Verlorener Knabe oder Pubertätsgejammer
Kleine deutsche Stilübungen VIII
… windschief stehend, vor dem Grab der Großmutter, bei den Eltern, die nicht wissen, was anfangen mit dem Kerl – ihn so lange ohrfeigen, bis er gerade steht, ihn windelweich schlagen, auf dass er nicht mehr gerade stehen kann? – verlegen vor dem Kameraauge – wo die affenlangen, klammen Hände verstecken? – verstörten Blickes, ratlos, ob er nun beschämt vor sich hinstarren, ob scheinbar ungerührt schräg in die Ferne stieren solle – eingekleidet noch von der Mutter in Senioren-Strickjacken und viel zu engen Hosen, der Mutter, die in ihren großgepunkteten Kleidern und Bausche-Hüten ihm einen Jahrmarktsbudenspiegel verzerrter Selbstverliebtheit vorhielt – den Tränen nah, unglücklich-glücklich, wenn die knospenharten, aufgequollenen Brüste der Nachbarstochter ihn im Gewühl der gestopfte vollen Straßenbahn bedrängten – aufgeklärt durch die gewalttätig-obszönen Witze seiner Ko-Ministranten, unter ihrer gottesdienstlichen Weibsgewandung fummelnd, und dem Schock bebrillter Lektüre im zerfledderten Lexikon des elterlichen Lesezirkels, wonach Virilität sich in der Dichte des Blutandranges in mystischen Schwellkörpern bemesse – angeekelt von der Wahrheit des Todes, die ihm im vollen Blecheimer mit den Blutkloaken der im Sterben liegenden, röchelnden Großmutter entgegenstank – heimgesucht von der Gabe eines durchdringenden, nadelspitzen Verstands, der ihm den Vater alsbald entfremdete, als dieser ihn im Schach nicht mehr besiegen konnte, der ihm die Schmach der Überlegenheit über seine Mitschüler einhandelte, die sich mit zotigen Kritzeleien in seinem Schulheft rächten – mitleidig belächelt von der schönen Nachbarstochter, die auf fragilen Stelzen zur Tanzschule balancierte, nachdem er ihr im Diskant des Stimmbruchs Nachhilfe in Latein erteilt hatte – warʼs nicht die ars amatoria, die sie tückisch aufgetischt hatte, so dass am Ende nicht er sie, sondern sie ihn mit spitzem Munde korrigierte? – verkrampft im Hirnzwang, alle und noch die unscheinbarsten, verborgensten Herzensregungen unausgesetzt, unmittelbar in den Kokon einer verflixt exquisiten Wendung zu spinnen, jeden noch so laschen Impuls in der Falle gesuchter Vergleiche zappeln zu lassen, bis er, ein toter, stinkender Fisch, sich nicht mehr rührte – bemüht in hilfloser Arroganz, die nackten Tatsachen des Lebens in angelesenen Begriffsfetzen ängstlich, doch vergebens zu hüllen, Tatsachen, die ihn im Schrei des pavor nocturnus einzuholen pflegten – nur manchmal einen Augenblick, einen Atemzug, vergessenstief, geblendet von Glühwürmchen eines freien dichterischen Worts, die im windigen Garten der Schlaflosigkeit unter Zweigen dunklen Webens auf- und niederschwirrten, als wären tausend Augen zu erschauen, zu küssen ihn geneigt …