Unerweckte Keime
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir stehen und gehen leichten Fußes auf Treibsand.
Manche, die Hohen, Edlen, Schönen, vermögen im Taumel zu tanzen, im Fallen zu lächeln, im Sturz noch zu danken.
Erst ist es ein Brausen, was den Geist erregt, dann das Morendo eines dunkel-süßen Geigentons.
So können wir den ästhetischen Geschmack bilden, auch wenn wir nicht zu definieren wüßten, was dies ist, Geschmack; wohl aber merken, wer ihn hat und wer nicht.
Der Geist, in dem einer etwas sagt, ist nicht das Gesagte – ja, scheint ihm bisweilen zu widersprechen.
Die modisch-schicken Gelehrten, die uns die Bücher der Genesis gern als blasses Abziehbild der mesopotamischen Mythen vorführen, verstehen den Geist nicht, in dem sie geschrieben sind. – Der Geist, der sich darin manifestiert, daß Gottes Wort das Licht ins Dasein ruft.
Wir mögen diesem und jenem recht geben, doch seine uns willkommenen Meinungen oder überzeugenden Argumente fließen aus einem geistigen Quell, der uns fade schmeckt – oder sauer.
Der große Dichter verwendet die poetische Form intuitiv.
Gewiß hat der Schüler Hölderlin die poetischen Formen der antiken Oden- und Hymnenstrophen auf den Klosterschulen von Denkendorf und Maulbronn anhand der Lektüre von Alkaios, Pindar und Horaz gepaukt, doch der reife Dichter verwendet sie, ohne mühsam die Metren an den Fingern abzuzählen.
Wir wissen, was das ist, ein Satz; und auch der Dummkopf bedient sich seiner grammatischen Struktur. Doch es brauchte Jahrtausende, bis es Gottlob Frege gelang, seine logische Form zu dechiffrieren.
Wir glauben dem Dichter, der bekennt, daß er sein Gedicht nicht zur Gänze versteht.
Der Bericht des Propheten, ein Engel habe ihm glühende Kohle auf die Zunge gelegt, macht uns seinem Wort gewogener als der akademische Nachweis des Theologen seiner Deutung.
Denken, am Viel-Wissen erstickt.
Das dichterische Wort, das verführt, entstammt der unwillkürlichen Anmut des Dichters, der um ihre erotische Ausstrahlung nicht weiß.
Und sprichst du mit dir selbst, kann – immerhin – ja keine Türe knallen, daß einer wütend geht, der andre aber verdutzt oder vergrämt ins Schweigen sinkt.
Man selbst zu sein ist keine Form des Wissens.
Nicht einmal der Debile, der den eigenen Namen vergessen hat, hört auf, er selbst zu sein.
Man kann die Verwendung des eigenen Namens und des Fürwortes „ich“ erlernen, nicht aber, man selbst zu sein.
Der Delinquent kann das objektive Urteil des Richters, diese und jene strafwürdige Tat begangen zu haben, sich zu eigen machen, ohne sich doch schuldig zu fühlen – wenn er sich beispielsweise mittels der sophistischen Scheinargumente seines Anwaltes darauf beruft, die Tat sei das zwar bedauerliche, aber unausweichliche Ergebnis seiner schrecklichen Kindheit oder welch einer traumatischen Erfahrung auch immer gewesen.
Wie der Blinde mit dem Stock tasten wir mit dem Fühlorgan der Intuition durch das Dickicht der Sprache.
Die Satzform ist wie eine Leiter, die am Boden liegt; erst wenn wir sie erfüllen, hebt sie uns ein wenig – und manchmal können wir über die Mauer sehen.
Wir denken, der Satz sei tot, wenn wir ihn nicht verstehen, wir müßten, daß er lebe, die Augen gegen uns aufschlage, ihn mit unserm Geist behauchen.
Wahrheit und Falschheit lassen keine Steigerung zu; die Wahrheit der Tautologie, daß es regnet, wenn es regnet, ist schlicht trivial.
