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Über die Verpflichtung

27.08.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Verpflichtungen sind der Kitt, der die soziale Ordnung zusammenhält. Wenn er bröckelt, bricht auch diese allmählich in sich zusammen.

Verpflichtungen müssen, um ihre normative Rolle spielen zu können, straf- und sanktionsbewehrt sein.

Einer schaut zu Boden, wenn der ehemalige Freund an ihm vorbeigeht; er hat sein Versprechen, das ihm geliehene Gut wieder auszuhändigen, mutwillig gebrochen.

Der Vertragsunterzeichner weiß um die Kosten des Vertragsbruches; der Untreue um die Kosten des entdeckten Ehebruchs. Freilich, wem es nichts ausmacht, die Vertragssumme zu begleichen oder sein Gesicht zu verlieren, kann nur mit härteren Bandagen an die Waage des sozialen Gleichgewichts gebunden werden.

Blutsbande und ethnische Verwandtschaft sind Planken über dem schwankenden, morastigen Boden der sozialen Beziehungen. – Die Mutter muß es nicht lernen, wie sie das Kind versorgt und hütet. Der Familienvater sichert die Schwelle vor ungebetenen Zudringlichkeiten. Der Bruder eilt der kleinen Schwester zu Hilfe, die von Fremden belästigt wird.

Die jüdischen, polnischen, italienischen Zuwanderer scharen sich in der Metropole in eigenen Vierteln zusammen wie ehemals die weißen Siedler in ihren Wagenburgen.

Der fromme Jude wird die Einladung der Goijm zum Abendessen ausschlagen, denn die es zubereiten, wissen nicht um die Verpflichtungen, welche ihm die rituellen Vorschriften der mosaischen Speisegesetze auferlegen.

Je entfernter der rassische, ethnische, kulturelle Bezug, umso tiefer – und berechtigter – das Mißtrauen.

Die Muttersprache ist eine der sichersten Brücken über dem glucksenden Sumpf der sozialen Unsicherheit.

Das Straf- und Sanktionsregime, das soziale Verpflichtungen bewehrt, ist eine unmittelbare Folge der anthropologischen Tatsache, die Kant mit der berühmten Wendung andeutet, der Mensch sei aus krummem Holz geschnitzt.

Das Strafrecht ist die Legalisierung und formale Institutionalisierung des Sanktionsregimes, das mehr oder weniger unausgesprochen und informell die gegenseitigen Verpflichtungen einer sozialen Gruppe bewehrt.

Der rechtgläubige Moslem wird dem Rechts- und Strafregime der Ungläubigen entweder die Normen des Korans und der Scharia vorziehen oder zumindest mit einem gerüttelten Maß an Mißtrauen gegenüberstehen.

Die Sprache ist ein Ordnungssystem sui generis; sie erlegt den Sprachteilnehmern Verpflichtungen und normative Ansprüche auf, wie dies jedes soziale Ordnungssystem zu tun pflegt, desgleichen Sanktionen, wenn sie ihnen nicht gerecht werden oder entscheidend davon abweichen.

Die Sanktion, die sich dem Aphasiker auferlegt, besteht in der sozialen Isolierung.

Die Korrektheit und Disziplin in der Verwendung der sprachlichen Mittel ist eine Überlebensnotwendigkeit der sprachlich-kulturellen Gruppe.

Der ins Scheinwerferlicht der Zeitgeistforen stotternde Pseudo-Poet mag seine degenerierte Umwelt in dumpfe Erregung versetzen, die Nachwelt gedenkt seiner nicht.

Der dekadente Autor, der sich mutwillig oder tollwütig am Leib der Muttersprache durch Mißachtung ihrer Normen vergreift, wird den geistigen Inzest in Form der damnatio memoriae büßen.

Sokrates nennt die Törichten weise, um mittels Ironie zu enthüllen, in welchem Ausmaß die vorgeblich Weisen töricht sind; die geistigen Verführer, die das Gegenteil dessen meinen, was sie sagen, wollen nur verwirren oder Unruhe stiften.

Die Wahrheit zu leugnen mag auf der verwilderten Spielwiese der Akademien ein wenn auch befremdliches selbstverliebtes Gebaren sein, im Ernst des Lebens kann es gefährliche Folgen haben.

Etwas wahr zu nennen ist eine Form ontologischer Verpflichtung, nämlich für die Annahme des als existent Behaupteten einzustehen, sie zu belegen oder ihre Negation zu widerlegen.

Einmal sein Versprechen nicht zu halten, obwohl keine äußeren Hindernisse zur Entschuldigung aufgeboten werden können, mag noch auf das Konto von Schusseligkeit oder Vergeßlichkeit einzahlen; es mehrmals und immer wieder zu tun, kostet das Strafgeld sozialer Ächtung.

Bedeutungsblindheit ist eine Form geistiger Erkrankung, die den Betroffenen unfähig macht, die sprachlichen Verpflichtungen – Wahrheit, Klarheit, Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks – zu erfüllen. – Als würde man wie in einer Erzählung Kafkas in einem fremden Land aufwachen, dessen Bewohner eine unverständliche Sprache sprechen, die zu erlernen unmöglich oder verboten ist.

Man kann den vielfach mißbrauchten und geschändeten Begriff der Liebe nur restituieren, wenn man in ihm die unter dem Abfall einer entfesselten erotischen Glossolalie verborgenen Formen der Verpflichtung freilegt; angefangen von der instinktgebundenen mütterlichen und väterlichen Fürsorge bis zur genetisch verwurzelten und kulturell eingehegten Liebe zum Vaterland.

