Über den Begriff des Sinns
Ein großes Ziel philosophischer Betrachtung wäre es, sich nicht nur mit dem semantischen Sinn von Aussagen zu begnügen, sondern den Sinnbegriff auf den Kontext spezifischer Lebenswelten zu erweitern, auch wenn er in der Wüste des Geistes unwirklich wie eine Fata Morgana flimmert.
Der Muskel kann sich strecken, dehnen oder verhärten, je nach den Impulsen, die ihm das Nervensystem zuleitet. – Doch wenn ich wahrnehme, wie mein Freund Hans mir winkt, gehe ich nicht davon aus, er tue dies nur aufgrund des Ursache-Folge-Schemas, wonach sein Hirn die motorischen Nervenfasern mit dem Impuls stimulierte, die Armmuskeln zu strecken, sondern aus dem Grund, weil er mich sah und erkannte.
Hans kann auch, statt mir zu winken, mir etwas zurufen; der Zuruf hat denselben Sinn wie die gestische Mitteilung.
Hansens Zuruf hat nicht den ontologischen und epistemischen Status eines akustischen Reizes; sonst würde ich sinngemäß auf ihn reagieren, wenn ich ihn gehört hätte, ohne ihn verstanden zu haben. Aber ohne Sinnverständnis würde ich nicht auf ihn reagieren, auch wenn ich den akustischen Reiz vernommen hätte.
Ich muß den physikalischen Laut entziffert haben, um ihn in die Welt der Bedeutsamkeit einzuschließen und zu integrieren, die meine, die unsere Welt ist.
Bei einem exotischen Stamm könnte Winken bedeuten: „Bleib mir vom Hals!“; so erkennen wir an der uns vertrauten Geste eine konventionelle Bedeutung, die der Konvention ähnelt, mit der wir dem Laut „fort“ die Bedeutung „weg“ zuordnen, während der Franzose dem Laut „forte“ die Bedeutung „stark“ (in der weiblichen Form) zuordnet; im Gegensatz zur natürlichen Bedeutung des Lächelns oder Weinens, die für Leute in Berlin und Paris den gleichen Sinn verkörpert.
Wir sagen, der Hund markiere sein Revier. Ist dies eine Metapher? Aber jene Stammeskrieger, die den Eindringling, der die Grenze zu ihrem Territorium überschreitet, verjagen, verhalten sich ähnlich wie der Hund, der den Rivalen verbellt.
Der Rabe beobachtet von seinem Ast aus, wie das Eichhörnchen Nüsse vergräbt; ist es außer Sichtweite, fliegt er zu dem Versteck und tut sich am Diebesgut gütlich. Ist ihn einen Dieb zu nennen eine Metapher?
Anders als das Eichhörnchen können wir den Dieb anzeigen und vor Gericht bringen, damit er seine gerechte Strafe bekommt. So müßten wir sagen, Begriffe wie „Dieb“, „Räuber“, „Mörder“ beziehen ihren Sinn aus einem konventionell institutionalisierten System des Rechts, der Justiz und Strafverfolgung, den wir nicht ohne weiteres auf Tiere übertragen können, weil sie ohne konventionelle Systeme dieser Art oder in einer zu unserer disparaten Lebenswelt leben.
Der Seeigel sieht nicht mit Augen, sondern mit über seine ganze Hautoberfläche verteilten lichtsensitiven Zellen; doch paradoxerweise reagiert er nicht auf Lichtreize, sondern auf ihren Entzug, wenn ein Schatten auf ihn fällt. Dann stellt er abwehrend seine Stacheln auf, denn sein Hauptfeind, der Seestern, könnte sich nähern. – Sollen wir sagen, der Seeigel sieht, auch wenn er keine Augen wie wir hat, auch wenn seine Sensorik nicht auf sichtbare Objekte, sondern auf Schatten reagiert, oder ist dies bloß eine Metapher?
Der Seeigel sieht den Seestern nicht in der Weise, wie es der Biologe tut; dagegen registriert er den Schatten, den sein Feind, der Seestern, wirft, als „Feindzeichen“, während der Wissenschaftler in ihm ein wertneutrales Objekt wissenschaftlicher Neugierde beobachtet und der touristische Strandgänger ein Objekt ästhetischen Wohlgefallens wahrnimmt.
Der physiologische Funktionskreis zwischen Muskeln und Nerven ist integriert in den „höherstufigen“ Funktionskreis zwischen Sensorik und Motorik, Sinneswahrnehmung (Sichtung eines Feindes, einer Beute) und zielgerichtete Bewegung (Flucht bzw. Greifen und Verschlingen). Der Kreislauf zwischen Sinneswahrnehmung und Bewegung ist abgeschlossen, wenn das „niederstufige“ vegetative System „übernimmt“ (Verdauung und Stoffwechsel) oder der Organismus zur Ruhe kommt (die Flucht gelingt).
Ist der Kreislauf zwischen Sensorik und Motorik unterbrochen, sagen wir von der mißlungenen Greifbewegung, sie habe ihren Sinn nicht erfüllt oder verfehlt. Wir weisen demnach nicht nur intentional ausgerichteten Gesten (Winken), sondern auch zielgerichteten animalischen Bewegungen (Greifen) einen Sinn zu.
Der paranoide Schizophrene sieht in bestimmten Passanten, die für uns emotional „ungetönt“ oder blaß bleiben, feindliche Objekte und verfolgt seine Verfolger, wenn er sich in die Enge getrieben oder herausgefordert fühlt, mit zielgerichteten Angriffsbewegungen. Diese Bewegungen haben den Sinn, den der Psychiater aus seinem Wahnsystem kohärent ableiten kann.