Absolute Differenzen lassen keine Steigerung, keine Vergleiche zu. Leben und Tod, Wahrheit und Falschheit, ich und du.
Wenn die Wahrheit eines Satzes ein Faktum beschreibt, kann der Satz selbst kein Faktum darstellen, das wiederum von einem höher geordneten Satz auf der Metaebene beschrieben werden könnte.
Wahrheit und Falschheit degenerieren in diesem Falle zu Scheinobjekten in einer Scheinontologie, zu der sich der große Frege wohl hat verleiten lassen.
Wie Wahrheit und Falschheit ist auch, was wir mit „ich“ meinen, kein Objekt, wie es der Eigenname der Person erfaßt, über dir wir gesprächsweise reden oder die wir mittels objektiver Kriterien wie der DNA identifizieren. Wenn wir Peter heißen und kein Kleinkind mehr sind und sagen: „Peter hat Zahnschmerzen“, sagen wir nicht dasselbe, wie wenn wir sagen: „Ich habe Zahnschmerzen.“
Die geistige Atmosphäre, die einer um sich verbreitet, ist da, sie läßt sich auf Dauer nicht trotzig oder schamhaft verbergen, wie ja auch Schweißgeruch endlich die dünne Hülle des Parfums durchbricht.
Forcierte Allegorien gelangen an die Grenze des Sagbaren; man kann wohl vom Theater der Welt oder vom Leben als Traum reden, doch nicht weiter fragen, wer hier noch Regie führt oder als welche Person sich der Erwachte verstünde.
Das Phänomen ist eine ursprüngliche Totalität dessen, was erscheint, und dessen, dem es erscheint. – Wir verwenden den Ausdruck „heiter“ in analogem Sinne, wenn wir vom heiteren Wetter und von der heiteren Laune sprechen, die es uns erweckt.
Nur wer mit dem Zeitgeist gebrochen hat, ist wach.
Plötzlich schlägt das Wetter um. Eben noch heiterer Laune und in angeregter Unterhaltung, verfinstert sich seine Miene und er verfällt in ein düsteres Schweigen.
Esperanto oder die weltumspannende Sprache der Hoffnungslosen: das anonyme, staubige Grün, das aus dem Asphalt der Hinterhöfe in Berlin und Chicago sprießt.
Angesichts der glänzenden Larven, die sich heute auf ihn berufen, um den Untergang des Reiches zu begeifern, hat jener sich umsonst geopfert, dessen letzte Worte im Kugelhagel das geheiligte Deutschland beschworen.
Hat man den genialen Keim in dem bläßlichen Knaben erfühlt, müßte man ihn heute von allen Gymnasien und Hochschulen fernhalten, auf daß die Hoffnung auf seine Erweckung und sein Erblühen nicht im Morast der Scheinbildung ersticke.
Wer tausende Jahre höfischer Kulturen im Umkreis aristokratischer und monarchischer Herrschaft überblickt, ist davor gefeit, vor dem Pöbelgeschmack der Massendemokratien in die Knie zu gehen.
Das Genie erkennt man an der dünnen, eisigen Luft, die um den Gipfel seiner wesentlichen Einsamkeit weht.
Der einsame Bewohner des Elfenbeinturms ist immun gegen die Bazillen des Zeitgeistes, die allenthalben die Fieberanfälle und hysterischen Krämpfe seiner falschen Propheten hervorrufen.
Was geschieht ihm, der die großen Illusionen, aus eigener Kraft das jenseitige Ufer erreichen zu können oder von Gottes gnädigem Strom aus der Wüste der Salzflut ans Ufer seliger Inseln getragen zu werden, wie einen verschimmelten Ballast über Bord geworfen hat? Leichter geworden, schwankt unter herrischen, dämonischen Wogen sein Kahn. Er aber läßt auch die Ruder fahren und streckt sich aus, den tieferen, grenzenloseren Himmel zu schauen, aus dem Gestirne noch im Erblassen Sternsagen alter Völker dem Sinnenden ins Gedächtnis rufen.
