Über den Begriff der Emotion
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Peter befürchtet, daß seine Freundin (wieder einmal) zu spät zu ihrer Verabredung kommen wird.
Ich befürchte, daß meine Freundin (wieder einmal) zu spät zu unserer Verabredung kommen wird.
Die beiden Sätze haben verschiedene Wahrheitsbedingungen. Der deskriptive Satz gilt uns unter folgender Bedingung für wahr: Wir wissen, daß Peter mit seiner Freundin verabredet ist, und beobachten ihn dabei, wie er die Zeit des Wartens damit verbringt, unruhig auf und ab zu gehen, wie er immer wieder auf die Uhr blickt und in die Richtung schaut, aus der sie auftauchen muß; so werden wir leicht zu der Vermutung gelangen, welche Befürchtung Peter umtreibt.
Die Aussage in der ersten Person gilt uns unabhängig von einschlägigen Beobachtungen für wahr, falls wir den Sprecher für einen aufrichtigen Zeitgenossen ansehen.
Das, was Peter oder der Sprecher befürchtet (im Vokabular der klassischen analytischen Philosophie „intentionaler Gehalt“ der Emotion genannt), wird durch den Nebensatz ausgedrückt, nämlich, daß seine Freundin unpünktlich sein wird.
Ist die Emotion ein mentaler Zustand oder ein seelisches Ereignis, das sich im Innern der sie erfahrenden Person abspielt, sodaß wir nur durch ihren Bericht davon in Kenntnis gesetzt werden könnten? Nein, denn wir können die beiden Sätze als gleichwertig betrachten.
Die Annahme, seelische oder mentale Zustände wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Emotionen und Erinnerungen seien im Innern der sie erfahrenden Person gleichsam eingekapselt und nur durch Introspektion oder Intuition des Subjekts zugänglich, ist ein konstitutiver Bestandteil des cartesianischen Mythos. Doch der auf seine Freundin wartende Peter wird auf Nachfrage bestätigen, daß er in der Tat fürchte, seine Freundin komme zu spät; um diesen Satz zu bilden, muß er gelernt haben, seine Emotion zu benennen. Die Sprache, mit der er dies ausdrückt, kann er indes nicht, wie Wittgenstein klar erwiesen hat, als private Sprache erlernt haben.
Wir wissen, daß einer Schmerzen hat nicht nur aufgrund der Beobachtung seines Schmerzverhaltens, sondern auch dank seiner Äußerung, daß er Schmerzen habe, falls wir unter normalen Umständen keinen Anlaß haben, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln.
Wir können Emotionen wie Furcht, Traurigkeit und Ärger bis zu einem gewissen Grad oder auf eine gewisse Dauer verbergen; aber daraus folgt nicht, daß sie von Natur aus private Seelenzustände sind.
Scham können wir kaum verbergen, denn sie drückt sich beispielsweise darin aus, daß der Betroffene rot wird oder verlegen unter sich blickt. Freilich, allein aus der Tatsache, daß einer rot wird, können wir nicht schließen, daß er sich schämt; dazu müssen wir herausfinden, daß er sich aufgrund eines ihn beschämenden Fehltritts schämt oder weil eine Person in der Nähe ist, deren Gegenwart ihn verlegen macht.
All jene Emotionen sowie Stimmungen, zu deren Ausdruck es keiner sprachlichen Fähigkeiten bedarf, wie Angst, Zorn, Ekel, Kummer und Eifersucht sowie Ausgelassenheit, Aggressivität, Freude und Traurigkeit, verbinden uns mit unseren tierischen Verwandten und Ahnen. Sie haben einen körperlich-physiognomischen Ausdruck wie das Erbleichen oder Erröten, Zittern oder Erstarren, Frösteln oder Schwitzen, Naserümpfen oder Stirnrunzeln; sie beziehen sich auf ein Objekt wie die Furcht auf ein gefährliches wildes Tier, der Zorn auf einen Angreifer oder Beleidiger, der Ekel auf ein faules, stinkendes Gewebe, der Kummer auf den Entzug eines Objekts der Begierde und die Eifersucht auf die Bedrohung durch einen Nebenbuhler; zu guter Letzt liefern sie uns Motive oder Gründe, mittels angemessener Reaktionen und Handlungen wie Flucht, Ausweichen oder kluge Eingriffe und Manöver den Anlaß ihres Auftretens abzuschwächen oder zu beseitigen.
Von diesen elementaren Emotionen unterscheiden wir Gefühle und emotionale Einstellungen wie Hoffnung und Besorgnis, Liebe und Haß, Reue und Scham, Ehrgefühl und religiöse Scheu, deren Inhalt wir gewöhnlich nicht als einfaches Objekt aufzeigen und benennen können, sondern in der Form eines abhängigen Aussage-, Kausal- oder Konzessivsatzes erfassen. Die Katze fürchtet sich vor dem Hund, aber Peter fürchtet, daß ihn seine Freundin verlassen wird. Der Hund, der Herrchen die Treppe hinaufsteigen hört, wedelt mit dem Schwanz und freut sich auf ein Leckerli. Aber Hans hofft darauf, daß er das Examen besteht, um danach nach Italien reisen zu können. Die Katze zeigt ihre Zuneigung, wenn sie sich an ihren Mitbewohner anschmiegt und schnurrt. Aber Peter drückt seine Liebe zu seiner Freundin dadurch aus, daß er ihr Blumen schenkt, obwohl sie sich in letzter Zeit von ihm entfernt hat. Die Katze bezeigt ihre Abneigung, wenn sie den Nachbarshund anfaucht. Hans aber haßt seine ehemalige Freundin seit dem Tag, als sie ihn während seines Krankenhausaufenthaltes betrogen hat. Hansens Freundin hat ihren Fehltritt bereut, auch wenn sie keinen Weg zu ihm zurück fand.