Die Äußerungen und Gesten des Psychotikers sind demnach in seiner Welt keineswegs sinnwidrig, sondern in unserer Welt wertneutraler Beobachtung (in der Welt der Passanten und des Psychiaters), wenn und insofern wir in den vom Kranken als feindlich identifizierten Objekten neutrale Gegenstände sehen.
In der Wahnwelt des Kranken sind die Opfer seines psychotischen Angriffs keine Opfer, sondern einer gerechten Strafe zugeführte Bösewichte; in der „Normalwelt“ des Psychiaters ist der Psychotiker kein Verbrecher, sondern das unschuldige Opfer seines Wahns; das gleiche gilt für den Untersuchungsrichter, der den mutmaßlichen Täter aufgrund des psychiatrischen Gutachtens als schuldunfähig erklärt.
Analog zum Schatten in der Welt des Seeigels können wir den fehlenden Reiz und die Negation in unserer Welt betrachten: Kommt der Freund nicht zu unserer Verabredung, sind wir mit Recht verärgert; aufgrund der bloßen Negation seiner Anwesenheit, seiner Abwesenheit, sind wir mißgestimmt. Und wir können mit Bestimmtheit sagen, daß wir uns geärgert hätten, wäre er nicht zu unserer Verabredung erschienen.
Übersetzen ist eine Weise, den Sinn einer Geste, einer Bewegung, einer Äußerung in einer korrespondierenden Geste, Bewegung und Äußerung zu bewahren. Wir können den Sinn der Geste des Winkens in die Geste des Zurufs übersetzen, den Sinn des freundlichen Lächelns in den Sinn der herzlichen Begrüßung, den Sinn der bejahenden Äußerung in den Sinn ihrer doppelten Verneinung.
Die Rettung oder die Bewahrung des Sinns in den verschiedenen Versionen seiner Übersetzung ist der logische Prüfstein unseres sinnvollen Tuns und Sprechens.
Der Sinn ist ein wesentlicher Begriff nur in Relation zu einem Organismus, einer vitalen Struktur, einer spezifischen Lebenswelt; der Schatten hat in der Welt des Seeigels den Sinn feindlicher Bedrohung, nicht in der Welt des beobachtenden Biologen; das Lächeln ist ein charakteristisches Element menschlicher Kommunikation; die biblische Schöpfungsgeschichte hat Sinn nur in einer spezifischen religiösen Lebenswelt.
Wenn wir den Sinnbegriff nicht auf rein sprachliche Systeme verengen, können wir unser Verstehen in dem Maße erweitern, in dem wir den Sinn der jeweiligen Bewegung und Äußerung im Kontext des korrelierenden Systems integrieren, worin sie ihre spezifische Leistung vollbringen. Das Sinn-Integral der Schattenwahrnehmung des Seeigels ist die ökologische Umwelt des Tieres; das Sinn-Integral des Lächelns ist die konventionell ritualisierte Welt menschlicher Kommunikation.
In exotischen Umwelten und technologischen Kontexten gelangen wir an die Grenzen der Anwendung des Sinnbegriffs; so wissen wir nicht zu sagen, ob wir den Begriff des Sehens bei der Schattenwahrnehmung des Seeigels sinnvoll verwenden, doch wissen wir, daß wir Begriffe der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens sinnwidrig auf die Funktionen von Computern und Robotern anwenden.
Die Maschine rechnet nicht in dem Sinne, wie wir rechnen, weil sie keine Zweifel über das Ergebnis anwandeln kann wie uns, wenn wir dadurch veranlaßt werden, die Gegenprobe zu machen. Die Maschine antwortet nicht auf unsere Fragen, wenn wir sie mit Daten füttern und einen Algorithmus zu ihrer Verarbeitung mitliefern, denn die Antwort, die sie uns in fehlerlosem Chinesisch gibt, weil wir sie mit den entsprechenden Daten (Wörterbuch) und dem entsprechenden Algorithmus (Grammatik) gefüttert haben (Turing-Test), versteht sie nicht, und sie lächelt nicht angesichts des Umstands, daß die gegebene Antwort ein Witz ist, der uns amüsieren sollte, und sie lacht sich nicht ins Fäustchen und ist nicht schadenfroh, weil wir ihn nicht verstehen.
Der Sinn der Gesten und Äußerungen des individuellen Lebens ist eine Ableitung seiner Funktion in der korrespondierenden Struktur und Ordnung der überindividuellen spezifischen Lebenswelt, in der er sich ausdrückt und erfüllt. Auf diese Weise regulieren und integrieren die Ordnung und das Curriculum der Schule den Sinn der Gesten und Äußerungen des Lehrers und der Schüler, die Ordnung der Familie und der Generationenfolge den Sinn der Gesten und Äußerungen der Eltern und Kinder, der Großeltern und Enkel, der Onkel und Tanten, der Neffen und Nichten, die Rechtsordnung und die kulturelle Überlieferung des eigenen Volkes den Sinn der Äußerungen, Handlungen und Entscheidungen des verantwortungsbewußten Staatsmannes, die Tradition der dichterischen Ausdrucksformen den Sinn der Äußerungen des Dichters, auch wenn sie jener neue Töne, neue Farben und Nuancen abgewinnen.
Ein ungrammatischer Satz ist sinnlos.
Eine Lebensäußerung und ein künstlerischer Ausdruck haben Sinn nur in dem Maße, wie sie sich einer höheren Ordnung unterwerfen und einfügen, auch und gerade, wenn sie eine zukünftige soziale oder ästhetische Ordnung antizipieren – man denke an die neue Lebensordnung der frühen christlichen Gemeinden oder an das Aufkommen der Polyphonie.
Die ungeschriebenen Grammatiken der menschlichen Lebensformen …
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