Das erloschene Charisma mancher Begriffe kann nur mittels ihrer Reinkarnation in unschuldigen, gleichsam kindlich-anmutigen, Körpern wieder zum Leuchten gebracht werden.

Der sudelnde, spuckende und furzende Gast wird nicht mehr eingeladen; freilich, japanische Männer schlürfen und prusten, wenn sie beim Abendessen ihren Reiswein in sich hineinschütten, daß es nicht zu sagen ist; aber sie sind ja unter sich.

Dagegen ist es kein Zeichen schlechter Manieren und einer verdreckten Kinderstube, wenn einer vor der Trauergemeinde obszöne Witze reißt, sondern ein Zeichen moralischer Verkommenheit oder einer Bedeutungsblindheit, die geistiger Erkrankung entspringt.

Wir sind nicht verpflichtet, vor dem Zeitgeist in die Knie zu gehen und etwa vor einer als Kunstwerk ausgestellten und medial gefeierten trüben Schmiererei in ehrfürchtiges Schweigen zu versinken.

Einen, der bei Alban Bergs Violinkonzert („Dem Andenken eines Engels“) obszön kichert, wird man kaum unter die feinsinnigen Musikästheten rechnen.

Die religiöse Offenbarung äußert sich in kultischen Formen, die zur Einhaltung ritueller Handlungen verpflichten.

Der Priester ist der charismatische Wächter und Hüter der Reinheit der kultischen Handlungen.

Das alte, vorkonziliare Missale Romanum, mit all seinen Vorschriften und Vorgaben für die eucharistische Feier im Verlauf des heiligen Jahres, ist die Essenz der Offenbarung der Heiligen Schrift.

Die sakrale Sprache erwächst aus der Rühmung der schöpferischen und erlösenden Taten Gottes an seinem auserwählten Volk und enthält die Verpflichtung, den Namen Gottes nicht zu entweihen.

Die Unterscheidung des Heiligen und Profanen errichtet die Schwelle, die ungeläutert oder niedrigen Sinnes nicht überschritten werden soll.

Die religiösen Vorschriften zu brechen oder zu verhöhnen, der üble Spaß der vom Geist Verlassenen, ist keine Form des Tabubruchs, sondern Sünde.

Wenn das Kind lernt, das heilige Buch nicht zu beschmutzen oder zu zerfleddern, wie man es meist ungestraft mit anderen Büchern machen kann, gelangt es unter den Abglanz der religiösen Offenbarung.

Das ehrfürchtig-gemessene Schreiten des Chors, wie wir es aus den lyrischen Partien der Tragödien des Sophokles kennen, findet ein fernes Echo in den Kantaten und Oratorien Bachs.

Die musische Offenbarung äußert sich in dichterischen Formen, die zur Einhaltung rhythmischer Gestaltungen und metaphorischer Umschreibungen verpflichten.

Das Kriterium normativer Ästhetik ist das dem Gemeinten Angemessene; so will Platon allzu ausschweifende und exotische Melodien und Rhythmen aus dem rühmenden Gesang ausscheiden; so Horaz auf die Tilgung von Vulgarismen aus dem hohen Stil der Ode verpflichten.

Der abgegriffenen Münze muß sich auch gehobene Prosa nicht schämen; verblaßte Metaphern und trübe Bilder aber verdunkeln selbst die schlichten Formen des Lieds.

Pindar weiß sich in seinen Epinikien wohl dem Rang seines Auftraggebers verpflichtet, aber mehr noch dem Geist seiner edleren Manen.

Walter von der Vogelweide erfüllt die Ansprüche der hohen und entzieht sich nicht einmal den geringeren Erwartungen der niederen Minne; doch in seinen Sprüchen erhebt er die Stimme bis an die Schwelle und den Thron des universalen Herrschers.

Hölderlins elegische Klage um Diotima weitet sich zum Preis künftiger Wiederkehr unter göttlich-festlichen Vorzeichen; in seinen Hymnen aber beschwört er eine kommende Gemeinschaft, die sich allererst bei der Rückkehr der Götter vollendet.

Die Pfeile, die heute auf die kümmerlichste, die letzte Wagenburg des abenteuerlichen Aufbruchs der weißen Siedler, die Klause und die Bücherwand des Dichters, hinter der er Zuflucht gesucht hat, abgeschnellt werden, sind giftig nicht vom Pflanzengift der Indianer, sondern vom Natterngift der eigenen Volksgenossen, den Parolen, Phrasen, Schlag- und Totschlagwörtern des Zeitgeistes, die den Geist lähmen und die Seele versklaven.

Der in den Wüsten der Städte dem Durst nach wahrer Schönheit keine Quelle zu finden vermag, dem lyrischen Dichter der Gegenwart, der sich nicht als von künstlicher Intelligenz geleiteter Ingenieur im Labor informativer und kommunikativer Rede versteht, bleibt nur die dichterische Sprache selbst, als die unter den pestilentiösen Ausdünstungen des Zeitgeistes hinwelkende Blume des Mundes, deren Wurzeln aus den halbverschütteten Brunnen der Tradition zu wässern und so Gott will für zukünftige Generationen lebendig zu erhalten er sich verpflichtet fühlt.

 

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