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Verrücktheiten der Meisterdenker

11.10.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Vernunft oder was wir gesunden Menschenverstand und die Engländer Common Sense nennen, ist bei gewöhnlichen Sterblichen zumeist auf die Angelegenheiten des Alltags beschränkt; dagegen weisen ihre ins Allgemeine schweifenden oder sich ins Spekulative reckenden Ansichten meist einen Stich ins Verstiegene, Absurde, Wahnhafte auf.

Sie trauen nicht ihren Sinnen, sondern glauben, was in der Zeitung steht.

Von den vielgerühmten und der Jugend als Vorbild angemahnten Meisterdenkern gilt zumeist, daß sie nicht einmal die im gewöhnlichen Leben und Weben eingewurzelte Vernunft bezeigen, sondern mit dem Common Sense über Kreuz liegen. Ein Parmenides etwa müßte sich fragen, ob es nicht unsinnig sei, eine Fahrkarte an der S-Bahn-Station zu lösen, da es gemäß seiner starken Intuition keine Bewegung geben kann; dasselbe könnte man von seinem Schüler Zenon von Elea sagen, wies er doch nach, daß selbst der schnelle Achill die lahme Schildkröte, gewährt man ihr nur einen kleinen Vorsprung, niemals einholen könne.

Der Meister der Meister, der vergöttlichte Plato, behauptete, die Rose sei weiß, weil sie an der übernatürlichen und einzig realen Wesenheit des Weißseins teilhabe; der schöne Jüngling schön, weil das übernatürlich Ewig-Schöne, das einzig und in Wahrheit schön genannt zu werden verdiene, in diesem sterblichen Körper erscheine oder gleichsam erstrahle. – Nun, zu sagen, etwas habe die Eigenschaft P, heißt nicht und ist logisch unverträglich mit der Behauptung, P sei etwas in dem Sinne und der Art, wie dasjenige, das die Eigenschaft P hat.

Die Basis, auf die sich die neuzeitlichen Meisterdenker, ein Fichte, ein Hegel, ein Schelling stützen, das angebliche fundamentum inconcussum des Descartes, das Cogito, gewährt uns kein Gran an Gewißheit. So ist meine Absicht, etwas zu tun, fraglos ein Gedanke, an dem zu zweifeln ich keinen Anlaß habe; aber die Bedingungen seiner Erfüllung sind bisweilen mehr als fraglich; und wenn ich eine unerfüllbare Absicht hege, täusche ich mich sogar in dem Gedanken, eine Absicht zu haben.

Nichts hindert, daß mein Freund mich besser versteht als ich mich selbst, er sieht, wie verlegen ich bin, noch bevor ich es merke.

Die Meisterdenkerthese, bestimmten logischen, epistemischen und moralischen Werten und Eigenschaften wie Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit könne man eine extramundane (Plato) oder objektive Existenz (Hegel) oder ein wenig dünner, aber immer noch penetrant aufgetragen eine kommunikativ-intersubjektive Existenz (Habermas) zusprechen, löst sich durch Analyse des in ihr versteckten logisch-grammatischen Mißbrauchs in Luft auf; dieser beruht auf dem trügerischen Gebrauch des kleinen Artikelwortes „DIE“ in Wendungen und ideologischen Schein-Sätzen dieser Art: „DIE Wahrheit wird siegen“, „DIE Vernunft behält am Ende recht“ oder „DIE neue konfliktfreie Gesellschaft der Zukunft beruht auf dem sozialen Fundament der Gerechtigkeit“; die vernichtende Analyse, die solche Sätze verdienen, wird derjenigen von Russell ähneln, mit der er den Schein-Satz „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ in die Konjunktion der Aussagen „Es gibt einen und nur einen König von Frankreich und dieser König ist kahl“ aufgelöst hat, deren erster Bestandteil offenkundig falsch ist und somit die ganze Aussage unwahr macht.

Wenn die paar Leute, aus denen die kleine Schar der Frommen der Gemeinde besteht, alle in den Kirchenbänken sitzen und knien, sagen wir rechtens, die Kirchengemeinde habe sich versammelt; aber wir sitzen ähnlich wie Alice im Wunderland einem logisch-grammatischen Mißbrauch durch Substantivierung des Eigenschaftswortes „niemand“ auf, wenn wir angesichts der Tatsache, daß sich dieses Mal niemand in der Kirche eingefunden hat, fragen, wer wohl dieser Niemand sei.

Freilich, Meisterdenker wie Parmenides, Hegel, Heidegger und Sartre haben aus dem unscheinbaren Wörtchen „nichts“ ein ontologisches Monstrum namens „Nichts“ hervorgezaubert.

