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Über begriffliche Unterschiede

11.04.2021

Bemerkungen zur Sprachphilosophie
Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Auf einem Bein kann man nicht stehen.

Ein Punkt oder Fleck auf der weißen Seite ergibt noch kein Zeichen, während wir zwei beliebig positionierte Punkte bereits in mehrfachem Sinne lesen können: als zwei Endpunkte einer imaginären Strecke, als zwei Punkte auf der durch sie führenden unendlichen Linie, die in einer Euklidischen Ebene zugleich durch die beiden Punkte definiert wird; als zwei durch die Leere auf immer voneinander getrennte Orte oder Seelen oder als Andeutung eines Augenpaares.

Das Zählen beginnt mit der Zwei, daher sollte man sie nicht als die Summe zweier Einheiten auffassen.

„Links“, „rechts“, „oben“, „unten“, „vorne“, „hinten“ können nicht als Solitäre existieren.

„Ja“ kann man verneinen; nicht so „links“ oder „rechts“, nicht links kann ja nicht nur rechts, sondern oben oder unten meinen.

So unterscheiden wir komplementäre Begriffe wie rechts und links, oben und unten, Mann und Frau und konträre Begriffe wie rot und grün oder schwarz und weiß von gegensätzlichen oder kontradiktorischen wie ja und nein, Licht und Finsternis, sehen und blind sein.

Im Unterschied zu einem einsamen Punkt oder Fleck auf dem weißen Blatt impliziert ein einzelner horizontaler Strich unterschiedliche Bedeutungen: Er kann eine Grenze zwischen hier und dort, diesseits und jenseits, unten und oben oder die Horizontlinie zwischen Erde und Himmel oder Meer und Himmel suggerieren.

Entscheidend ist, daß wir es sind und niemand sonst, der sagen kann: „ja“ und „nein“, „links“ und „rechts“, „rot“ und „grün“, „Mann“ und „Frau“.

Wer sind wir? Du oder ich? Nein, du und ich; mindestens zwei.

Kein Zeichen ohne den Unterschied zu (mindestens einem) anderen Zeichen. Um den Übergang zu regeln, brauchen wir das rote Licht, das Halt gebietet, und das grüne, das den Weg freimacht.

Daß wir die Kontrastfarben Rot und Grün einsetzen, um Gefahr und Sicherheit zu signalisieren, geht auf natürliche Assoziationen oder Ähnlichkeitsrelationen zurück; doch werden wir dieses naturalen Hintergrundes der Zeichen im täglichen Verkehr kaum noch gewahr. Insofern er verblaßt ist oder nur noch als Rudiment mitschwingt, können wir von den Farbwerten als konventionellen Zeichen sprechen.

Stiege uns nur der liebliche Duft der Rose in die Nase und ermangelten wir der Witterung für das Faule, Verdorbene, wir könnten auch den Rosenduft nicht als lieblich wahrnehmen. Verfügten wir nur über eine Geschmacksnote, nur süß, nicht aber sauer, bitter oder fade, könnten wir kein schmackhaftes Gericht zubereiten. Könnten wir den Gefühlsunterschied von rauh und weich nicht ertasten, könnten wir weder, was rauh, noch was weich ist, erfassen. Mit nur einem Farbwert können wir kein Landschaftsbild malen. Mit Grau ließe sich wohl malen, doch nur mit einer differenzierten Skala von Grautönen. Hätten wir keinen Sinn für den Unterschied zwischen laut und leise, allegro und andante, könnten wir weder, was laut klingt, hören noch was leise, weder wie schnell die Töne aufeinanderfolgen noch ob sie gemächlich dahingleiten.

Wir bedürfen zur Positionierung, Identifikation und Benennung von olfaktorischen, gustatorischen, taktilen, auditiven und visuellen Wahrnehmungsmerkmalen spezifischer Skalen und Muster, auf denen wir sie mehr oder weniger kontinuierlich abtragen oder einschreiben. Diese Skalen und Muster verkörpern wie die Skala der Geruchs-, Geschmacks-, Tast-, Farb- und Klangwerte die Möglichkeiten unseres differenzierten und nuancierten Riechens, Schmeckens, Tastens, Sehens und Hörens, die unsere natürlich bedingte und kulturell stilisierte Lebensform ausmachen.

