Lumen naturale
Allem Anschein nach ist unser Leben kein Abbild der reinen Vernunft, sondern eine höchst gemischte Angelegenheit, in der uns die Verfolgung der Lebensinteressen nur ab und an eine Verschnaufpause gönnt, um sich etwa fragen zu können: „Wäre es nicht vernünftiger, das Rauchen aufzugeben, statt meine Lebenszeit täglich mutwillig zu verkürzen?“
Wir unterscheiden demnach das Interesse des Lebens und das Interesse der Vernunft, die vielleicht keine Liebesheirat aneinander bindet, aber immerhin in einer gemeinsamen Behausung miteinander klarkommen müssen. Wir kennen die Adresse dieser manchmal aufgeräumten, oft unaufgeräumten Wohnung: die Sprache.
Das Interesse des Lebens ist es zu leben, das Interesse der Vernunft, dem Leben Wege aufzuzeigen oder Hinweise zu geben, wie es länger, besser, sinnvoller leben könnte.
Die Vernunft bedient sich, um es im Bild zu sagen, der Sprache, um dem Leben auf die Sprünge zu helfen. Wenn das Kind der vorsprachlichen Kommunikation mit der Mutter, die ihm die Brust reicht, sobald es schreit, entwachsen ist, wird es sagen können: „Hunger!“ Das Menschenwesen, das nicht gelernt hat, seine Lebensinteressen mitzuteilen, um sie befriedigen zu können, wirkt auf uns wie eine vernunftlose Kreatur.
Wir sollten besser sagen, daß es vernünftiger für das Kind ist, „Hunger!“ zu rufen als zu schweigen, denn was im uneingeschränkten oder absoluten Sinne vernünftig ist, wissen wir nicht. Wenn es im absoluten Sinne vernünftig wäre, zu leben oder weiterzuleben oder länger zu leben, wäre die oben genannte Frage, ob es nicht vernünftiger sei, mit dem Rauchen aufzuhören, keine wirkliche Frage, denn die Direktive, sofort damit aufzuhören, wäre das Vernünftigste.
Wenn uns ein Schriftsteller erklärt, und das hat nicht nur einer in glaubwürdiger Weise getan, er müsse durch kettenhaftes Entzünden von Zigaretten dafür sorgen, daß sein Hirn qualme, ansonsten versiege der Strom seiner Einfälle, und wenn der Strom seiner Einfälle versiegt und er nicht mehr schreiben kann, verliere sein Leben den wichtigsten Sinn, müssen wir dann nicht zugestehen, daß es für ihn vernünftiger ist, weiter zu rauchen, auch wenn er damit riskiert, kürzer zu leben?
Sollen wir, wenn sich herausstellt, daß es keine absoluten Maßstäbe oder einhelligen Regeln für die Anwendung der Begriffe „Vernunft“ und „vernünftig“ zu geben scheint, diese Begriffe nicht einfach aus unserem Vokabular streichen? Aber sollen wir nicht mehr sagen können: „Paß auf, die Bretter passen nicht in den Kofferraum“ oder: „Zieh den Kopf ein, bei deiner Länge wirst du dich sonst am Türeingang stoßen!“, nur weil wir keine absoluten Maßstäbe für Größe und Länge haben?
Es scheint vernünftiger zu sein, ein Versprechen einzuhalten oder zu erfüllen als es zu brechen, denn wenn wir das gegebene Wort nicht halten, riskieren wir die Sanktionen dessen, dem wir es gegeben haben, oder den Argwohn und die Verachtung unserer Umgebung, die von unserem Versagen Wind bekommt. Doch wir können nicht wie die Rigoristen der Vernunft sagen, es sei unter allen Umständen geboten, ein gegebenes Versprechen zu erfüllen, koste es, was es wolle. Denn wenn jemand das Versprechen, eine geliehene Geldsumme zum vereinbarten Termin zurückzuzahlen, nicht einhält, weil er das Geld dringend für den eigenen Lebensunterhalt oder den seiner Nächsten braucht, ist es vernünftiger, das Versprechen nicht zu erfüllen.