Wenn wir davon reden, daß niemand im Nebenraum ist, behaupten wir nicht die Existenz einer negativen Tatsache.

Zu sagen, wie es Meisterdenker vom Rang eines Kant und Schopenhauer tun, daß wir aufgrund unserer limitierten Erkenntnismöglichkeiten und sprachlichen Mittel gleichsam in einen konkaven oder konvexen Spiegel schauen, der uns die wahren Proportionen der wirklichen Dinge, wie sie an sich sind, nur verzerrt widerspiegelt, heißt nichts zu sagen. Die Aussage ist ähnlich sinnlos wie der Satz: „Dieser Satz ist unwahr.“

Welche Dummheit lugt aus der eitlen Behauptung des Meisterdenkers Foucault, alles, was die Leute sagen, sei eine Funktion der Machtverhältnisse, in die sie verstrickt sind. – Wie, der Gehenkte kann den Strick noch einmal lockern und – eine Weile in den Abgrund des Selbstwiderspruchs blickend – frei sprechen?

Wir verfügen immerhin über drei Kriterien, an denen wir den defekten Sinngehalt unserer Aussagen bemessen können: das Kriterium, wonach sie einen logischen Widerspruch enthalten wie der Satz des Ismael, des einzigen Überlebenden beim Angriff des weißen Wals in Melvilles Erzählung, alle Reisenden seien dabei ums Leben gekommen, oder wie der Satz, daß wir in Wahrheit nichts über die Vergangenheit wissen können, weil historische Dokumente und Zeugen die Ereignisse immer schon verzerrt und korrupt von der Warte ihrer interessengeleiteten Perspektive wiedergeben; das Kriterium, wonach Aussagen durch kein methodisch kontrollierbares Verfahren zu überprüfen sind wie der Satz, daß auch Menschenaffen über mathematisches Wissen verfügen und religiöse Anschauungen haben oder der Hund weiß, wer gemeint ist, wenn sein Name über ihm am Tisch beim Geplauder der Gäste seines Herrchens erwähnt wird; und das Kriterium, wonach solche defekten Aussagen einen kategorialen Mißbrauch der Sprache verkörpern wie der Satz, die Zahl Drei sei eine vollkommenere Zahl als die Zahl Zwei, oder der Satz, das Unbewußte enthalte die wahren Gründe unseres Tuns und Redens.

Freilich, Meisterdenker wie Freud und Lacan sagen, das Unbewußte enthalte und verberge zugleich die wahren Motive unseres Sagens.

Die Meisterdenker der mittels Gleichheit herbeizuführenden oder herbeizuschießenden sozialen Gerechtigkeit wie Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Mao e tutti quanti glauben zu wissen, daß des Menschen Würde an der Abschaffung sozialer Ungleichheit und der Vernichtung parasitärer Eliten hängt. Würden aber alle Güter gleich verteilt, gäbe es bald nichts mehr zu verteilen, denn das Streben der Klugen und Tüchtigen, es besser zu machen als die Dummen und Faulen, erläge bald einem fatalen Erstickungstod.

Die Meisterdenker der universalen Moral behaupten im Angesicht der perennierenden Animositäten und Konflikte zwischen den Völkern, Nationen und Rassen, daß es in Wahrheit keine Volker, Nationen und Rassen gebe, sondern nur interessengeleitete Fiktionen und ideologische Konstruktionen dieser seltsamen Schein-Gebilde.

Die Meisterdenker der unüberschaubaren geschlechtlichen Vielfalt behaupten, die Bipolarität des männlichen und weiblichen Geschlechts sei eine interessengeleitete Fiktion und ideologische Konstruktion des Patriarchats; doch spricht der Invertierte von seinem Freund als von „seinem Mann“, indes nicht umgekehrt dieser von jenem als von „seiner Frau“, während er sich doch mit der Absicht trägt, mit ihm den Bund der Ehe, einer gänzlich und heillos patriarchalisch-monogam geprägten Institution, einzugehen.

Mit den natürlichen Geschlechtern verhält es sich wie mit den natürlichen Zahlen; ohne diese kann keine höhere Mathematik generiert werden, ohne jene keine Nachkommenschaft und Zukunft der Gemeinschaft.

Nicht die kalten Misanthropen und Pessimisten oder die glücklichen und also stillen Denker, die im Verborgenen leben, sondern die leidenschaftlich erregten Meisterdenker einer neuen emanzipatorischen Moral, die Tugend-, Feuer- und Schwefel-Prediger auf den Kathedern und Tribünen à la Marx, Lenin, Lukács et alteri, bereiten mit den scheinbar hehrsten und edelsten Absichten die großen Massenverbrechen und Genozide vor oder führen sie guten Gewissens selber herbei.