Die Pflanze reckt ihre Blüte ins Licht, ihr Wachstum hat, was man Tropismus nennt, einen natürlichen Richtungssinn. Könnte sie auf unsere Frage, warum sie sich so verhalte, antworten, würde sie sagen: „Ich wachse lieber nach oben, denn meine Bestimmung ist es, mit der Energie des Lichtes Blüten zu treiben und Bestäuber anzulocken, mit deren Hilfe aus mir Einzelwesen eine Vielzahl von Nachkommen entstehen.“ Ist, was wir dem Verhalten und dem imaginären Selbstzeugnis der Pflanze entnehmen können, eine Form subjektiven Daseins? Nun, in gewisser, mehr als nur metaphorischer Weise.

Wir könnten nicht von uns sprechen, wäre es uns versagt, von anderen zu reden; wir könnten nicht von anderen reden, wäre es uns versagt, von uns selbst und im eigenen Namen zu sprechen.

Das grammatische Muster, das uns Struktur und Gliederung der Personalpronomina vor Augen führt, ist das sprachliche Analogon der natürlichen und kulturell überformten Skalen, die wir bei der sinnlichen Organisation unserer sensorischen Empfindungen vorfinden, formen und verfeinern.

Die Struktur und Gliederung der Personalpronomina verkörpern die uns gegebenen Möglichkeiten personaler Ansprache; sie sind die Inkarnation unserer sprachlich stilisierten Lebensform als Personen.

Wir machen einen wesentlichen begrifflichen Unterschied, wenn wir sagen, daß wir traurig sind, und wenn wir sagen, daß unser Gesprächspartner mißmutig dreinblickt; desgleichen unser Gesprächspartner, wenn er sagt, daß ihn unsere Bemerkung erstaunt, und wenn er anmerkt, daß wir über seine Bemerkung verdutzt sind.

Die Tatsache, daß wir unterschiedliche Gefühlswerte anhand unserer bewährten Skalen und Muster sensorischer Wahrnehmung benennen, weist uns auf den Ursprung des metaphorischen Sprachgebrauchs; so sprechen wir vom bitteren Nachgeschmack einer unglücklichen Liebesbegegnung, von den schweren Bürde, die uns die Entfremdung der eigenen Kinder auferlegt, oder der großen Erleichterung, die uns durch ein versöhnliches Wort widerfuhr.

Die Engländer siezen sich, auch wenn alle Welt meint, daß sie sich duzen; wir lassen uns aber dadurch täuschen, daß der Sinn höflicher Ansprache, der im englischen „you“ enthalten ist, allmählich und in dem Grade verblaßte, wie das eigentliche englische Du, das Wort „thou“, das wie unser Du nachbarliche und intime Nähe zum Ausdruck bringt, seit den Zeiten Shakespeares nach und nach außer Gebrauch gekommen ist.

Soziale Distanzen und Rangunterschiede lassen sich mit den situativ angewandten Pronomina „Sie“ und „du“ (und dermaleinst auch durch das Pronomen „er“, mit dem der Herr den Knecht ansprach) markieren. Deshalb ist der Gebrauch des höflichen Sie bei stillosen Barbaren und egalitären Hassern von Rangunterschieden verpönt.

Wir können ein grafisches Zeichen, beispielsweise das Verkehrsschild, das vor Erdrutsch warnt, in Pixel zerlegen und diese wiederum in den digitalen Code umformen; doch können wir eine solche in ihrer Anmutung verwirrend mannigfaltige tabellarische Anordnung von Nullen und Einsen nicht als grafisches Zeichen und intuitiv, das heißt auf den ersten Blick, als Warnhinweis lesen und verstehen, ohne die Code-Zahlen wiederum mittels geregelter Transformation in Pixel und ein sinnhaltiges Bild verwandelt zu haben.

Daher handelt es sich bei der Annahme, die in den binären Computercode als Reihen von Nullen und Einsen transformierten sprachlichen Zeichen seien ihrerseits echte Sprachzeichen, um einen Fehlschluß: Sie sind keine echten, sondern nur virtuelle sprachliche Zeichen, die der Umformung bedürfen, um von uns gelesen zu werden.