Vernunft und Unvernunft zeigen sich darin, bestimmte Aussagen oder Entscheidungen eher zu akzeptieren als ihre Negationen. Es ist vernünftiger, die Steuer vor Fälligkeit zu zahlen als nicht zu zahlen, um sich die Mahngebühren oder schlimmeres zu ersparen. Aber wem die Idee in den Kopf gestiegen ist, überhaupt keine Steuern mehr zu zahlen und als Rebell oder Anarchist zu leben, dem kann die Rede von dieser Vernunft nicht mehr imponieren. Doch um seine radikale Position sich und anderen klarzumachen, müßte er zumindest das Argument zulassen, daß jene unvernünftiger handeln, die ihr Dasein als lammfromme Staatssklaven weiterfristen. Wenn er auf solche kleinen Dosen des Vernunftgebrauchs gänzlich Verzicht täte, wüßte er nicht anzugeben, weshalb es ihm geraten scheint, die Aussage, als Anarchist zu leben sei die bessere Alternative, der gegenteiligen Aussage vorzuziehen. Selbst der Anarchist kann auf einen minimalen Gebrauch der Vernunft nicht verzichten, wenn er seine Entscheidung, so und nicht anders zu leben, sich selbst und anderen plausibel machen will.
Wir bemerken, daß wir die etwas pathetische und aufgedonnerte Redeweise von der Vernunft leicht durch die nüchterne und alltagstaugliche Redeweise von der Fähigkeit, bestimmte Aussagen und Entscheidungen vor anderen oder ihrem Gegenteil nach Gründen oder Plausibilitäten vorzuziehen oder zu präferieren, ohne großen Verlust an Prägnanz und Bedeutsamkeit ersetzen können.
Wenn wir uns für die Wahl eines Studiums oder eines Berufs entschieden haben, haben wir uns gegen die Wahl aller anderen möglichen Studienfächer und Berufe entschieden. Das gibt uns den wichtigen Hinweis darauf, daß begründete oder plausible Entscheidungen mehr oder weniger teuer sind oder neben dem Gewinn, den wir aus ihnen zu ziehen erhoffen, Kosten und Verluste nach sich ziehen. Deshalb ist die Fähigkeit, Präferenzen zu setzen, von mehr oder weniger hoher Relevanz. Wer sich für ein exotisches Fach wie Altgriechisch oder Byzantinistik entscheidet, muß darauf verzichten, aufgrund eines Studiums von Fächern wie BWL oder Jura wohlhabend werden zu können, kann als plausiblen Grund seiner Wahl aber die Befriedigung seiner geistigen Interessen nennen.
Wir bemerken, daß Vernunft keine originären Inhalte vermittelt, sondern ein formales Vermögen darstellt, nämlich die gegebenen Lebensinhalte zu sondieren und gemäß ihrer Relevanz und Bedeutsamkeit für unsere Lebenssituation und Lebenswahl zu gewichten. Die Lebensinhalte selbst stehen uns nicht zur Wahl und freien Verfügung, denn sie sind uns durch unser biologisches und soziales Dasein gegeben. Wir können nur mittels Erwägung plausibler Annahmen und Gründe gewisse Inhalte anderen voran- oder hintanstellen, manche ganz in den Schatten stellen oder ausschalten und dafür andere ins helle Licht unseres Eigensinns tauchen.
Wir können auch auf den Nimbus der Universalität der Vernunft verzichten, ohne unseren Vernunftgebrauch deshalb in den Morast des Relativismus ziehen zu müssen. Denn unsere Gründe wohnen gleichsam auf Inseln mit unterschiedlicher Fauna und Flora, Inseln, die manchmal auf Sichtweite sind, manchmal nicht einmal von einem regelmäßigen Schiffsverkehr miteinander in Austausch stehen. Deshalb müssen wir plausible Gründe von einem Lebensbereich nicht zwingend auf den Rest ausdehnen. Warum solltest du die Gründe, die du erwägst, eher Byzantinistik als Jura zu studieren, in Relation setzen zu den Gründen, die du erwägst, wenn du dich fragst, ob du dich nicht besser von dieser charakterlich problematischen Frau trennen solltest? Es sei denn deine Freundin ist gleichzeitig die Tochter des Direktors des Instituts für Byzantinistik, wodurch sich ein Beziehungsdrama mit ihr leicht nachteilig auf deinen Studienerfolg auswirken könnte. Andererseits solltest du lieber BWL oder Jura studieren, wenn du an der Beziehung mit deiner Freundin festhalten willst, die lieber bei Dior und Gucci als bei C&A einkauft. Es sei denn deine byzantinischen Ikonen überstrahlen in deinen Augen die Attraktivität dieser Frau.