Behauptungen von zeitgeistakkreditierten Meisterdenkern, und seien sie noch so absurd und verrückt, werden gegen Kritik mit dem Hinweis darauf abgedichtet, die Kritiker seien aufgrund ihrer Herkunft, sozialen Position oder elitären Bildung und Haltung per se diskreditiert; so kann ein weißer Gelehrter und Professor nicht die natürliche Gauß-Verteilung von intellektuellen Begabungen unter den Individuen, Geschlechtern und Ethnien in detaillierten genetisch und kulturhistorisch fundierten Dokumenten aufweisen, geschweige denn daß der alte Dozent eine Analogie zwischen der Zersetzung und dem Absterben heimischer Biotope durch invasive Arten und der Aushöhlung und dem schließlichen Untergang lokaler Kulturen aufgrund der Invasion von Angehörigen fremder Völker zu bilden wagen könnte, ohne gleich nach dem Tag der Veröffentlichung oder der Kundgabe seiner Befunde seinen Hut an den Nagel hängen zu müssen, während ein sogenannter Angehöriger der People of Color unter dem Beifall der weißen alten Meisterdenker des Postkolonialismus öffentlich von der aufgrund historischer Schuld verdienten Auslöschung der weißen Rasse schwadronieren darf.

Es scheint nur Grade der Gewißheit zu geben; so können wir nicht redlich darüber handeln, wie das Wetter oder gar das Klima in hundert Jahren aussieht, ob und wo es im 3. Jahrtausend noch Künstler oder Dichter gibt, und trotz der Gewißheit des Todes können wir im Extremfall höchstens seinen ungefähren Zeitpunkt prognostizieren; selbst ob der Selbstmörder die fatale Tat begeht, kann er nicht wissen, denn in dem Falle ist er bereits tot. Die Meisterdenker aber nehmen die Legitimität, den überfließenden Krug ihrer Pseudo-Wahrheit den dürstenden Massen zu reichen, aus dem Anspruch auf ein vorgeblich absolutes Wissen, das sie aus den geheimen, aber schlammigen Quellen ihrer Inspiration schöpfen oder gar wie Hegel selbst zu verkörpern vom Weltgeist auserkoren wurden.

Eitelkeit, Selbstüberhöhung, Ruhmsucht – dies ist der vergiftete Brunnen, aus dem die Meisterdenker mit einer Schale aus Talmi-Gold den schäumenden Trank ihres dialektischen Raunens und ihrer enigmatischen Diktion schöpfen.

Je unverständlicher, rätselhafter, metaphorisch umrankter und idiomatisch getrübter der Ausdruck, je absurder, widersinniger und verrückter die Behauptung, umso ekstatischer und ergebener die Aufmerksamkeit eines Publikums, das sich zur Erholung von den Widrigkeiten des Alltags gern in seichte, leicht faulig nach Exotik oder säuerlich nach deutschem Angstschweiß duftende Abgründe locken oder bis die Sinne schwinden vor den Kopf stoßen läßt.

In den Augen des Common Sense und Alltagsverstands ist die Wahrheit trivial, etwas, was wie Brosamen vom Tisch des gemeinsamen Mahles oder wie Späne von der Werkbank des Schreiners fällt; denn DIE Wahrheit des Lebens, der Geschichte, der Sprache, der Gesellschaft und aller anderen gefeierten Allgemeinheiten existiert nicht, nur die Tatsache, ob wir über das gestrig Erlebte unserem Freund gegenüber die Wahrheit gesagt oder uns an das weiter zurückliegende Begebnis wirklich erinnert haben; oder ob wir in einem Falle mit Absicht die Unwahrheit gesagt und also unseren Freund angelogen haben, um ihn nicht mit der Wahrheit unserer Untreue zu konfrontieren; und ob wir uns im anderen Falle getäuscht und geirrt haben, weil das Erinnerungsbild sich mit einem anderen von einem ähnlichen Ereignis überlagert hat, oder ob wir ein Dokument oder einen unabhängigen Zeugen auftreiben können, mittels derer sich die Echtheit unserer Erinnerung bestätigen läßt.

In den Augen der Frommen, der Priester und Ministranten beim Kult der Meisterdenker aber ist Wahrheit ein vom Meister selbst gestiftetes Idol und eine von seinen Händen geweihte Monstranz, die ihnen nach dem Tode Gottes in das Dunkel der Ungewissheit und Endlichkeit scheinen soll; daher die Ranküne wider jenen, der es wagt, das Unding mit dem geliehenen Charisma vom Altar zu stoßen.

 

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