Er ist immer diesen Weg gegangen und an der Weggabelung nach rechts abgebogen; doch heute geht er geradeaus weiter. – „Die Linien des Lebens sind verschieden, wie Wege sind.“ – Wir können Entscheidungen nicht aus allgemeinen Gesetzen oder einem Kanon des Wissens ableiten.
Das Irrationale, das wir nur intuitiv erfassen können, ist eben jene Instanz, die von sich in der ersten Person spricht.
Die Schneeflocke schmilzt im ersten Anhauch des Frühlings; der Hypersensitive wird von einem Blick, einem Wort, einem Schatten aufs tiefste gekränkt und zieht sich in die Bastion des Schweigens oder eines masochistischen Dünkels zurück.
Manchmal rotten sich die vom Leben Gekränkten zusammen und gründen Sekten wie die Gnostiker, die Chiliasten, die Anarchisten. – Einige werden Dichter und ihre Verse verströmen den süßlich-fauligen Duft wurmstichiger Früchte.
Die übernationale staatliche Klammer zerbricht, die unter ihr in Zwangsehe zusammengeschweißten Völker und Ethnien schlagen sich die Köpfe ein und bereinigen die von ihnen mit Blut, Schweiß und Tränen gedüngten Fluren, bis endlich und bis auf weiteres die von nationalstaatlich geprägten Ordnungen herbeigeführte Ruhe eintritt. So nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, so nach der Zerschlagung der Donaumonarchie, so nach der Auflösung Jugoslawiens.
Wer aus entscheidender Warte es unternimmt, Angehörige einander fremder, gar feindseliger Rassen und Kulturen zusammenzupferchen, müßte für die unseligen Folgen wie Vergewaltigungen, Tötungen, Aufruhr eigentlich zur Verantwortung gezogen werden; aber die Entscheider ziehen sich kalten Blutes auf ihre gesicherten Wohnsitze zurück und berufen sich auf die angeblich hohen, in Wahrheit hohlen Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit.
Angesichts der natürlichen Ungleichheit und der angeborenen Ressentiments zwischen Angehörigen verschiedener Rassen ist Apartheid nicht das Problem, sondern die Lösung.
Die Trennung der Lebensbezirke und Erziehungswege, die Apartheit der Geschlechter nach dem Modell alter Kulturen, mag sich bisweilen der Bewohner des Elfenbeinturms angesichts ihrer von Gleichheitsideologen angepeitschten Spannungen herbeiphantasieren.
In seiner Ars poetica (202–219) gibt Horaz eine bemerkenswerte Skizze vom Phänomen der Dekadenz anhand der musikalischen Untermalung der Tragödie; kaum daß sich die Macht Roms durch militärische Siege ausdehnt, werden auch die weniger Gebildeten, ja die Dörfler, vor die Orchestra gelockt. Ihnen muß das üppiger wuchernde und süßer schmelzende Flötenspiel Laune machen; seine Maße und Melodien werden gegenüber der ursprünglichen Reinheit, Einfachheit und Strenge, die einem frugal lebenden, bescheidenen und sittsamen Publikum (frugi castusque verecundusque) entsprachen, zu sinnlicher Überreizung gelockert, zerfasert, aufgeschwollen. – Man vergleiche dies mit der Auseinandersetzung des enttäuschten und ernüchterten Nietzsche mit der von ihm als Dekadenzphänomen diskreditierten Musik Wagners.
Den Epigonen bleiben die ins Sublime gezüchteten Orchideen und sinnlich-übersinnlich duftenden Rosen im geschützten Garten der Muse; doch aus dem Dunst einer längst erloschenen Morgenröte ragen in erhabener Größe mit lichtdurchflossenen Kronen die einsam-freien Eichbäume auf den fernen Hügeln der Mnemosyne. „Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen/In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,/Der euch nährt’ und erzog, und der Erde, die euch geboren.“ Hölderlin, Die Eichbäume
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