Der treue Hund kann nicht befürchten, daß sein altes Herrchen bald stirbt; freilich wird er, wenn er gestorben ist, Zeichen von tiefer Traurigkeit zeigen. Aber die animalische Trauer ist von anderer Art als die Trauer des Angehörigen, der sie auch mittels konventioneller Gesten zum Ausdruck bringen kann (so trug man traditionell eine schwarze Krawatte oder eine schwarze Binde um den Ärmel), auch wenn das Gefühl der Traurigkeit einer inneren Leere oder Gelassenheit gewichen ist.
Die religiöse Scheu vor dem Numinosen hat ihren Ursprung vermutlich in der Scheu vor dem Leichnam; es ist ein charakteristischer Unterschied zwischen Mensch und Tier, daß Tiere ihre toten Verwandten oder Gruppenmitglieder nicht rituell bestatten, während der Totenkult singuläre humane Züge trägt. So gehören zu den wichtigsten Fundstätten der Archäologie nicht zufällig Gräber und Zeugnisse ritueller Bestattung wie Grabbeigaben und Totenspenden.
Antigone nimmt eher die von Kreon verhängte Todesstrafe auf sich, als ihrem Bruder die rituelle Bestattung zu verweigern. Für sie ist die Totenspende eine Form der Liebesbezeugung, die ein älteres ungeschriebenes Gesetz einfordert, das sie höher stellt als die kalte Staatsdoktrin, die den Ritus dem zum Feind erklärten Bruder verwehrt.
Jemandem, der ein großes Gewese um einen Fehltritt in seiner Vergangenheit macht, der sich indes als nichtig oder eingebildet erweist, würden wir nicht das Gefühl echter Reue und aufrichtigen Bedauerns zusprechen; hier handelte es sich vielmehr um eine krankhafte Form von Hypokrisie. Die Sprachabhängigkeit jener Emotionen, die wir im Gegensatz zu den animalischen höherstufig nennen können, wird in diesem Fall in der Tatsache faßbar, daß ihr Inhalt eine propositionale Struktur hat, die der für deskriptive Aussagen maßgeblichen Wahrheitsbedingung unterliegt. Denn nur wenn sich die Reue auf ein tatsächliches Ereignis in der Biographie bezieht, sprechen wir ihr die Eigenschaft zu, echt und aufrichtig zu sein, ansonsten wäre sie geheuchelt und beispielsweise der Ausdruck einer neurotischen Störung.
Scham und Verlegenheit sind ein Ausdruck dafür, einem anderen etwas schuldig geblieben zu sein, ihm die gebührende Achtung versagt oder ein ihm gegebenes Versprechen nicht eingelöst zu haben. Doch jemandem, der bei jeder Gelegenheit rot wird und ständig aus unerfindlichen Gründen verlegen unter sich blickt, würden wir kein echtes Schamgefühl zusprechen, sondern eine neurotische Persönlichkeitsdeformation unterstellen.
Im Falle eines Menschen, der sich von feindlichen Mächten beobachtet und bedroht glaubt und sie sich vom Leibe zu halten rituelle Abwehrzauber und magische Praktiken einsetzt, würden wir nicht vom echten Gefühl religiöser Scheu, sondern von Aberglauben und im schlimmsten Falle von einer religiös verbrämten Form einer paranoiden Psychose sprechen.
Es ist bezeichnend für den Unterschied zwischen Mensch und Tier, daß Tiere keine Emotionen vortäuschen und beispielsweise Furcht, Kummer oder Trauer heucheln können. Der Heiratsschwindler dagegen kann dem hinters Licht geführten Opfer Liebe vorgaukeln, der Neurotiker kann Schuldgefühle für Fehltritte empfinden, die er nicht begangen hat.
Im Gegensatz zu den Tieren spielen Menschen Theater und stülpen sich auf der Bühne Masken eines fremden Gefühls über; denn der Schauspieler kann Gefühlen Ausdruck verleihen, die er nicht hat, und das in einem Maße (dem Maß seiner Kunstfertigkeit), daß die Zuschauer davon mitgerissen werden und der Täuschung so lange sich gerne hingeben, bis der Vorhang fällt.
Wenn wir höflich sind und unser Gegenüber nicht vor den Kopf stoßen wollen, lächeln wir und spielen souverän oder in geübter Routine und Selbstdisziplin den Heiteren und Aufgeräumten, auch wenn wir insgeheim von dunklen Wolken der Schwermut und Trübsal überschattet werden. Hier sprechen wir nicht von Heuchelei, sondern von bewährten Formen des Anstands und höherer Sittlichkeit, falls uns daran gelegen ist, das zarte Gemüt des anderen zu schonen.
Aber ist das wahre Leben nicht auch eine Form des Theaters, bei dem uns das Schicksal Masken des Gefühls überstülpt, die wir so lange tragen oder in einem fatalen Szenenwechsel immer wieder wechseln müssen, bis der Vorhang fällt?
Sich mittels stoischer Abhärtung allen Gefühlsanwandlungen zu entziehen, scheint uns ein allzu heroisches und lebensfeindliches Ideal. Doch das übermäßige Wuchern einzelner Emotionen wie der Furcht oder Eifersucht können wir in glücklichen Fällen mit dem scharfen Messer der Selbstanalyse und Selbstvergewisserung beschneiden oder mit dem paracelsischen Antidot der Stimulierung des Gegengefühls, die Furcht im Hortus conclusus heiterer Geselligkeit, die Eifersucht im Spiegel vertrauter und erhebender Freundschaft neutralisieren.
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