Wenn wir etwas wahrnehmen oder lesen, etwas zeichnen oder aufzeichnen, dann registrieren oder setzen, rezipieren oder positionieren wir begriffliche Unterschiede, Unterschiede hinsichtlich der korrekt an die Phänomene gehaltenen Skalen von sensorischen Merkmalen wie Farbwerten, lautlichen und grafischen Charakteristika.

Die Tiefe und Weisheit der christliche Theologie zeigt sich, könnte man sagen, darin, daß in ihr die Einheit zugleich als Dreiheit, die Monas zugleich als Trinität gedacht wird; daher ist der Gott der Christen nicht vergleichbar mit dem Gott der anderen monotheistischen Religionen. Vom „hen kai pan“ Heraklits, Plotins und Hölderlins erfassen wir jeweils einen Aspekt, den wir getrost und ohne ungebührlichen Distanzverlust, aber auch ohne das Dunkel völlig transparent zu machen, mit den Metaphern von Vater, Sohn und Geist benennen können.

Ein Marmorstumpf macht noch keine Säule, wir benötigen eine Basis und ein Kapitell; aber eine Säule macht auch noch keinen Portikus, wir benötigen eine ganze Reihe.

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, ein einzelnes Wort noch keine Aussage.

Für eine sinnvolle Aussage benötigen wir mindestens zwei Wörter oder bedeutsame Lautgebilde, die syntaktisch wohlgeordnet sind, wie „Peter arbeitet“, um das Bestehen des Sachverhaltes zu bestätigen, daß Peter arbeitet, oder „Arbeitet Peter?“, um nach dem Bestehen oder Nichtbestehen des Sachverhaltes zu fragen, ob Peter arbeitet.

Bei der Aussage: „Während Anna schläft, arbeitet Peter“ handelt es sich um die Verbindung zweier semantisch gehaltvoller Sätze: „Anna schläft“ und „Peter arbeitet“ (die Inversion im Hauptsatz ist eine Besonderheit der deutschen Grammatik). Wir können die Einzelsätze und den Gesamtsatz als deskriptiv auffassen und davon ausgehen, daß sie das Bestehen zweier gleichzeitiger Sachverhalte beschreiben.

Dagegen stellen wir mit der Aussage „(Immer dann,) wenn Anna schläft, (ist es der Fall, daß) Peter arbeitet; Anna schläft, also arbeitet Peter“ nicht das Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhaltes fest, sondern die logische Verknüpfung zweier semantisch gehaltvoller und syntaktisch wohlgeordneter Aussagen (nämlich: „Anna schläft“ und „Peter arbeitet“) und die sich daraus ableitende logisch zwingende Folgerung. Denn wir können aus dieser Aussage mittels Negation die Aussage folgern: „(Immer dann,) wenn Anna nicht schläft, arbeitet Peter nicht; Anna schläft nicht; daher gilt: Peter arbeitet nicht“, ungeachtet der Tatsache, ob nun eine Person namens Anna schläft oder nicht schläft, eine Person namens Peter arbeitet oder nicht arbeitet, ja ungeachtet dessen, ob die Personen namens Anna und Peter existieren oder nicht existieren.

Worin besteht der Unterschied der Sätze „Während Anna schläft, arbeitet Peter“ oder „Anna schläft und Peter arbeitet“ und „(Immer dann,) wenn Anna schläft, (ist es der Fall, daß) Peter arbeitet; Anna schläft, also arbeitet Peter“? Das erste Satzpaar ist syntaktisch mittels der Konjunktion „während“ beziehungsweise der (nichtlogischen) Konjunktion „und“ verbunden, das zweite Satzpaar mittels des logischen Junktors „wenn – dann“. Hierbei handelt es sich um einen begrifflichen Unterschied, den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- oder Beobachtungsaussage und Gedanke.

