der Maske einer Sprache, die gleichsam über sein wahres Gesicht gewachsen ist, vor sich selbst verborgen bleiben.
Das Kind malt die Sonne als lachendes Gesicht. Wir sagen, es atmet die freie Luft des metaphorischen Verstehens.
In der Welt der Moleküle oder der Neuronen gibt es kein Bild.
Es bezeugt ein sprachliches Mißverständnis und den Mißbrauch einer Metapher oder Analogie zu sagen, das Gehirn interpretiere die visuelle Information als ein Bild und die akustische Information als eine Frage oder Warnung.
Innerhalb der Physik oder Biologie können wir die Schwelle zum Sinn nicht überschreiten.
Wir sagen, wir seien uns sicher oder gewiß, warum unser Freund ein finsteres Gesicht macht, aber wir können es nicht in dem Sinne wissen, wie wir wissen, weshalb sich der Mond verfinstert.
Wir bedürfen keiner erklärenden Hypothesen über das Seelenleben unseres Gegenübers, um zu verstehen, was er sagt.
Wenn die Fensterklinke verrostet ist und wir das Fenster nicht öffnen können, achten wir auf die Widerspenstigkeit des Dings, das uns ansonsten unter dem trüben Fluß des alltäglichen Weltumgangs verborgen bleibt.
Der Sonderling liebt es, den lichten Raum des Gesprächs mit Brocken seltsamer, sperriger oder abstruser Redewendungen zu verdunkeln, die er dann auf unsere Bitten hin wie voll Mitleid mit unserer Begriffsstutzigkeit durch langatmige und tautologische Erklärungen gnädig wieder ausräumt.
Die Transparenz der Zeichen in Gesten und sprachlichen Äußerungen, Gepflogenheiten und Riten auf einen geteilten Horizont verständlichen Sinns ist das Charakteristikum einer gemeinsamen Kultur.
Seelische Gebrechen und Geisteskrankheiten sind Krankheiten des Sinnverstehens.
Der Paranoiker, der wähnt, man wolle ihn vergiften, steht mit einem Fuß außerhalb der gemeinsamen Kultur, wenn wir die Tischgemeinschaft als eines ihrer stärksten Symbole auffassen.
Der geregelte Austausch von Gesten, Zeichen, Dingen ist die Grundlage gemeinsamer Kultur. Die Regel ist das Quidproquo, daß ich deine Frage beantworte, deine berechtigte Forderung begleiche, mein Versprechen einlöse. Aus der auf Dauer gestellten Regel erwächst die Sitte, die Sitte sondert gleichsam aus dem weichen Fleisch fließender Verständigung die Muschelschale des Rechts und der Rechtsüberlieferungen ab.
Wir können die Vielfalt des Sprachgebrauchs, der Sitten und Gebräuche nicht in der Weise systematisch klassifizieren und rubrizieren, wie es der Botaniker Linné mit den Pflanzen getan hat.
Der Mann kann seiner Frau nicht damit kommen, er lebe polygam, weil er auf diese Weise seine Gene besser verbreiten könne; die Frau kann ihm nicht sinnvoll erwidern, sie bestehe auf einer monogamen Beziehung, weil auf diese Weise das Wohl ihrer Kinder ein sicheres Haus und Dach habe. Der Wille (oder Unwille) zur Einehe kann nicht als evolutionäre Anpassung erklärt werden, sondern ist ein Ausdruck gewünschter kultureller Veredelung (oder Verrohung) der intimen Beziehung von Mann und Frau.
Die Sprache kann nicht aus der Funktion zur Verständigung in kooperierenden Gruppen erklärt werden; unter Bienen funktioniert diese Kooperation mittels chemischer Signale ohne semantischen Gehalt – und so ohne die Gefahr all jener Mißverständnisse und falscher Deutungen, mit denen wir uns abquälen.
Warum soll ich den Sinn deiner Abweisung verstehen, selbst wenn du mir die Tür vor der Nase zuschlägst?
Kulturelle Gemeinschaften kittet nicht nur der geteilte Sinn ihrer Zeichen, sondern auch, wenn sie eine geschichtliche Dauer erlangen, ihr Gedächtnis, das sich ursprünglich in sakralen Orten wie Hainen und Tempeln und dort vollzogenen Riten, sodann in für sakrosankt erachteten Sammlungen von Sprüchen, Mythen, Legenden verdichtet, dem Archiv ihres überindividuellen Gedächtnisses, das mehr und mehr von der Kaste der Priesterschreiber kodifiziert wird.
Der aus der Priesterkaste austritt, um neue Sprüche, Mythen, Legenden zu formen: der Dichter.
Du willst nach alter Sitte der Dame den Vortritt lassen oder die Türe offenhalten? Die Höflichkeit solcher Gesten wird von den Theoretikern der Macht ihres Eigensinnes beraubt und mittels Entlarvung der darin kaschierten männlichen Dominanz und also plausibler Erklärung ersatzlos gestrichen.
Erklärungen des Sinnverstehens gipfeln in seiner Vernichtung durch Algorithmisierung.
Die Reproduktion des visuellen Eindrucks durch algorithmische Verteilung von Pixeln auf dem Bildschirm erzeugt kein Bild.
Die beruhigende und kontemplative Wirkung des Stillebens kann man nicht damit erklären, daß der lauernde Appetit auf jene delikaten Früchte vor dem Imaginären abblitzt.
Jemand lächelt, das sehen und verstehen wir; ob aber aus froher Stimmung oder Verlegenheit, muß sich erst zeigen.
Wir sehen in den kunstvoll verteilten Farben und Linien auf der Fläche ein Bild; so verstehen wir, daß hier etwas gezeigt wird; und wenn auf dem Stilleben einige Dinge im Schatten liegen und ihre Konturen im Zwielicht verschwimmen, sehen und verstehen wir, daß dies gezeigt wird.
Wir sind inkarnierte Monaden oder Selbstbezüglichkeiten, die weder in eingemauerten Innerlichkeiten füreinander verschlossen hausen noch durch biologische Adaptionen miteinander verhaltenssynchron agieren, sondern durch Zeichengebrauch mehr oder weniger einander transparent und durchscheinend leben.
Wir mögen nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein; doch daß jemand traurig ist, der weint und über den Grund seiner Betrübnis klagt, verstehen wir.
Wir können in der Betrachtung eines Stillebens auch den Augenblick der Stille und Gelöstheit erfahren, der uns an den Topos vom Paradies erinnert, wie er uns von der Tradition im Bild- und Spracharchiv unserer Kultur überkommen ist, das vor Auslöschung, Verunstaltung und sinnentstellender Deutung zu bewahren, zu den vornehmsten Pflichten gehört.
Jene Bilder der heiligen Überlieferung stehen nicht zur beliebigen Disposition beliebiger Inszenierung; anders als Markendosen oder Urinale, die ihrer originären Verwendung wieder zuzuführen wir nicht verschmähen.
Siehe auch:
https://www.youtube.com/watch?v=zF5X9amkH2s
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