Andererseits gleichen sich die formalen Verfahren, die du bei der Entscheidung für ein bestimmtes Studienfach oder die Trennung von deiner Freundin anwendest, wie ein Ei dem anderen. In beiden Fällen gilt es abzuwägen, ob die Nachteile der Entscheidung von den zu erwartenden Vorteilen übertroffen werden. Aber diese Gleichförmigkeit der Anwendung unserer Fähigkeit, mittels Abwägung von Gründen zu plausiblen Entscheidungen zu kommen, erscheint uns trivial und den Nimbus großer Sprüche großer Philosophen über die Universalität der Vernunft oder darüber, daß alles in der Welt vernünftig zugehe, nicht zu verdienen.
Die Vernunft ist kein Derivat und keine ausschließliche Funktion der Lebensinteressen, auch wenn sie aus ihnen hervorgewachsen ist. Die Funktion der Vernunft ergibt sich aus der Leistung der Sprache, unsere Lebensinteressen in Aussagen artikulieren und darstellen zu können, die wahr oder falsch, begründet oder unbegründet, gut oder schlecht begründet sind. Sich zu fragen, bevor man heillos drauflosstürzt, wie lang eine Wegstrecke wohl sein mag und ob man Pausen und Übernachtungen einplanen muß, an deren Ende einen Belohnungen wie das Lächeln eines Freunds oder der Kuß der Geliebten erwarten, ist eine vernünftige Frage, und Karten oder Navigationsverfahren anzuwenden, mittels derer man die Streckenlänge und den benötigten Kraft- und Zeitaufwand ermitteln und objektivieren kann, eine vernünftige Methode, die einen davor bewahrt, sich zu verheben und zu überschätzen. Wenn der solchermaßen ermittelte Zeitaufwand unserer wunschgeborenen Einschätzung Ellen und Stunden vorauseilt, ahnen wir, was gute Gründe und Plausibilitäten für unsere Entscheidungsverfahren wert sein können.
Die Funktion der Vernunft oder die Fähigkeit, aus Gründen oder besser noch aus wohlerwogenen Gründen zu handeln, erwächst demnach aus dem rationalen Druck, den der wahrheitsfähige Teil unserer Sprache auf die Gestaltung und Ausrichtung oder Modellierung unserer Lebensinteressen auszuüben vermag.
Wenn die Sonne oder der strahlende Nimbus der metaphysischen Vernunft untergegangen ist, sind wir nicht dazu verdammt, mit Schatten zu boxen. Vielmehr ist uns in der sprachlichen Vernunft ein lumen naturale mitgegeben, vielleicht eine ärmliche Funzel im Vergleich zu jener strahlenden Sonne, aber immerhin sehen wir damit mehr, als was unmittelbar vor unseren Augen liegt.
Dekonstruktivisten oder Nihilisten, deren eitles oder perverses Vergnügen darin besteht, nach dem Untergang der Sonne Platons sich und uns auch das kreatürliche Licht des lumen naturale auszublasen, führen freilich rhetorisch brillante Wendungen und Windungen, Überschläge und Salti mortali auf, die uns aber nicht beeindrucken können, weil ja ihrer Voraussetzung gemäß sowohl die Akrobaten als auch die Zuschauer blind sind. Wie sollen wir auch die Aussagen von Leuten verstehen wollen und können, die in einer gleichsam masochistischen Ekstase von sich behaupten, sie verstünden sich selbst nicht? Oder die Aussagen von Leuten, die behaupten, was sie sagen, entbehre jeden Grunds, weil das Ansinnen, Gründe finden und aufweisen zu wollen, eine Wahnidee infolge des Verzehrs der vergifteten Frucht vom Baum der Erkenntnis und Wahrheit sei?
Die Aufforderung, Gründe für Aussagen und Behauptungen anzugeben, ist keine polizeiliche Maßnahme einer das Leben würgenden Schlange namens Vernunft, sondern ein mildes Vademecum auf dem Lebensweg, dargereicht von einem wohlmeinenden Therapeuten oder Seelsorger, der einen vor den Fallgruben irrationaler oder schädlicher oder gar tödlicher Entscheidungen bewahren kann.
Die Annahme, die metaphysische Vernunft sei ein Kuckuckskind der christlichen Theologie, ist ein Mißverständnis oder ein böswilliges Vorurteil. Die christlichen Tugenden sind Glaube, Hoffnung und Liebe – Liebe aber ist höher denn alle Vernunft, nämlich die Zustimmung des Willens zur Existenz des Geliebten, die sich von der Einsicht in seine Kontingenz und ihre eigene Zufälligkeit nicht einschüchtern läßt.
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