Den begrifflichen Unterschied der Satztypen des deskriptiven und des logischen Satzes ersehen wir aus der unterschiedlichen Rolle der Negation: Wir können aufgrund von Beobachtung ja die Gültigkeit des Gesamtsatzes feststellen: „Anna schläft nicht und Peter arbeitet“; während wir durch analoges Einsetzen der Negation im zweiten Gesamtsatz einen gedanklichen Widerspruch zur Ausgangsannahme erhalten. Denn wenn gilt: „Immer wenn Anna nicht schläft, arbeitet Peter“, dann kann nicht gelten „Peter arbeitet“, wenn wir als Prämisse den Satz akzeptiert haben: „Immer wenn Anna schläft, arbeitet Peter.“

Daraus ersehen wir ebenfalls, daß logische Sätze oder Gedanken weder Wahrnehmungs- oder Beobachtungssätze sind noch aus Wahrnehmungs- oder Beobachtungssätzen abstrahiert werden können. Der logische Satz oder der Gedanke „Immer wenn Anna schläft, arbeitet Peter; Anna schläft, also arbeitet Peter“ ist auch keine Hypothese über mögliche Wahrnehmungen und Beobachtungen, denn er gilt im logischen Raum der Gedanken, selbst wenn uns die Beobachtung über das Bestehen des Sachverhaltes in Kenntnis setzen sollte, daß eine Person namens Anna nicht schläft und (zur gleichen Zeit) eine Person namens Peter arbeitet.

Sensorische Distinktionen sind keine gedanklichen. Dagegen repräsentieren die Skalen und Muster, in die wir sie eintragen und einschreiben, wie die Geschmacks- und Tonskala oder das Farbmuster Unterschiede des Begriffs, eben des Begriffs von Geschmack, Ton und Farbe.

Wir können nur mit „Rot“ antworten, wenn wir gefragt werden, welche Farbe diese Rose hat. „Farbe“ aber ist der Begriff, mit dem wir das relevante Muster herausgreifen und von den Skalen der Tast-, Geschmacks- und Tonwerte unterscheiden.

Wenn wir eine Tanne mit einer Fichte verwechseln, hat uns nicht die Wahrnehmung aufs Glatteis geführt, sondern unsere Unfähigkeit, die beiden Bäume im Rahmen des Linnéschen Klassifikationssystems begrifflich voneinander zu unterscheiden.

Wenn wir wohl die Modulation des musikalischen Themas in der Klaviersonate hören, aber als Grund für den Wahrnehmungsunterschied nicht sein erstes Vorkommen in C-Dur und seine darauffolgende Modulation in a-Moll anzugeben wissen, hat uns nicht die Feinheit unseres Gehörsinnes im Stich gelassen, sondern unser Mangel an musikalischen Begriffen.

Sollte jemand, dessen Freund ihm das Bürogebäude zeigt, in dem er arbeitet, ihm mit der Frage kommen: „Nun hast du mir dein Büro gezeigt, zeigst du mir auch das Gebäude des Unternehmens, für das du arbeitest?“, würden wir bei ihm keinen Wahrnehmungsdefekt diagnostizieren können, wohl aber einen gehörigen Mangel an begrifflichem Vermögen, den Art-, Mengen- oder Klassenbegriff von den Objekten zu unterscheiden, die ihn exemplifizieren.

Der Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person macht gegenüber dem Gebrauch der Pronomina der anderen Personen einen begrifflichen Unterschied; denn die Selbstauskunft „Ich bin traurig“ hat einen anderen grammatisch-logischen Status als die Aussage „Er ist traurig“. Die erste ist, die Redlichkeit des Sprechers vorausgesetzt, vor Irrtümern gefeit und muß sich keine ungehörigen Nachfragen gefallen lassen, während die Aussage in der dritten Person auf einem Mißverständnis oder einer Fehldeutung beruhen kann, das durch Nachfragen aus dem Weg geräumt werden kann.

Auch die Verwendung der Tempora verbi konfrontiert uns mit begrifflichen Unterschieden; denn die Äußerung: „Ich verspreche dir, das geliehene Buch morgen wieder auszuhändigen“ hat einen anderen grammatisch-logischen Status als die Aussage: „Ich hatte ihm versprochen, das Buch am nächsten Tag wieder auszuhändigen.“ Die erste Aussage ist, die Redlichkeit des Sprechers vorausgesetzt, ein faktisches Versprechen, während es sich bei der zweiten um das Eingeständnis handeln kann, die Zusage nicht eingehalten zu haben.

 

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